PISA 2000-09: Überblick und Bilanz

PISA 2000:
Untersuchungsansatz, Lesekompetenz ("Reading Literacy”), erweiterter Textbegriff

Die PISA-Untersuchung und ihre Ergebnisse sind zur Messlatte geworden, an der die Schule seit der ersten Studie im Jahre 2000 gemessen wird. Daher ist es sinnvoll, über Anliegen und Anlage der Studie informiert zu sein; zumal sich im Jahr 2009 mit dem erneuten Untersuchungsschwerpunkt "Lesekompetenz" der für den Deutschunterricht besonders relevante Themenkreis vorläufig geschlossen hat. Erwartungsgemäß steht dann die Frage im Raum, welche Fortschritte seit der ersten Untersuchung 2000 zu verzeichnen sind. Damit beschäftigt sich die 2011 herausgegebenen „Bilanz nach zehn Jahren”.

I. Basis-Information

Doch zuerst die wichtigsten Basis-Informationen:

Das Ziel ist,

Die Abfolge der von der OECD durchgeführten Untersuchungen sah bisher so aus:

Die Anzahl der an der PISA-Studie teilnehmenden Länder wächst ständig:
2006 nahmen 57 Länder teil, 2009 waren es 65

In Deutschland wurden im April 2006
• in 230 Schulen jeweils 25 15-jährige Schüler getestet (5750 Schüler)
• in 230 Schulen je zwei neunte Klassen getestet, (8500 Schüler)
• für den zusätzlichen Ländervergleich (PISA E) aus ungefähr 1500 Schulen jeweils 38 Jugendliche getestet, also insgesamt ca. 57 000 Schülerinnen und Schüler (kein Ländervergleich 2009).

II. Der Begriff "Lesekompetenz”

ist in der P-Studie sehr klar umrissen, wird aber in der öffentlichen Diskussion und in den Medien fast durchweg schwammig gebraucht. Lesekompetenz meint nicht
- gut bzw. fehlerfrei vorlesen können (Vorlese-Kompetenz)
- solide Kenntnis im Literaturkanon zu besitzen (Bildung)
- lustvoller Leser von unterhaltsamer Jugendliteratur zu sein (Motivation)
Demgegenüber erfasst das PISA-Modell der Lesekompetenz die „effektive Informationsverarbeitung“ (PISA 2000, Opladen 2000, S. 76) und interessiert sich für den kognitiv orientierten Prozess der Texterfassung.

Der Hinweis „unterschiedlicher Art" weist auf einen erweiterten Textbegriff hin.
Die Studie bezieht Texte ein, in denen die Information nicht fortlaufend und auch nicht allein verbal dargestellt wird, sie unterscheidet also zwischen

kontinuierlichen (62%) und nicht-kontinuierlichen (38% der Aufgaben) Texten:
Erzählung Diagramme
Darlegung Tabellen
Beschreibung Schematische Zeichnungen
Argumentation Karten
Anweisung Formulare, Anzeigen

Drei Funktionen des Lesens werden unterschieden (S. 69/70):
  1. Informationslesen: bezogen auf Bauanleitungen, Gebrauchsanweisungen ...
  2. Lesen zur Wissenserweiterung: dient dem Aufbau von Wissensstrukturen, deren Erweiterung oder Revision
  3. Lesen von Literatur als Möglichkeit zur Identifikation mit Figuren, Auseinandersetzung mit Lebensentwürfen, Einladung zum Perspektivwechsel, kurz: zur Lebensbewältigung, Sinnfindung und auch Unterhaltung.
Der Trend in der BRD geht zum „Informationslesen“ (Sach- und Gebrauchstexte) und zum Lesen für die berufliche Qualifikation.

Die PISA-Lesekompetenz ist also nicht Bildung im Sinne unserer deutschen Bildungstradition, sondern stellt die instrumentelle Voraussetzung zum Erwerb von Bildung dar: Die P-Autoren sprechen von einer „kulturellen Schlüsselqualifikation“ (S. 69), die zur erfolgreichen Teilhabe an der Lesekultur befähigt und damit zur Teilhabe am sozialen Leben.
Lesen ist damit auch Voraussetzung für den selbstbestimmten Gebrauch aller Medien.
Das Konzept der Lesekompetenz enthält auch keine emotionalen, ästhetischen oder kulturellen Dimensionen wie z.B. persönliches Betroffensein, ästhetischer Genuss, Aha-Erlebnisse und Handlungsimpulse und Kommunikationsanlässe.

III. Faktoren erfolgreichen Lernens/Lesens

Lesen wird nicht als Rezeptionprozess verstanden, sondern als eine "Konstruktionsleistung“ (71): In einem komplexen Vorgang der Bedeutungsentnahme, der aus mehreren Teilprozessen besteht, konstruiert und re-konstruiert der Leser Textbedeutung. Diese Leistung ist situationsabhängig, es wird nicht ein objektiver Bedeutungsgehalt gefunden, sondern eine „situative Textpräsentation“ aufgebaut (d.i. ein „internes Modell des im Text beschriebenen Sachverhalts“ S.72).
Für diese situative Textrepräsentation gibt es ein Vorhersagemodell (S.130).

