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Max Frisch, Andorra

Die Fabel

Das Stück spielt in einer nicht näher bestimmten Zeit in Andorra - "gemeint ist natürlich nicht der wirkliche Kleinstaat dieses Namens (...). Andorra ist der Name für ein Modell" (Max Frisch). Hier begegnet der Zuschauer dem jungen Andri, dem Pflegesohn des Lehrers Can. Der Lehrer hat ihn nach seiner Darstellung als Judenkind aus dem Nachbarland gerettet, dem Land der "Schwarzen", wo er der lebensbedrohlichen Verfolgung durch dieses Volk ausgesetzt gewesen wäre.

Andri ist aber in Wirklichkeit der leibliche Sohn Cans und der Senora, einer Schwarzen von drüben, was aber niemand weiß, auch Andri nicht. So sehen die Andorraner in ihm den typischen Juden und behandeln ihn nach diesem vorgefaßten Bild. Unter dem Zwang der an ihn herangetragenen Vorurteile übernimmt Andri nach und nach dieses Bild des Juden und sieht sich schließlich in seinem Anderssein bestätigt, als ihm Can die Heirat mit seiner Tochter Barblin verweigert.

Von dieser ihm auferzwungenen Identität rückt er auch nicht mehr ab, als ihm nach einem Besuch der Senora seine wahre Herkunft mitgeteilt wird. Die Senora wird vor ihrer Abreise von einem Steinwurf getötet. Deshalb rücken die Schwarzen in Andorra ein, was die Andorraner veranlaßt, Andri den Mord an der Senora in die Schuhe zu schieben.

In einer spektakulären "Show" wird Andri von den Schwarzen als Jude "identifiziert" und schließlich ermordet. Der Lehrer bezeugt zwar öffentlich die Wahrheit; aber niemand glaubt ihm. Er erhängt sich in einem Schulzimmer, seine Tochter Barblin verfällt in geistiger Umnachtung.


Gang der Handlung

1. Bild (Straße, Pinte)

Barblin weißelt ihr Haus, dabei wird sie von Peider begafft. Barblins Protest, sie sei verlobt, ignoriert der Soldat mit Spott. Der Pater ist erfreut über ihre Weißelarbeit, "wir werden ein schneeweißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra, wenn nur kein Platzregen kommt über Nacht" (S. 9). Peider quittiert dies mit blankem Hohn, "... seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut ... und wenn ein Platzregen kommt, das saut euch jedesmal die Tünche herab, als hätte man eine Sau darauf geschlachtet" (S. 9).

Barblin will vom Pater wissen, ob es wahr sei, daß die Schwarzen, die Nachbarn Andorras, sie überfallen würden. Der Pater weicht aus, indem er Barblins Vater kritisiert, auf die Armut verweist und schließlich überraschend beteuert: "Kein Mensch verfolgt euren Andri" (S. 10).

Im zweiten Teil des Bildes verhandelt der Lehrer mit dem Tischler um eine Lehrstelle für seinen Pflegesohn Andri. Der Tischler verlangt fünfzig Pfund mit der Begründung, "Tischler werden, das ist nicht einfach, wenn's einer nicht im Blut hat. Und woher soll er's im Blut haben?" (S. 13). Ein Pfahl, den der Tischler offenbar nicht sieht, versetzt den Lehrer während des Gesprächs in höchste Aufregung. Der Tischler geht schließlich, ohne auf seine Forderungen zu verzichten. Der Wirt schaltet sich in die Sache ein und verweist darauf, daß wenn es ums Geld gehe, der Andorraner "wie der Jud" sei. Er bietet aber selber nur fünfzig Pfund dafür, daß der Lehrer ein Stück Land anbietet, genau genommen verkaufen muß, um die Tischlerlehre bezahlen zu können.


2. Bild (Vor Barblins Kammer)

Andri spricht mit seiner Verlobten Barblin über das, was andere von ihm sagen. Er will wissen, ob er wirklich kein Gefühl habe, ob er geil sei. Er vergleicht sich mit den anderen und weiß keine Antwort darauf, warum er anders ist als alle. Barblin will ihn beruhigen, doch seine Selbstzweifel gipfeln in der Vision: "Es gibt Menschen, die verflucht sind, und man kann mit ihnen machen, was man will, ein Blick genügt, plötzlich bist du so, wie sie sagen" (S. 28).


