PISA 2000:
Untersuchungsansatz, Lesekompetenz ("Reading Literacy”), erweiterter Textbegriff
Die PISA-Untersuchung und ihre Ergebnisse sind zur Messlatte geworden, an der die Schule seit der ersten Studie im Jahre 2000 gemessen wird. Daher ist es sinnvoll, über Anliegen und Anlage der Studie informiert zu sein; zumal sich im Jahr 2009 mit dem erneuten Untersuchungsschwerpunkt "Lesekompetenz" der für den Deutschunterricht besonders relevante Themenkreis vorläufig geschlossen hat. Erwartungsgemäß steht dann die Frage im Raum, welche Fortschritte seit der ersten Untersuchung 2000 zu verzeichnen sind. Damit beschäftigt sich die 2011 herausgegebenen „Bilanz nach zehn Jahren”.
I. Basis-Information
Doch zuerst die wichtigsten Basis-Informationen:
- PISA steht für Programme for International Student Assessment
- OECD für Organisation for Economic Co-operation and Development
- den OECD-Staaten vergleichende Daten über ihre Ressourcen-Ausstattung und -Auslastung zur Verfügung zu stellen;
- diese sollen daraus Konsequenzen für die Verbesserung ihrer nationalen Bildungssysteme ziehen.
Die Abfolge der von der OECD durchgeführten Untersuchungen sah bisher so aus:
- PISA 2000 mit Untersuchungsschwerpunkt: Lesekompetenz (Überblick (Max-Planck-Institut 2002, pdf))
- PISA 2003 Mathematische Kompetenz & Problemlösung (Ergebnisse (OECD, pdf))
- PISA 2006 Naturwissenschaften (Ergebnisse (PISA-Konsortium))
- PISA 2009 Lesekompetenz (Ergebnisse (Waxmann 2010, pdf)
- PISA 2012 Mathematik (Ergebnisse (Waxmann 2013, pdf))
Die Anzahl der an der PISA-Studie teilnehmenden Länder wächst ständig:
2006 nahmen 57 Länder teil, 2009 waren es 65
In Deutschland wurden im April 2006
• in 230 Schulen jeweils 25 15-jährige Schüler getestet (5750 Schüler)
• in 230 Schulen je zwei neunte Klassen getestet, (8500 Schüler)
• für den zusätzlichen Ländervergleich (PISA E) aus ungefähr 1500 Schulen jeweils 38 Jugendliche getestet, also insgesamt ca. 57 000 Schülerinnen und Schüler (kein Ländervergleich 2009).
II. Der Begriff "Lesekompetenz”
ist in der P-Studie sehr klar umrissen, wird aber in der öffentlichen Diskussion und in den Medien fast durchweg schwammig gebraucht. Lesekompetenz meint nicht
- gut bzw. fehlerfrei vorlesen können (Vorlese-Kompetenz)
- solide Kenntnis im Literaturkanon zu besitzen (Bildung)
- lustvoller Leser von unterhaltsamer Jugendliteratur zu sein (Motivation)
Demgegenüber erfasst das PISA-Modell der Lesekompetenz die „effektive Informationsverarbeitung“ (PISA 2000, Opladen 2000, S. 76) und interessiert sich für den kognitiv orientierten Prozess der Texterfassung.
-
In der Studie wird Lesekompetenz definiert als
„die Fähigkeit, geschriebene Texte
• unterschiedlicher Art
• in ihren Aussagen,
• ihren Absichten und
• in ihrer formalen Struktur zu verstehen und
• sie in einen größeren sinnstiftenden Zusammenhang einzuordnen
• sowie für verschiedene Zwecke sachgerecht nutzen zu können.“ (S. 22)
Der Hinweis „unterschiedlicher Art" weist auf einen erweiterten Textbegriff hin.
Die Studie bezieht Texte ein, in denen die Information nicht fortlaufend und auch nicht allein verbal dargestellt wird, sie unterscheidet also zwischen
kontinuierlichen (62%) und nicht-kontinuierlichen (38% der Aufgaben) Texten:
Erzählung Diagramme
Darlegung Tabellen
Beschreibung Schematische Zeichnungen
Argumentation Karten
Anweisung Formulare, Anzeigen
Drei Funktionen des Lesens werden unterschieden (S. 69/70):
- Informationslesen: bezogen auf Bauanleitungen, Gebrauchsanweisungen ...
- Lesen zur Wissenserweiterung: dient dem Aufbau von Wissensstrukturen, deren Erweiterung oder Revision
- Lesen von Literatur als Möglichkeit zur Identifikation mit Figuren, Auseinandersetzung mit Lebensentwürfen, Einladung zum Perspektivwechsel, kurz: zur Lebensbewältigung, Sinnfindung und auch Unterhaltung.
Die PISA-Lesekompetenz ist also nicht Bildung im Sinne unserer deutschen Bildungstradition, sondern stellt die instrumentelle Voraussetzung zum Erwerb von Bildung dar: Die P-Autoren sprechen von einer „kulturellen Schlüsselqualifikation“ (S. 69), die zur erfolgreichen Teilhabe an der Lesekultur befähigt und damit zur Teilhabe am sozialen Leben.
Lesen ist damit auch Voraussetzung für den selbstbestimmten Gebrauch aller Medien.
Das Konzept der Lesekompetenz enthält auch keine emotionalen, ästhetischen oder kulturellen Dimensionen wie z.B. persönliches Betroffensein, ästhetischer Genuss, Aha-Erlebnisse und Handlungsimpulse und Kommunikationsanlässe.
