Lois Lowry: Hüter der Erinnerung (1993)

dtv junior extra 1998, 208 Seiten, ab 12 Jahre

In Amerika erschien Lois Lowrys Jugendbuch The Giver bereits 1993. Hochgelobt wurde es mit dem wichtigsten Jugendbuchpreis, der Newbery Medal, ausgezeichnet.
In Deutschland kam es 1994 unter dem Titel Der Hüter der Erinnerung auf den Markt. Die Taschenbuchausgabe folgte 1998, so dass das Buch im Deutschunterricht und in der deutsch-sprachigen fachdidaktischen Auseinandersetzung (meines Wissens) noch keine Berücksichtigung gefunden hat.
Das Buch ist dem literarischen Genre der Utopie zuzuordnen. Lowry schildert eingehend Seiten der Gesellschaft, die Biesterfeld als typische Elemente einer Utopie beschreibt: geographische Lage, natürliche Voraussetzungen, Kontakte zur Außenwelt, politische Organisa-tion, Familie und Moral, Arbeit, Erziehung, Wissenschaften, Alltag und Kommunikation sowie die Sprache.
Lowry entwirft das Bild einer zunächst perfekt erscheinenden Gesellschaft, einer Gemeinschaft, in der die Menschen weder Hunger, noch Krieg, Angst, Schmerz, Arbeitslosigkeit, Tod und Rassismus kennen, sie kennen überhaupt keine Probleme. Für dieses risikofreie und problemlose Leben müssen die Menschen jedoch einen hohen Preis bezahlen.
Die "Gemeinschaft" wird von einem Komitee geleitet und überwacht, das sich um den perfekten Ablauf des Lebens eines jeden Einzelnen von seiner Geburt an kümmert. Alles ist auf das Genaueste geplant: Gebärerinnen bringen 50 Kinder pro Jahr zur Welt. Diese entwickeln sich zunächst in Säuglingsstationen, bis sie nach einem Jahr ihren Familien zugewiesen werden. Das Leben der Kinder verläuft planmäßig in festgelegten Jahresrhythmen, in denen sie die für jede Altersklasse bestimmten öffentlichen Einrichtungen besuchen. Auch der Alltag der Menschen ist von Beginn an streng strukturiert: es gibt allmorgendliche "Traumaussprachen", "Spielstunden", abendliche "Gefühlsaussprachen“, vorgeschriebene Kleidung für jede Altersklasse und zugeteilte Essensrationen. Die Regelungen durchdringen auch das Privatleben, denn die Familien werden vom Komitee zusammengestellt, indem zwei Ehepartner einander zugewiesen werden. Nach Bewährung der Ehe erhalten sie zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädchen.
Die Berufsauswahl wird ebenso vom Komitee getroffen. Die Kinder werden in ihrer Ent-wicklung beobachtet und man weist ihnen je nach Begabung und Interessen in ihrem zwölften Lebensjahr bestimmte Berufe zu.
Alte Menschen verbringen einen zeitlich determinierten Lebensabend in dafür vorgesehenen Einrichtungen, die genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Jonas ist zwölf Jahre alt und mit seinem Leben zufrieden, bis ihm sein Beruf als Hüter der Erinnerung zugewiesen wird. Was zunächst als große Ehre erscheint, entpuppt sich als eine unerträglichen Last. In seiner Ausbildung erfährt Jonas, wie die Menschen vor dem Bestehen der Gemeinschaft gelebt haben. Von seinem Ausbilder, dem Geber, werden ihm alle ent-sprechenden Erinnerungen übertragen: Gefühle, Bilder und Worte. Mit Schrecken erkennt er, auf was die Menschen verzichten mussten, um risikofrei zu Leben: auf Farben, Gefühle, Ent-scheidungsfreiheit und auf Individualität. Er begreift, wie sinnlos das Leben in der "Gemein-schaft" ist und wie blind und willenlos alle den Regeln des Komitees folgen aller Individualität und Empfindungen beraubt wie Maschinen. Niemand in der Gemeinschaft außer dem Geber teilt sein Wissen, so dass auch das lenkende Komitee in völliger Blindheit die einst aufgestellten Regeln befolgt, ohne sich bewusst zu sein, was sie den Menschen vorenthalten und aufbürden.
Jonas erkennt, dass die "Freigabe", durch welche Bürger aus dem Leben in der "Gemeinschaft" ausscheiden, nichts anderes bedeutet als Mord. Als sein eigener Stiefbruder "freigegeben" werden soll, beschließt er mit ihm aus der Gemeinschaft zu flüchten. Er weiß, dass bei seiner Flucht die ihm übertragenen Erinnerungen zur Gemeinschaft zurückkehren und dass er die Menschen dadurch mit Gefühlen konfrontiert, mit denen sie niemals gelernt haben umzugehen.
Am Ende bleibt offen, ob sein verantwortungsvolles Handeln von Erfolg gekrönt wird. Auch das Schicksal der Gemeinschaft bleibt ungewiss, denn nach der Flucht des Hüters der Erinne-rungen müssen die Menschen sich mit all den freigewordenen Erinnerungen auseinandersetzen und sie ertragen.

Die Unterrichtseinheit über den Hüter der Erinnerung hat die Schüler wie auch mich begeistert. Die Schüler können sich gut mit Jonas identifizieren, da er sich im selben Alter befindet wie die Schüler der siebten Klasse.
Über die Beschreibung dieser Negativutopie werden die Kinder angeregt, sich mit der eigenen Gesellschaft auseinander zu setzen und Vor- wie auch Nachteile zu reflektieren. Sie erkennen den Wert der Entscheidungsfreiheit und der Individualität. Ich denke, dass diese Auseinandersetzung den Schülern im Alter der Vorpubertät bzw. Pubertät gezeigt hat, wie wertvoll jeder Mensch mit all seinen Ängsten, Problemen und schweren Entscheidungen als Individuum ist. Sie erkennen, dass trotz aller Schwierigkeiten, die unser Leben mit sich bringt, alles seinen Wert und seinen Sinn hat.

Nicole Wolf


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