3. Bild (Tischlerwerkstatt)

Andri bespricht mit dem Tischlergesellen die Möglichkeit, in dessen Fußballmannschaft mitzuspielen. Dabei überprüft der Geselle Andris erstmals fertiggestellten Stuhl. Er hält jeder Belastung stand, denn er ist verzapft und verleimt, wie es sich gehört. Als der Meister kommt und irgend einen Stuhl überprüft, der sofort aus dem Leim geht, meint er nur, daß man von Andri ja nichts anderes erwarten könne, "wenn's einer nicht im Blut" habe. Andris Hinweis, der Tischler sitze auf dem von ihm gefertigten Stuhl, bleibt ohne Wirkung, denn der Geselle gibt nicht zu, daß er den aus dem Leim gegangenen Stuhl gemacht habe.
Der Tischler ignoriert Andris heftigen Protest, "Wieso hab ich kein Recht vor euch? (....) Sie machen sich nichts aus Beweisen. Sie sitzen auf meinem Stuhl. Das kümmert Sie aber nicht? Ich kann tun, was ich will, ihr dreht es immer gegen mich, und der Hohn nimmt kein Ende. (...) Sie wollen nicht, daß ich tauge" (S. 34). Der Meister bietet ihm statt dessen an, mit seiner "Schnorrerei" Bestellungen hereinzubringen, ein Pfund für drei Bestellungen, "Das ist's, was deinesgleichen im Blut hat" (S. 35).


4. Bild (Stube beim Lehrer)

Der Doktor untersucht Andri. Dabei erzählt er, daß er Andris Vater als jungen Lehrer gekannt habe. "Immer mit dem Kopf durch die Wand. Er hat von sich reden gemacht damals, ein junger Lehrer, der die Schulbücher zerreißt, er wollte andere haben" (S. 37f). Er selber sei Professor, mache sich aber nichts aus Titeln. Er sei in der Welt herumgekommen, dabei habe er erfahren müssen, daß wo man hinkomme, der Jud schon in allen Ländern der Welt auf allen Lehrstühlen hocke. Er habe nichts gegen den Jud, er sei nicht für Greuel. Auch er habe Juden gerettet, obwohl er sie nicht riechen könne. Als Andri abweisend reagiert, erfährt er erst, daß Andri Jude ist.
Der Lehrer erscheint, er wirft den Doktor aus dem Haus und bezeichnet ihn als "verkrachten Akademiker". Anschließend sitzt die Familie bei Tisch und Andri eröffnet seinem Pflegevater, daß er Barblin heiraten möchte. Sie habe das kommen sehen, meint die Mutter, doch Can reagiert entsetzt. "Es ist das erste Nein, Andri, das ich dir sagen muß" (S. 46). Barblin läuft weg, und für Andri gibt es nur eine Erklärung: "Weil ich Jud bin" (S. 47). Der Lehrer verläßt das Haus, um sich zu betrinken, wie die Mutter befürchtet.


5. Bild (Pinte)

Can trinkt Schnaps. Er deutet an, daß er gelogen habe und Andri seine Schwester heiraten möchte. Der Jemand versteht ihn nicht und verweist auf die Drohungen des Nachbarlandes.


6. Bild (Vor Barblins Kammer)

Der Soldat schleicht über den schlafenden Andri hinweg in Barblins Kammer. Andri erwacht und wundert sich über die verriegelte Kammertür. Er bekundet freimütig seinen Haß. So fühle er sich wohler, und es erlaube ihm, Pläne zu schmieden, Pläne für sich und Barblin. Der betrunkene Can tritt auf. Er will die Wahrheit sagen, doch Andri sieht nur seine Trunkenheit und schleudert ihm seine Verachtung entgegen: "Ich verdanke dir mein Leben. Ich weiß. Wenn du Wert darauf legst, ich kann es jeden Tag einmal sagen: ich verdanke dir mein Leben (...) Du ekelst mich (...) Geh pissen (...) Heul nicht deinen Schnaps aus den Augen, wenn du ihn nicht halten kannst, sag ich, geh" (S. 54ff). Nachdem der Lehrer gegangen ist, tritt der Soldat mit nacktem Oberkörper und offener Hose aus Barblins Kammer und jagt ihn davon. Andri kann es nicht glauben.


