Dialoganalyse zu EMILIA GALOTTI
II. Aufzug, 4. und 5. Auftritt

  • Fassen Sie die vorausgehenden Ereignisse zusammen, soweit sie für das Verständnis der zu analysierenden Szenen II,4 und II,5 bedeutsam sind.
  • Arbeiten Sie die Standpunkte von Claudia und Odoardo Galotti heraus und begründen Sie, welche der beiden Haltungen der Realität angemessener ist.
  • Erörtern Sie, ob Odoardo Galotti nur durch die Ermordung seiner Tochter Emilias Ehre schützen konnte.

Im Verlaufe der mehr als 200 Jahre seit der Uraufführung von Lessings "Emilia Galotti" haben sich die Vorstellungen von Moral und Ehre anscheinend stärker gewandelt als in den über 2200 Jahren, die das 18. Jahrhundert von der Zeit des römischen Virginius trennen. Jungfräulichkeit einer Braut ist heute eher die Ausnahme als die Regel, voreheliche Beziehungen werden nicht nur geduldet, sondern vielfach gutgeheißen, und den Opfern von sexueller Gewalt und Nötigung wird beigestanden, statt sie zu ächten. Deshalb erscheint uns Heutigen das Denken, Empfinden und Verhalten von Figuren wie Odoardo und Emilia Galotti fremd, beinahe als barbarisch.

Zu Lessings Zeit allerdings, als sich das Bürgertum von der Bevormundung durch den Adel zu befreien begann, war auch die strenge bürgerliche Moral ein wichtiges Mittel der Abgrenzung und der Betonung des eigenen, dem Adel überlegenen Wertes. Fürsten, die ganz ihrer Wollust lebten und dabei die Regierungsgeschäfte vernachlässigten, die nicht nur adlige Mätressen hatten, sondern auch den Frauen und Töchtern der Bürger nachstellten, gab es damals an vielen deutschen Höfen. So wussten Theaterbesucher und Leser, dass Lessing die deutschen Verhältnisse anprangert, auch wenn die Personen auf der Bühne italienische Namen tragen. Weshalb aber will so viele Jahrhunderte später auch Lessings Emilia nach dem Vorbild der römischen Virginia sterben? War ihre Ehre nur so zu schützen?

Prinz Hettore Gonzaga begehrt leidenschaftlich Emilia, die Tochter des Bürgers Odoardo Galotti und seiner Frau Claudia. Von seinem Kammerherrn Marinelli erfährt der Prinz, dass Emilia noch am selben Tag den Grafn Appiani heiraten soll (S.11). Der wolle mit Emilia das Fürstentum verlassen (vgl. S.12f), so dass der Prinz auch keine Möglichkeit haben werde, die verheiratete Emilia zu seiner Mätresse zu machen.

Um seinem Herrn Emilia zu verschaffen, lässt Marinelli sich "alles [genehmigen], was diesen Streich [gemeint sind Heirat und Abreise des jungen Paares] abwenden kann." (S.13). Marinelli will Appiani als Gesandten des Prinzen nach Massa schicken, um ihn so zu nötigen, die Hochzeit aufzuschieben. Für den Fall, dass dieser Plan misslingen sollte, deutet Marinelli eine weitere Möglichkeit an (vgl. S.13), weiht den Prinzen aber nicht in sein Vorhaben ein. Er will notfalls Appiani töten lassen, um Emilia entführen zu können. Der Prinz soll sich sogleich auf sein Lustschloss Dosalo begeben, das am Weg nach Sabionetta, dem Landgut der Galotti, liegt.

Überraschend kommt Odoardo Galotti am gleichen Morgen in die Residenz. Er ist besorgt, dass Emilia alleine die Messe besucht. Während Odoardo und seine Frau Claudia sich in einem anderen Zimmer unterhalten, wird de Bediente Pirro von Angelo, dem Spießgesellen eines früheren Verbrechens aufgesucht, der ihm seinen Anteil an der Beute bringt und ihn zur Teilnahme an einem neuen Überfall erpresst: Die Kutsche mit dem Grafen Appiani, Emilia und ihrer Mutter soll auf dem Weg nach Sabionetta überfallen werden. Auf den Einwand Pirros, dass der Brautschmuck die Mühe des Überfalls nicht lohne, entgegnet Angelo: "So lohnt ihrer die Braut selbst!" (S.18) Daraus kann man schließen, dass er in Marinellis Auftrag Emilia nach Dosalo zum Prinzen entführen soll.

