In Amerika erschien Lois Lowrys Jugendbuch The Giver bereits 1993.
Hochgelobt wurde es mit dem wichtigsten Jugendbuchpreis, der Newbery Medal, ausgezeichnet.
In Deutschland kam es 1994 unter dem Titel Der Hüter der Erinnerung
auf den Markt. Die Taschenbuchausgabe folgte 1998, so dass das Buch im
Deutschunterricht und in der deutsch-sprachigen fachdidaktischen
Auseinandersetzung (meines Wissens) noch keine Berücksichtigung
gefunden hat.
Das Buch ist dem literarischen Genre der Utopie zuzuordnen. Lowry
schildert eingehend Seiten der Gesellschaft, die Biesterfeld als typische
Elemente einer Utopie beschreibt: geographische Lage, natürliche
Voraussetzungen, Kontakte zur Außenwelt, politische Organisa-tion,
Familie und Moral, Arbeit, Erziehung, Wissenschaften, Alltag und
Kommunikation sowie die Sprache.
Lowry entwirft das Bild einer zunächst perfekt erscheinenden
Gesellschaft, einer Gemeinschaft, in der die Menschen weder Hunger, noch
Krieg, Angst, Schmerz, Arbeitslosigkeit, Tod und Rassismus kennen,
sie kennen überhaupt keine Probleme. Für dieses risikofreie und
problemlose Leben müssen die Menschen jedoch einen hohen Preis
bezahlen.
Die "Gemeinschaft" wird von einem Komitee geleitet und überwacht, das
sich um den perfekten Ablauf des Lebens eines jeden Einzelnen von seiner
Geburt an kümmert. Alles ist auf das Genaueste geplant:
Gebärerinnen bringen 50 Kinder pro Jahr zur Welt. Diese entwickeln
sich zunächst in Säuglingsstationen, bis sie nach einem Jahr
ihren Familien zugewiesen werden. Das Leben der Kinder verläuft
planmäßig in festgelegten Jahresrhythmen, in denen sie die
für jede Altersklasse bestimmten öffentlichen Einrichtungen
besuchen. Auch der Alltag der Menschen ist von Beginn an streng
strukturiert: es gibt allmorgendliche "Traumaussprachen", "Spielstunden",
abendliche "Gefühlsaussprachen, vorgeschriebene Kleidung für
jede Altersklasse und zugeteilte Essensrationen. Die Regelungen
durchdringen auch das Privatleben, denn die Familien werden vom Komitee
zusammengestellt, indem zwei Ehepartner einander zugewiesen werden. Nach
Bewährung der Ehe erhalten sie zwei Kinder – einen Jungen und
ein Mädchen.
Die Berufsauswahl wird ebenso vom Komitee getroffen. Die Kinder werden in
ihrer Ent-wicklung beobachtet und man weist ihnen je nach Begabung und
Interessen in ihrem zwölften Lebensjahr bestimmte Berufe zu.
Alte Menschen verbringen einen zeitlich determinierten Lebensabend in
dafür vorgesehenen Einrichtungen, die genau auf ihre Bedürfnisse
zugeschnitten sind.
Jonas ist zwölf Jahre alt und mit seinem Leben zufrieden, bis ihm
sein Beruf als Hüter der Erinnerung zugewiesen wird. Was zunächst
als große Ehre erscheint, entpuppt sich als eine unerträglichen
Last. In seiner Ausbildung erfährt Jonas, wie die Menschen vor dem
Bestehen der Gemeinschaft gelebt haben. Von seinem Ausbilder, dem Geber,
werden ihm alle ent-sprechenden Erinnerungen übertragen: Gefühle,
Bilder und Worte. Mit Schrecken erkennt er, auf was die Menschen verzichten
mussten, um risikofrei zu Leben: auf Farben, Gefühle,
Ent-scheidungsfreiheit und auf Individualität. Er begreift, wie
sinnlos das Leben in der "Gemein-schaft" ist und wie blind und willenlos
alle den Regeln des Komitees folgen aller Individualität und
Empfindungen beraubt wie Maschinen. Niemand in der Gemeinschaft
außer dem Geber teilt sein Wissen, so dass auch das lenkende Komitee
in völliger Blindheit die einst aufgestellten Regeln befolgt, ohne
sich bewusst zu sein, was sie den Menschen vorenthalten und
aufbürden.
Jonas erkennt, dass die "Freigabe", durch welche Bürger aus dem Leben
in der "Gemeinschaft" ausscheiden, nichts anderes bedeutet als Mord. Als
sein eigener Stiefbruder "freigegeben" werden soll, beschließt er mit
ihm aus der Gemeinschaft zu flüchten. Er weiß, dass bei seiner
Flucht die ihm übertragenen Erinnerungen zur Gemeinschaft
zurückkehren und dass er die Menschen dadurch mit Gefühlen
konfrontiert, mit denen sie niemals gelernt haben umzugehen.
Am Ende bleibt offen, ob sein verantwortungsvolles Handeln von Erfolg
gekrönt wird. Auch das Schicksal der Gemeinschaft bleibt ungewiss,
denn nach der Flucht des Hüters der Erinne-rungen müssen die
Menschen sich mit all den freigewordenen Erinnerungen auseinandersetzen und
sie ertragen.
Die Unterrichtseinheit über den Hüter der Erinnerung hat die
Schüler wie auch mich begeistert. Die Schüler können sich
gut mit Jonas identifizieren, da er sich im selben Alter befindet wie die
Schüler der siebten Klasse.
Über die Beschreibung dieser Negativutopie werden die Kinder
angeregt, sich mit der eigenen Gesellschaft auseinander zu setzen und Vor-
wie auch Nachteile zu reflektieren.
Sie erkennen den Wert der Entscheidungsfreiheit und der
Individualität. Ich denke, dass diese Auseinandersetzung den
Schülern im Alter der Vorpubertät bzw. Pubertät gezeigt hat,
wie wertvoll jeder Mensch mit all seinen Ängsten, Problemen und
schweren Entscheidungen als Individuum ist. Sie erkennen, dass trotz aller Schwierigkeiten, die unser Leben mit sich bringt, alles seinen Wert und seinen Sinn hat.