7. Bild (Sakristei)

Der Pater führt ein Gespräch mit Andri auf Wunsch der Pflegemutter, die ihn großer Sorge um ihn ist. Andri wiederholt dem Pater gegenüber alles, was ihm von den Andorranern entgegengehalten wird, er sei vorlaut, denke alleweil ans Geld, niemand möge ihn, er sei ehrgeizig, seinesgleichen habe kein Gemüt, er sei feig. Schließlich bricht er zusammen und weint um seine Barblin. Sie könne ihn nicht lieben, niemand könne das, er selbst auch nicht. Der Pater entgegnet ihm: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Er sagt: Wie dich selbst" (S. 63). Er müsse sein Judsein annehmen und verweist auf Andris herausragende Eigenschaften. "Kein Mensch, Andri, kann aus seiner Haut (...) Gott will, daß wir sind, wie er uns geschaffen hat. (...) Du bist nun einmal anders als wir" (S. 64).


8. Bild (Platz vor Andorra)

Die Andorraner unterhalten sich über die gespannte politische Lage, weil die Schwarzen Truppen an der Grenze zusammengezogen haben. Eine Senora von drüben mietet ein Zimmer beim Wirt, was diesen veranlaßt, gegenüber den anderen Andorraner das Gastrecht zu beschwören. Der Doktor gibt Phrasen von sich über die Beliebtheit der Andorraner in der ganzen Welt, weil "jedes Kind in der Welt weiß, daß Andorra ein Hort ist, ein Hort des Friedens und der Freiheit und der Menschenrechte" (S. 68). So ist er überzeugt, daß jene von drüben es nicht wagen werden, Andorra anzugreifen, weil sich Andorra aufs Weltgewissen berufen kann. Diese scheinbare Gewißheit und Rechtschaffenheit hindert die Andorraner jedoch nicht daran, in der Senora eine "Spitzelin" zu sehen, wobei besonders der Soldat und der Tischlergeselle offen ihre Ablehnung der Fremden gegenüber bekunden. Die Senora tritt auf, setzt sich an einen freien Tisch, was die Andorraner außer Peider und Fedri veranlaßt zu gehen. Peider begafft die Fremde unverhohlen, da erscheint Andri. Er beginnt mit dem Soldaten einen Streit, er wird deshalb von den Soldaten zusammengeschlagen. Die Senora geht dazwischen, hilft ihm und verlangt nach einem Arzt. Sie läßt sich schließlich von Andri zu seinem Vater führen.


Vordergrund

In der folgenden Szene wird endlich offenbar, was seit der ersten Vordergrundszene bekannt ist: Andri ist der leibliche Sohn Cans und der Senora. In dem Gespräch der beiden werden auch die Ängste deutlich, die beide dazu veranlaßt haben, ihr gemeinsames Kind vor dem jeweils eigenen Volk zu verleugnen: "Du hast mich gehaßt, weil ich feige war, als das Kind kam. Weil ich Angst hatte vor meinen Leuten. Als du an die Grenze kamst, sagtest du, es sei ein Judenkind, das du gerettet hast vor uns. Warum? Weil auch du feige warst, als du wieder nach Hause kamst. Weil auch du Angst hattest vor deinen Leuten" (S. 77f).


9. Bild (Stube beim Lehrer)

Die Senora verabschiedet sich von Andri und deutet an, daß sich sein Leben ändern werde. Andri fühlt sich von ihr angezogen. Er begleitet sich zunächst. In der Zwischenzeit beauftragen Can und die Mutter den Pater, Andri die Wahrheit zu sagen. Andri kommt vorzeitig zurück, die Senora wolle alleine gehen. Sie hat ihm ihren Ring mit einem Topas geschenkt. Der Lehrer macht sich auf den Weg, die Senora zu begleiten.

Der Pater versucht nun mühsam, mit Andri ins Gespräch zu kommen, während dieser gelöst und heiter wirkt und dabei dem Pater anvertraut, daß er auswandern wolle, der Ring verschaffe ihm die Möglichkeit dazu. Als der Pater die Wahrheit schließlich ausspricht, will Andri nichts davon wissen. Und er erzählt, wie er, seit er hören könne, gesagt bekommen hat, wie er sei und wie er schließlich erkannt hat, daß er wirklich so sei, wie man ihm nachsage: "Hochwürden haben gesagt, man muß das annehmen, und ich hab's angenommen. Jetzt ist es an Euch, euren Jud anzunehmen" (S. 86). Der Lehrer kommt zurück und meldet, man habe die Senora mit einem Stein getötet, und es heiße, Andri habe den Stein geworfen. Er appelliert an den Pater, er sei Zeuge, daß Andri bei ihm gewesen sei.