III. Faktoren erfolgreichen Lernens/Lesens
Lesen wird nicht als Rezeptionprozess verstanden, sondern als eine "Konstruktionsleistung“ (71): In einem komplexen Vorgang der Bedeutungsentnahme, der aus mehreren Teilprozessen besteht, konstruiert und re-konstruiert der Leser Textbedeutung. Diese Leistung ist situationsabhängig, es wird nicht ein objektiver Bedeutungsgehalt gefunden, sondern eine „situative Textpräsentation“ aufgebaut (d.i. ein „internes Modell des im Text beschriebenen Sachverhalts“ S.72).
Für diese situative Textrepräsentation gibt es ein Vorhersagemodell (S.130).
Erfolgreiches Lesen ist demnach abhängig von
-
• einer hohen kognitiven Grundfähigkeit (Abstraktionsvermögen, Intelligenz, räumliche Wahrnehmung ...),
• der schnellen Erfassung korrekter Bedeutung von Sätzen (dekodieren)
• dem Wissen um die Effektivität und Anwendbarkeit von Lesestrategien und der Bereitschaft, diese anzuwenden,
• der Lesemotivation,
• und besonders wichtig für tieferes Leseverständnis (besonders bei Sachtexten)
• inhaltliches Vorwissen zum Thema und inhaltliches Interesse am Thema
Zwei zentrale Ansatzpunkt zur Verbesserung der Lesekompetenz leiten die P-Autoren aus diesem Modell und aus den Ergebnissen der PISA-Tests für Deutschland ab (S.131ff):
1. die Verbesserung der Informationsverarbeitungskompetenz (-> Lesestrategien)
2. die Entwicklung einer dem Lesen gegenüber aufgeschlossenen motivationalen Grundhaltung und Werteinstellung bei Schülern - und einer gesellschaftlichen Lesekultur (S.133).
Die Untersuchungen haben ergeben:
SchülerInnen mit Lernstrategiewissen und inhaltlichem Interesse bzw. Interesse am Lesen zeigen
durchgehend bessere Leistungen im Verstehen von Texten und im Lernen aus Texten.
Strategien der Kontrolle und Überwachung des eigenen Textverständnisses sind z.B.
-
das wiederholte Lesen
das Zusammenfassen von Textabschnitten bzw. des gesamten Textes (Paraphrasieren)
das Auffinden von Wenn-Dann-Verbindungen
das Formulieren von Fragen an den Text
das Klären von Unklarheiten (z. B. nachschlagen)
das Vorhersagen zum Inhalt nachfolgender Textabschnitte
das Bilden von Eselsbrücken für besonders schwere Passagen bzw. Informationen
das Suchen nach Schlüsselwörtern
das Konstruieren von bildlichen Vorstellungen, in die die Textinhalte eingebettet sind.
Solche Lesestrategien können mit Hilfe eines „kompetenten Partners“ praktiziert werden, also durch die Lehrperson, die Mitschüler oder andere Erwachsene, diese sollten sich aber Stück für Stück aus der instruktiven Rolle zurückziehen und somit eine „allmähliche Übernahme von Verantwortung für das Gelingen des Lernprozesses beim Lerner bewirken“(132): Die Schlüsselbegrife lauten hier „Selbstreguliertes Lernen und Metakognition"! Zum Beispiel durch
• Entwickeln selbstständiger Frageroutinen, Einübung inhaltsunabhängiger Frageketten
• Einbindung der Lesestrategien in einen kommunikativen Prozess, der es Schülern ermöglicht, im Gespräch miteinander Verständnisschwierigkeiten auszuräumen, Leseeindrücke auszutauschen oder das eigene Urteil zu schärfen.
VI. Teilprozesse
Der Begriff Lesekompetenz bildet die Grundlage für ein Verfahren zum Testen und Diagnostizieren von Leseverstehen: Leseverständnis wird dazu in fünf Teilleistungen untergliedert, die aufeinander aufbauen.
Die Teilaspekte 4 und 5 bezeichnen die Schwächen deutscher Schülerinnen und Schüler (S.103).
Dies hängt stark vom Schultyp ab:
Die Gymnasien schneiden durchaus gut ab und liegen (laut PISA E) in Bayern und Ba-Wü auf dem Niveau von Finnland. Und die Schülerinnen (=Mädchen) in den Gymnasien (S. 267) schneiden überdurchschnittlich gut ab, sie verfügen über Kenntnisse von Lernstrategien, setzen diese auch ein und zeigen hohes Leseinteresse. Das Problem sind die Jungen! Das erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass deutsche Gymnasien trotz des gehobenen Anspruches nicht besser abschneiden als die Einheitsschulen anderer Länder (Skandinavien, Canada).
Aus den fünf Teil-Aspekten der Lesekompetenz lässt sich schließlich auch ein Phasenmodell für das praktische (=methodische) Vorgehen ableiten, das den bekannten 5-Schritt-Lesetechniken entspricht:
- Globales Lesen => selektives Lesen => detailliertes Lesen (Skimming - Scanning - reading for details).
- oder: Survey => Question => Read => Recite => Review
V. Grenzen der Studie und Handlungsbedarf
Die PISA-Studie und das darin verwendete Konzept der Lesekompetenz
Am Gymnasium zeigt sich Handlungsbedarf auf folgenden Gebieten:
Quelle: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000,
Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich,
Leske+Budrich 2001
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.