Erfolgreiches Lesen ist demnach abhängig von

Zwei zentrale Ansatzpunkt zur Verbesserung der Lesekompetenz leiten die P-Autoren aus diesem Modell und aus den Ergebnissen der PISA-Tests für Deutschland ab (S.131ff):
1. die Verbesserung der Informationsverarbeitungskompetenz (-> Lesestrategien)
2. die Entwicklung einer dem Lesen gegenüber aufgeschlossenen motivationalen Grundhaltung und Werteinstellung bei Schülern - und einer gesellschaftlichen Lesekultur (S.133).

Die Untersuchungen haben ergeben:
SchülerInnen mit Lernstrategiewissen und inhaltlichem Interesse bzw. Interesse am Lesen zeigen
durchgehend bessere Leistungen im Verstehen von Texten und im Lernen aus Texten.

Strategien der Kontrolle und Überwachung des eigenen Textverständnisses sind z.B.

Solche Lesestrategien können mit Hilfe eines „kompetenten Partners“ praktiziert werden, also durch die Lehrperson, die Mitschüler oder andere Erwachsene, diese sollten sich aber Stück für Stück aus der instruktiven Rolle zurückziehen und somit eine „allmähliche Übernahme von Verantwortung für das Gelingen des Lernprozesses beim Lerner bewirken“(132): Die Schlüsselbegrife lauten hier „Selbstreguliertes Lernen und Metakognition"! Zum Beispiel durch
• Entwickeln selbstständiger Frageroutinen, Einübung inhaltsunabhängiger Frageketten
• Einbindung der Lesestrategien in einen kommunikativen Prozess, der es Schülern ermöglicht, im Gespräch miteinander Verständnisschwierigkeiten auszuräumen, Leseeindrücke auszutauschen oder das eigene Urteil zu schärfen.

VI. Teilprozesse

Der Begriff Lesekompetenz bildet die Grundlage für ein Verfahren zum Testen und Diagnostizieren von Leseverstehen: Leseverständnis wird dazu in fünf Teilleistungen untergliedert, die aufeinander aufbauen.

Die Teilaspekte 4 und 5 bezeichnen die Schwächen deutscher Schülerinnen und Schüler (S.103).
Dies hängt stark vom Schultyp ab:
Die Gymnasien schneiden durchaus gut ab und liegen (laut PISA E) in Bayern und Ba-Wü auf dem Niveau von Finnland. Und die Schülerinnen (=Mädchen) in den Gymnasien (S. 267) schneiden überdurchschnittlich gut ab, sie verfügen über Kenntnisse von Lernstrategien, setzen diese auch ein und zeigen hohes Leseinteresse. Das Problem sind die Jungen! Das erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass deutsche Gymnasien trotz des gehobenen Anspruches nicht besser abschneiden als die Einheitsschulen anderer Länder (Skandinavien, Canada).

Aus den fünf Teil-Aspekten der Lesekompetenz lässt sich schließlich auch ein Phasenmodell für das praktische (=methodische) Vorgehen ableiten, das den bekannten 5-Schritt-Lesetechniken entspricht:

V. Grenzen der Studie und Handlungsbedarf

Die PISA-Studie und das darin verwendete Konzept der Lesekompetenz

  • gibt ein Verstehensmodell für die kognitive Seite von Leseprozessen (Diagnostik);
  • lenkt die Aufmerksamkeit auf ein umfassenderes Textsortenspektrum und könnte den Deutschunterricht sogar entlasten, indem auch andere Fächer - vielleicht alle Fächer - auf die Förderung von Lesekompetenz verpflichtet werden.
  • richtet den Fokus auf die Beschäftigung mit Lesestrategien und die Bedeutung von Lesemotivation,
  • vermittelt jedoch kein Modell einer umfassenden Lesedidaktik, deren Ziel ein weltoffener, mündiger, kritikfähiger, genussfähiger und wertebewusster Leser sein sollte.

    Am Gymnasium zeigt sich Handlungsbedarf auf folgenden Gebieten:

  • Im Umgang mit heterogenen Lerngruppen auch am Gymnasium, besonders bezogen auf den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Das Defizit der Jungen entsteht übrigens nach der Grundschule (S.266/7),
  • in der Befähigung des Lehrpersonals zur Diagnose von Leseschwächen und -stärken,
  • in der gemeinsamen Zuständigkeit aller Fächer für die Förderung der Lesefähigkeit - als Befähigung zu einer souveränen (d.h. selbstgesteuerten) Texterfassung.

    Quelle: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000,
    Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich,
    Leske+Budrich 2001


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