10. Bild (Platz von Andorra)

Andri ist allein. Seit den frühen Morgenstunden ist er, wie er sagt, durch die Gassen geschlendert, und niemand ist zu sehen gewesen. er habe den Stein nicht geworfen, er brauche sich nicht zu verstecken. Eine Stimme flüstert ihm etwas zu. Der Lehrer tritt auf mit einem Gewehr. Er versucht Andri zum Weggehen zu bewegen, die Schwarzen seien da. Andri hört nicht auf ihn. Aus Lautsprechern ist zu hören, daß kein Andorraner etwas zu befürchten habe. Er verhöhnt die kapitulierenden Andorraner und macht seinem Vater klar, daß er nicht der erste sei, der verloren ist. "Es hat keinen Zweck, was du redest. Ich weiß, wer meine Vorfahren sind. Tausende und Hunderttausende sind gestorben am Pfahl. Ihr Schicksal ist mein Schicksal" (S. 95). Er wirft eine Münze ins Orchestrion und geht. Danach patrouillieren Soldaten (im Vordergrund) in schwarzen Uniformen mit Maschinenpistolen.


11. Bild (Vor Barblins Kammer)

Barblin ist verzweifelt, während Andri scheinbar gefühllos sich danach erkundigt, wie oft sie mit dem Soldaten geschlafen habe. In der Folge werden seine Vorhaltungen immer roher, bis er sie schließlich auffordert, sich auszuziehen und ihn zu küssen. "Kannst du nicht, was du mit jedem kannst, fröhlich und nackt. (...) Was ist anders mit den anderen? Sag es doch. Was ist anders? Ich küß dich, Soldatenbraut! Einer mehr oder weniger, zier dich nicht" (S. 101). Barblin beschwört ihn vergeblich, sich zu verstecken. Ein Soldat führt Andri schließlich zur Judenschau.


12. Bild (Platz von Andorra)

Die Andorraner erwarten stumm das weitere Geschehen. Barblin versucht vergeblich, auf sie einzuwirken. Der Doktor meint, man dürfe keinen Widerstand leisten, während der Wirt mehrfach betont, Andri habe den Stein geworfen, er jedenfalls nicht. Soldaten und der Judenschauer treten auf. Die Andorraner müssen sich schwarze Tücher über den Kopf ziehen und die Schuhe ausziehen. Die Angst, der Judenschauer könne sich vielleicht irren, wird mit dem Hinweis verdrängt: "Der riecht's. Der sieht's am bloßen Gang" (S. 109). Der Lehrer versucht, den Andorranern ins Gewissen zu reden. Andri sei sein Sohn. "Wer unter ihnen der Mörder ist, sie untersuchen es nicht. Tuch drüber! Sie wollen's nicht wissen. Tuch drüber! Daß fortan sie einer bewirtet mit Mörderhänden, es stört sie nicht" (S. 113). Der kollaborierende Peider erteilt letzte Instruktionen.Noch einmal versucht Barblin, die Andorraner zu passivem Widerstand zu bewegen, sie wird von den Soldaten weggeschleppt. Die Andorraner gehen schließlich nacheinander unter den kritischen Augen des Judenschauers über den Platz. Der Jemand wird als erster genauer inspiziert, darf aber dann weitergehen - mit Peiders Hilfe. Schließlich muß Andri sein Tuch abnehmen. Zum Beweis seiner richtigen Wahl kehrt der Judenschauer Andris Taschen um, Münzen fallen heraus. "Judengeld", kommentiert der Soldat. Die Beschwörungen des Lehrers und der Mutter, Andri sei Cans Sohn, helfen nichts mehr. Andri wird abgeführt, man reißt ihm den Finger ab, weil er den Ring der Senora nicht hergeben will, und tötet ihn. Die Szene endet ähnlich wie das Stück angefangen hat. Barblin, jetzt geschoren, weißelt das Haus ihres Vater. "Ich weißle, ich weißle, auf das wir ein weißes Andorra haben, ihr Mörder, ein schneeweißes Andorra, ich weißle euch alle - alle" (S. 125). Can hat sich im Schulzimmer erhängt. Der Pater versucht vergeblich, auf Barblin einzureden, während die Andris Schuhe bewacht, die stehengeblieben sind. "Rührt sie nicht an! Wenn er wiederkommt, das sind seine Schuhe."