Wenn sich anschließend die Eltern in II,4. über die bevorstehende Hochzeit und das damit endende Leben von Mutter und Tochter in der Residenz unterhalten, sind beide völlig ahnungslos, welche Gefahren Emilia und ihrem Bräutigam seitens des Prinzen und seines Handlangers Marinelli drohen. Odoardo "entzückt" an seinem künftigen Schwiegersohn "vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben" (S.19), denn er verachtet das Leben der Höflinge (vgl. S.20 oben). Die Mutter dagegen bedauert, dass sie dadurch "diese einzige geliebte Tochter" (S.19) verlieren werde.

Die Klage der Mutter über den geplanten Rückzug des jungen Ehepaares auf das Land weckt Odoardos altes Misstrauen gegen die Notwendigkeit des Lebens von Mutter und Tochter in der Stadt. Nicht "eine anständige Erziehung" sondern "die Nähe des Hofes" sei das wahre Motiv gewesen. Claudia widerspricht ihrem Mann nur schwach, glaubt sie doch, ein alle Bedenken entkräftendes Argument ins Feld zu führen, wenn sie sagt: "Hier nur konnte der Graf Emilien finden und er fand sie." (S.19) Indem ihr Odoardo entgegnet: "Laß uns nicht weise sein wollen, wo wir nichts als glücklich gewesen!" beharrt er auf seinen Bedenken gegen das Leben in der Residenz und auf seiner Zustimmung zum beabsichtigen Rückzug des Paares "wohin Unschuld und Ruhe sie rufen" (S.19f).

Als Odoardo zur Verteidigung des gräflichen Vorhabens darauf verweist, dass Appiani mit einem Galotti als Schwiegervater "es vollends mit dem Prinzen verdirbt" (S.20), berichtet ihm Claudia voller Stolz, dass Emilia auf den Prinzen einen überaus positiven Eindruck gemacht und dieser sich lange mit ihr unterhalten habe. Statt damit jedoch die Befürchtungen ihres Mannes zu zerstreuen, nennt er seine Frau "eitle, törichte Mutter!" (S.20) Für ihn steht fest: "Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt." (S.20) Der Gedanke, dass seine Tochter hätte verführt werden können, erregt ihn so, dass er das Haus überstürzt verlässt, denn er möchte seiner Frau am Hochzeitstag "nicht gern etwas Unangenehmes sagen" (S.20). Seine Wünsche zum Abschied: "Gott befohlen, Claudia! - Kommt glücklich nach!" werden nicht in Erfüllung gehen.

Claudia mag auch nach dem Abgang des Gatten seine Verdächtigungen, sein Misstrauen nicht teilen. Sie lehnt gefühlsmäßig eine Menschenkenntnis ab, die immer das Schlimmste befürchtet. Aber sie erwartet nun doch unruhig Emilias Rückkehr und erwägt Odoardos Befürchtung, wenn sie sich fragt: "[...] folglich, wenn er [der Prinz] ein Auge für die Tochter hat, so ist es einzig, um ihn [O.G.] zu beschimpfen?-" (S.21)

Schon die folgende Szene, in der Emilia ihrer Mutter berichtet, dass der Prinz ihr in der Kirche ein Liebesgeständnis gemacht, sie auf der Flucht in der Halle festgehalten, dort weiter auf sie eingeredet und sie bis nach Hause verfolgt habe, muss die Mutter erkennen, dass die Sorge ihres Mannes nur zu berechtigt war. Der Prinz begehrt zwar Emilia nicht, weil er den alten Galotti hasst, aber mit dem Leben in der Stadt und der Teilnahme an der Abendgesellschaft im Hause des Kanzlers Grimaldi hat Claudia - gewiss nicht absichtlich - Emilias Ehre und damit auch die der Familie in höchste Gefahr gebracht. Hätte Odoardo die Rückkehr der Tochter aus der Messe abgewartet und ihren Bericht vernommen, so wäre vielleicht der Anschlag Marinellis und seiner gedungenen Banditen vereitelt worden. Der misstrauische Odoardo hätte sich gewiss darauf vorbereitet, dass der Prinz auch vor Gewalt nicht zurückschrecken würde, um zum Ziel seiner Lust zu gelangen. Hätte Galotti seine "raue[n] Tugend" (S.21) weniger gezügelt und auch am Hochzeitsmorgen den Streit mit seiner Frau nicht gescheut, so wäre die Katastrophe wahrscheinlich verhindert worden

Die Mutter dagegen erkennt auch nach Emilias Bericht nicht die drohende Gefahr. Vielmehr begünstigt sie unbewusst Marinellis Plan, wenn sie der Tochter rät, dem Bräutigam den Vorfall zu verheimlichen. Der hätte nämlich den angeblich ehrenvollen Auftrag Marinellis, als Gesandter des Prinzen unverzüglich nach Massa zu reisen, sofort als Versuch durchschaut, ihn von seiner Braut zu trennen, damit der Prinz bei ihr freie Hand habe. Zusammen mit dem Schwiegervater hätte er sich beraten und die Abwehr der drohenden Gefahr planen können.