Die Zeugenschranke

Nach dem 1., 2., 3., 6., 7., 9. und 11. Bild treten die Andorraner im Vordergrund vor der Bühne vor eine Zeugenschranke. Diese Zwischenszenen spielen zeitlich lange nach dem eigentlichen Bühnengeschehen. Mit Ausnahme des Pater beteuern alle Andorraner ihre Unschuld am Ausgang der Geschichte. Einzig der Soldat gibt zu, daß er Andri nicht leiden konnte und er nach wie vor der Meinung sei, er sei ein Jude gewesen. Der Doktor, der vorgibt, sich kurz zu fassen, hält die längste Rechtfertigungsrede. Der Pater - nicht in der Zeugenschranke, sondern im Vordergrund kniend - sagt: "Auch ich habe mir ein Bildnis gemacht von ihm, auch ich habe ihn gefesselt, auch ich habe ihn an den Pfahl gebracht" (S. 65). Mit diesem "auch" drückt er neben seiner eigenen Schuld die Kollektivschuld der Andorraner aus.


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Form und Struktur

Frisch nennt seine Szenen wohl in der Tradition Bertolt Brechts "Bilder". Die Fabel des Stückes vollzieht sich in zwölf Bildern ganz unterschiedlicher Länge und Struktur. So besteht das erste Bild genaugenommen aus vier Szenen, die Exposition des Stückes:

  1. Barblin, Pater
  2. Lehrer, Tischler; Lehrer, Wirt
  3. Andri, Barblin
  4. Wirt, Soldat; Andri, Soldat

Der Zuschauer wird im Verlaufe dieser vier Szenen des ersten Bildes mit der gesamten Thematik und den wichtigsten Figuren konfrontiert:

Das zweite Bild vervollständigt den thematischen Reigen: die Suche nach dem Ich bzw. nach der eigenen Identität.

Einige dieser Bilder wirken skizzenhaft, z.B. das 5. Bild, in dem der betrunkene Lehrer sein Dilemma andeutet, oder das 11. Bild, in dem das Dilemma der Geschwisterliebe noch einmal offenbar wird. Andere Bilder leben von ihrem dramatischen Spannungsbogen. Das sind vor allem das 4., das 6. und das 7. Bild, die Andris Verhaltensänderung zum Märtyrer entwickeln.
Zwischen den Bildern stehen die Vordergrundszenen, in der Regel sind das die Szenen der Andorraner vor der Zeugenschranke. Ausgenommen aus dieser Schematisierung sind die Bilderfolgen 5/6 (keine Vordergrundszene), 8/9 (Senora, Lehrer) und 10/11 (patrouillierende Soldaten).
Grundlage des Stückes ist Frischs Parabel im ersten Tagebuch: "Der andorranische Jude". Es liegt auf der Hand, aufgrund des berichtenden wie aufzählenden Charakters dieser Parabel eine Liste der Vorurteile zu erstellen, sie in Beziehung zu dem angeblichen Juden zu bringen, der sich als Andorraner entpuppt, wodurch diese Vorurteile auf die Andorraner zurückfallen (Spiegel). Dazu bietet sich eine Aufstellung der sinntragenden Verben an:

Die Andorraner

mißtrauen (Mißtrauen gegenüber)
verweisen
denken
wissen genau

 

sagen
haben den Verdacht
tun ihm (dem Juden) nichts
empören sich über die Art seines Todes

Die Schlüsselaussage ist "tun ihm nichts", was Frisch postwendend kommentiert: "also auch nichts Gutes". Das Tun der Andorraner, dessen Ergebnis das fertige Bildnis des Juden ist, ist nicht "Aktion", also Handeln im eigentlichen Sinn, sondern Denken, Sagen, Geisteshaltung. Deshalb kann man den Andorranern auch direkt nichts vorwerfen, läßt man einmal streng moralische Kategorien außer acht.
Die Reaktion ist im Grunde nichts anderes als die Suche nach seiner Identität, die damit endet, daß er das Bild übernimmt, das die Andorraner für das Bild des Juden halten. Das dieses Bild logischerweise als Spiegel wirken muß, dann nämlich, als der Jude sich als Andorraner erweist, bedarf eigentlich keiner Erläuterung. Viel bezeichnender ist, daß Frisch selbst dem Klischeedenken verfällt, wenn er die Andorraner die Züge des "Judas" erkennen läßt.

Die Folge der zwölf Bilder läßt sich in zwei Sequenzen aufteilen:
Im Verlaufe der ersten sechs Bilder versucht Andri, seine Lebensgeschichte zu verwirklichen. Eine Lebensgrundlage (Tischlerlehre) schaffen und eine Familie gründen (Heirat mit Barblin). Die Vorstellung von dieser Zukunft, die sich in nichts von dem unterscheidet, was man gemeinhin als normal bezeichnet, versetzt Andri in höchste Glücksempfindungen. Dieses Glück verhindern die Andorraner, auch sein Vater. Die ersten sechs Bilder demonstrieren diesen Vorgang. Sie zeigen, wie der Jude Andri mit den Vorurteilen konfrontiert wird, wie die Andorraner ihm begegnen. Dabei fällt das 5. Bild sicher heraus, denn hier deutet der Lehrer konkret an, was man schon weiß: Andri ist sein Sohn.

Die Begegnungen zwischen Andri und den Andorranern bestimmen die Andorraner mit ebenso subtiler wie offener Gewalt. Sie mißbrauchen ihre Machtposition schamlos, denn die meisten haben ein persönliches Interesse, daß diese Begegnung zu ihren Gunsten ausgeht:

Die Mauer, die die Andorraner so errichten, wird für Andri mehr und mehr unüberwindbar. Diese Begegnungen führen dazu, daß Andri sich beobachtet fühlt und argwöhnisch darüber reflektiert, inwiefern die ihm nachgesagten Eigenschaften und Verhaltensweisen zutreffen.

Die Bilder acht bis zwölf zeigen Andris Reaktion und schließlich sein Ende im zwölften Bild. Die Reaktion ist gegen die Andorraner, gegen Can und Barblin, doch im Grunde gegen sich gerichtet, und sie wird getragen vom Haß gegen seine Umwelt; gegen Can und gegen sich. Nur so ist seine Provokation im 8. Bild verständlich, auch seine Weigerung, die Annahme der neuen Identität wieder zurückzunehmen oder sein Heil in der Flucht zu suchen. Äußerer Anlaß dieser Reaktion ist die Weigerung Cans, ihm Barblin zur Frau zu geben (4. Bild) und dann vor allem die Szene vor Barblins Kammer im 6. Bild, als der Soldat aus der Türe tritt. Die Wende dieser Entwicklung von der Selbstbeobachtung und Auflehnung gegen das für ihn bereitgestellte Bild des Juden zur Übernahme der ihm aufgezwungenen Identität vollzieht sich im Verlaufe des 7. Bildes: "Ich versteh schon, daß mich niemand mag. Ich mag mich selbst nicht, wenn ich an mich selbst denke" (S. 61).

Das 9. Bild bringt ein retardierendes Moment, die Begegnung Andris mit der Senora, der Schwarzen aus dem Nachbarland, seiner Mutter, die ihm schließlich einen wertvollen Ring schenkt. Es scheint, daß die Mutter die sich anbahnende Katastrophe noch aufhalten könnte. Darauf deutet auch Andris euphorische Stimmung zu Beginn des zweiten Gesprächs mit dem Pater hin. Letztlich bewirkt das Auftauchen der leiblichen Mutter das Gegenteil: Im "Hort der Freiheit und der Menschenrechte", wo man auf das "Gastrecht pocht", auch bei unangenehmen Ausländern, wird der Gast mit einem Stein erschlagen. Vielleicht war das auslösende Moment zu dieser Tat die Bereitschaft der Senora, in aller Öffentlichkeit für den Schwächeren, den Juden einzutreten, sie, eine Schwarze von drüben, denen man in Andorra Greueltaten gegenüber Juden nachsagt.