Nachdem aber Marinellis Anschlag geglückt, Appiani getötet und Emilia zum Schein auf des Prinzen Lustschloss gerettet, in Wirklichkeit aber entführt worden ist, bleibt dem Vater tatsächlich nur die Tötung der Tochter, um sie vor der Entehrung als Mätresse des Prinzen zu bewahren. Zwar will Galotti seine Tochter zunächst vor den Nachstellungen des Prinzen schützen, indem er sie bis zum Eintritt in ein Kloster auf seinem Landgut behütet. Daran hindert ihn jedoch der Prinz nach dem Hinweis Marinellis, dass es zur Untersuchung des Überfalls erforderlich sei "wenigstens Emilien in eine besondere Verwahrung zu bringen." (S.63)

De Ermordung des Prinzen, eventuell auch seines Handlangers Marinelli, wäre eine naheliegende Reaktion auf dieses abgekartete Spiel. Galotti greift auch tatsächlich zu dem Dolch (vgl. S.64 oben), den ihm die Gräfin Orsina überlassen hat, damit er auch ihre Demütigung an dem Prinzen räche, doch er beherrscht sich. Emilia billigt später diese Zurückhaltung mit den Worten: "Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben." (S.67) Sie deutet damit vermutlich an, dass Verbrecher wie der Prinz und Marinelli anders als ihr Vater durch einen Mord kein ewiges Leben verlieren können. Den Vater hat aber vermutlich nicht sein christlicher Glaube, sondern der eingefleischte Respekt sogar vor einem verbrecherischen Landesherrn vor der Tat zurückschrecken lassen. Er lebt schließlich in einer Zeit, zu der die adligen Herrscher als von Gott eingesetzt und nur diesem verantwortlich galten.

Dass Emilia nicht in einen Kerker, sondern in das Haus des Kanzlers kommen soll - sie nennt es im Gespräch mit dem Vater ängstlich "das Haus der Freude" (S.67) nimmt dem Vater endgültig die Hoffnung, sie dem Prinzen entziehen und so ihre Unschuld zu schützen können. Im 7.Auftr. des 5.Aufzugs vergewissert sich Odoardo deshalb, ob seine Tochter lieber sterben als ihre Unschuld verlieren will. Sie bekennt ihm, dass ihre Unschuld wohl über Gewalt "Aber nicht über alle Verführung." erhaben sei und dass sie ihr "so jugendliches, so warmes Blut" fürchte. Sie habe Angst vor sich selber, vor den Verlockungen im Haus der Grimaldi, denn "Auch meine Sinne sind Sinne." (alle Zitate S.67) Sie nötigt den Vater, nach dem Vorbild des römischen Virginius die Unschuld der Tochter zu schützen (vgl. S. 68 oben), und provoziert ihn mit den Worten zum tödlichen Dolchstoß: "Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keine mehr!" (S.68)

Lessing greift in seiner "Emilia Galotti" das bis ins 19. Jahrhundert wiederholt gestaltete Virginia-Motiv auf, eine mehr als 2200 Jahre alte Legende, nach der ein Römer seine Tochter getötet hat, um sie so vor der Entehrung durch einen seine Macht missbrauchenden Herrscher zu schützen. Lessing hat die Handlung des Trauerspiels, das pikanterweise zum Geburtstag der Herzoginmutter in Braunschweig uraufgeführt wurde, an einen italienischen Fürstenhof verlegt. Entgegen seinen Befürchtungen ließ der Hof den Autor für diese kaum verhüllte Zeitkritik nicht nur nicht büßen, sondern das Stück wurde sogar mit großem Beifall aufgenommen. Wie bei der Uraufführung von Brechts "Dreigroschenoper" Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts klatschten auch damals die Kritisierten in den Logen ihrem Kritiker Beifall. Muss man daraus folgern, dass die Schaubühne nicht die von Schiller geforderte "moralische Anstalt" sein kann, die das Publikum erzieht?

zitierte Ausgabe: G. E. Lessing: Emilia Galotti. Husum (Hamburger Lesehefte Verlag) o.J.

© Volker Jansen 2004

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