"Er trug sein Anderssein sogar mit einer Art von Trotz, von Stolz und lauernder Feindschaft dahinter" (Tagebuch 1946 - 1949, S. 29). Dies zeigt sich auch in Andri, als ihm der Pater seine wahre Identität vermitteln möchte: "Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, euren Juden anzunehmen" (S. 86). Sehen wir ihn im 7. Bild nach und nach stumm werden, so ist es jetzt der Pater, der verstummt, während Andri redet. Aber Andri nimmt nicht nur sein ihm aufgezwungenes Anderssein an, er nimmt auch sein Schicksal, seine Hoffnungslosigkeit, sein Ende an: "Meine Trauer erhebt mich über euch alle, und so werde ich stürzen. Meine Augen sind groß von Schwermut, mein Blut weiß alles, und ich möchte tot sein. Aber mir graut vor dem Sterben. Es gibt keine Gnade -" (S. 87). Hören wir ihn im ersten Bild im Hochgefühl seiner sich ihm abzeichnenden Zukunftsperspektive sagen: "Die Sonne scheint grün in den Bäumen heut", so muß er jetzt resigniert feststellen, daß diese Hoffnung für ihn ein bedeutungsloses Bild geworden ist: "Gnade ist ein ewiges Gerücht, die Sonne scheint grün in den Bäumen, auch wenn sie mich holen" (S. 88).

Was nun folgt, ist nur noch die Konsequenz dessen, was sich schon angebahnt hat. Der Mord an der Senora, der die Schwarzen auf den Plan ruft, ist Auslöser von jenem Ende, das sich Andri prophezeit, das aber gleichermaßen die Andorraner zu Verdammten stempelt. Angesichts des schreienden Unrechts seines Endes haben sich nichts anderes im Sinn, als ihre Vorurteile weiterhin auszuspielen, "Judengeld", um ihre erbärmliche Haut zu retten.

Andris Tragik ist in dem Umstand zu sehen, daß er bei der Suche nach seinem Ich eine Identität annimmt, annehmen muß, die seine Isolation festigt, die um so hassenswerter wird, je mehr er sie anzunehmen bereit ist.

Das strukturale Grundelement dieses Stückes ist also diese oben analysierte Begegnung zwischen den Andorranern und dem angeblichen Juden Andri. Eine Begegnung, die auf der Seite der Andorraner zunächst einmal durch ihre Geisteshaltung, durch ihr Sagen und Denken, auch durch ihre Verneinung gekennzeichnet ist. Letztlich wird die Begegnung auch bestimmt durch Formen subtiler Gewalt, durch verschiedenste Formen von Gewaltanwendung, vom Ausspielen vorhandener Machtstrukturen bis hin zur Anwendung roher Gewalt. Diese von den Andorranern bestimmte Begegnung hat Andris Reaktion zur Folge, die eine Korrektur des Bildnisses nicht mehr möglich macht. "Ich wollte ja nachher mit ihm reden, aber da war er schon so, daß man halt nicht mehr reden konnte mit ihm" (S. 36), sagt der Tischlergeselle vor der Zeugenschranke und verdeutlicht damit den schon im Zusammenhang mit dem Pater hervorgehobenen Sachverhalt. Die tragische Konsequenz desselben kulminiert im 9. Bild, läßt aber gleichzeitig erkennen, wie hoffnungslos und weitreichend die Schuldverstrickung der Andorraner gediehen ist: "Und alle, alle, nicht nur mich. Sehen Sie die Soldaten. Lauter Verdammte. Sehen Sie sich selbst. (...) Sie werden beten. Für mich und für sich. Ihr Gebet hilft nicht einmal Ihnen, Sie werden trotzdem ein Verräter" (S. 88).

So zeigen sich Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede zwischen der Vorlage aus dem Tagebuch und dem Bühnenstück. Die Andorraner des Modells sind die tatsächlichen Akteure. Andris Aktion ist Reaktion im eigentlichen Sinne des Wortes. Was bleibt ihm auch anderes zu tun? Das strukturale Grundmerkmal der schicksalhaften Begegnung ist geprägt von dieser Aktion und Reaktion, wobei bezeichnenderweise die Aktionen der Andorraner nach dem Mord und der Machtübernahme durch die Schwarzen kaum noch auszumachen sind. Das Handeln, die Handlung erhält nach deren Auftauchen eine mechanische Eigendynamik, welche Eingriffe von außen nicht mehr zulassen.


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"Du sollst dir kein Bildnis machen"

Es kommt nicht von ungefähr, daß sich Max Frisch 1948 in seinem Tagebuch eine Inhaltsnotiz zu einer Szene von Dürrenmatts "Der Blinde" macht, in der ein Blinder die Zerstörung seines Herzogtums nicht wahrgenommen hat und deshalb glaubt, er lebe immer noch in seiner Burg. In Wirklichkeit sitzt er inmitten von Ruinen, umgeben von üblem Volk - Söldner, Räuber, Zuhälter und Dirnen, welche mit ihm ihren Spaß treiben und sich von ihm empfangen lassen als Herzöge, Feldherren oder Äbtissinen. Die Vorstellungen, welche die Menschen von sich oder ihrer Umwelt haben oder sich machen, durchzieht thematisch Frischs Werk wie ein roter Faden. Diese Thematik ist eng mit Frischs Vorstellungen von der Wirklichkeit, wie sie der Mensch erlebt und deutet, verknüpft:

Genauer betrachtet, bedeutet diese These nichts anderes, als daß unsere - oder zumindest Frischs - Erfahrungen und Erlebnisse erst die Vorfälle bewirkn, aus denen sie zu folgen scheinen. Oder anders ausgedrückt: Das, was wir für die Wirklichkeit halten, kann erst zur Wirklichkeit, zur Wahrheit werden, wenn sie unseren Vorstellungen von ihr standhält. Hier und genau hier liegt die Problematik der Andorraner, von Andri, von Andorra begründet:
Die Andorraner ziehen ihre Folgerungen aus Andris Sosein nicht aus ihren Erlebnissen und ihrer Begegnung mit Andri. Ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit bestimmen diese Begegnung. Nicht anderes ist das Verhalten des Tischlers im 3. Bild beispielsweise zu erklären. Verhielte es sich anders, müßte er sich irgendwann von Andris Beteuerungen oder gar Beweisen überzeugen lassen, denn der Geselle hat mit keinem Wort gesagt, daß er den aus dem Leim gegangenen Stuhl nicht gemacht habe.

Auch der Stückeschreiber eines technischen Zeitalters, wie sich Bertolt Brecht bezeichnet, der seinen Galilei an die Macht und die Verführbarkeit der Beweise glauben läßt, stellt in seinem gleichnamigen Stück eine Welt dar, in der nicht ist, was nicht sein darf, was letztlich seine Titelfigur zum Scheitern zwingt. Wenn Dürrenmatt seine Werke als das Produkt "erdachter Geschichten" bezeichnet - als Gegenwelten zur wirklichen Welt, erdacht, weil er im Gegensatz zu Frisch nichts erlebt habe -, so sind Frischs Werke als Produkt seiner Erlebnisse Metaphern der wirklichen Welt. Belegen läßt sich dies mit seine Äußerungen im Interview mit Horst Bienek (Werktstattgespräche):

Im Falle Andorras ist das eine dramatische Metapher, welche durch Erlebnisse nicht nur gedeutet, sondern auch neu gedichtet worden ist, von der Wirklichkeit abgehoben, in die sie dann als neugeformte Realität zurückfällt. In Frischs Roman "Stiller", "die Geschichte eines Menschen (...), der seiner Existenz entfliehen will" (Horst Bienek, Werkstattgespräche mit Schriftstellern) sagt der jugen Jesuit im Sanatorium von Davos zu Julika:

Deutet man diese Stelle im Hinblick auf das eingangs erwähnte Tagebuch-Zitat, so folgert daraus, daß die Wirklichkeit eines Menschen gar nicht gesehen werden kann. Die Einschränkung des Jesuiten bzw. von Julika findet sich sowohl in Frischs Vorlage zu Andorra im Tagebuch: "Ausgenommen, wenn wir lieben", als auch in dem Essay auf S. 26 des Tagebuchs "Du sollst dir kein Bildnis machen". Die Wirklichkeit kann nicht gesehen werden, weil ein Widerspruch besteht zwischen der möglichen wahren und der tatsächlich gelebten Existenz des Menschen. Das Problem liegt vor allem in der Veränderung der menschlichen Natur, einer sicher schrittweisen Veränderung, deren Ergebnis wir allenfalls wahrzunehmen bereit sind, aber nicht die Veränderung selbst, den Prozeß.

Andorra ist die tragische Metapher dieser Grunderfahrung Max Frischs. Sie führt dem immer mehr und mehr betroffenen Zuschauer vor, welches Bild sich das Individuum von sich selber macht, dann welches Bild es sich von seinen Mitmenschen, von seinem Vaterland, von den Nachbarn macht und schließlich, wie das Bild des einzelnen von seinen Zeitgenossen geprägt ist und wird. Die Wirklichkeit, die Wahrheit wird dabei eher zufällig getroffen.


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