"Märchenthron"
(Heidelberg 1940, Fichtenholz, weiß, rostrot und Gold gestrichen)
von Igor von Jakimow (Polotjobnoje/Russland 17. 3.1885 - Heidelberg
25. 3.1962)
Der
von Igor Jakimow als Weihnachtsgeschenk für seine Tochter Tatjana
im Kriegsjahr 1940 aus zweckentfremdeten Möbelteilen gebaute Kinderstuhl
hat einen konstruktivistischen Aufbau aus Vierkanthölzern mit
teilweise goldgestrichenen Profilleisten und Planken. Sein quadratischer
Sitz wird thronartig überhöht von einer hohen Rückenlehne, in
die ein rechteckiges Bildfeld mit der naiven Darstellung eines
Häuschens eingepasst ist: Auf seine Eingangstür läuft in kindlicher
Perspektive ein Weg durch einen mit Blumen besetzten Vorgarten;
die gesichtsähnliche Vorderfront mit roten Fensterläden und spitzgiebligem
Dach wird von einem himmelhoch aufragenden Tannenbaum überragt.
Lehne und Sitzzarge des „Märchenthrones“ tragen auf der Rückseite
ein silbergraues geometrisches Rechteckmuster und die Beschriftungen:
„Heidelberg. Baden“ und „Tatjana von Papa 19 25/XII 40“.
Jakimow wuchs auf dem väterlichen Gut in Russland auf, studierte
seit 1906 an der Akademie Colarossi in Paris, dann bei Hollósy
in München. Nach Studienaufenthalten in London, Russland und Italien
kehrte er nach Paris zurück, wo er bei Matisse und Bourdelle arbeitete.
1914/18 hielt er sich in Russland auf, anschließend in Berlin.
Von 1931 bis zu seinem Tod 1962 lebte der Exilrusse in Heidelberg.
Als Maler und Graphiker widmete er sich den Sujets Landschaft,
Genre und Bildnis. Als Bildhauer schuf er Porträtbüsten und Genregruppen
in Terrakotta, Bronze, Holz und Fayence. Als Restaurator führte
er die ersten Zusammensetzungen, Abformungen und Vervollständigungen
des Baudekors vom berühmten Westpalast des Tell Halaf in Nordsyrien
durch. Auch mit der kindlichen Sphäre war Jakimow künstlerisch
vertraut. So schuf er als Schwiegersohn der Puppenkünstlerin Käthe
Kruse mit Porträtbüsten Vorlagen für Puppenköpfe, z.B. den Kopf
ihres Sohnes Friedebald als Modell für das sog. „Deutsche Kind“
und den Kopf des „Hampelchen“.
Spielzeug hatte in früheren Zeiten als Nachbildung der Erwachsenenwelt
vornehmlich die pädagogische Funktion, Kinder geschlechtsspezifisch
auf das spätere Leben vorzubereiten. Seit der Biedermeierzeit,
als Kinder von kleinen Erwachsenen zur eigenständigen sozialen
Gruppe avancierten, nahm die Produktion von Spielzeug zu und es
entstanden eigene Spielwelten in Kinderzimmern mit spezifisch
auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmten Möbeln. Sie waren
zunächst nur der Oberschicht vorbehalten. So schuf 1902 Joseph
Maria Olbrich ein Prinzessinnenhaus für Elisabeth von Hessen im
Park von Schloss Wolfsgarten bei Langen, bei dem die Inneneinrichtung
auf die Größe der 11jährigen abgestimmt wurde.
Als
zu Beginn des 20. Jahrhunderts Künstler wie Matisse, bei dem Jakimow
studierte, oder Picasso, Klee und Dubuffet forderten, die Welt
mit den Augen von Kindern zu sehen, um aus diesem Perspektivwechsel
die eigene Kreativität zu erweitern, entdeckte man zugleich die
kindliche Kreativität selbst, würdigte beispielsweise erstmalig
Kinderzeichnungen. Im Zusammenhang der Lebensreformbewegung kam
der Wunsch auf, Spielzeug und Möbel von namhaften Künstlern gestalten
zu lassen. Dabei schufen im Rückgriff auf alte Handwerks-traditionen
Vertreter der Wiener Secession oft „Märchenhaftes“ für Kinder.
Im Interesse einer modernen künstlerischen Gestaltung aller Lebensbereiche
versuchten Mitglieder des Bauhauses, Kunst und Handwerk im Sinne
von industrienahem gutem Design zu verbinden. In Serie gingen
schlichte geometrische und multifunktionale Kindermöbel in reinen
Farben beispielsweise von Alma Siedhoff-Buscher, Ludwig Hirschfeld-Mack
oder Marcel Breuer. In der Künstlergruppe „De Stijl“, die enge
Verbindungen zum Bauhaus unterhielt und stilistisch dem Konstruktivismus
nahe stand, wurden Gegenstände der Erwachsenenwelt häufig en miniature
nachgebildet, so Gerrit Rietvelds Kinderschubkarre oder Bollerwagen.
Für die eigenen sechs Kinder fertigte er 1919 Kinderhochstühle
an. 1931/32 entwarf der Architekt Alvar Aalto einen farbig lackierten
Kinderstuhl aus Birkenholz und Sperrholz, später entwickelte das
amerikanische Designerehepaar Charles und Ray Eames Möbel für
Kinder. Eine größere industrielle Fertigung setzte aus sozialpolitischen
Gründen erst nach dem zweiten Weltkrieg ein. Und nach dem Tode
Jakimows brachten die 1960-70er Jahre mit dem wachsenden Interesse
an Kinderpsychologie und den damit verbundenen Veränderungen und
Experimenten in der Kindererziehung Bewegung in die Gestaltung
von Kindermöbeln. Nun sollte das moderne, oft mitwachsende Kindermöbel
den natürlichen Bewegungsdrang der Kinder unterstützen und zu
Spiel und Kreativität anregen.
Arbeiten von Künstlern für Kinder, die häufig ein außergewöhnlich
hohes Maß an Phantasie, Originalität und Kreativität besitzen,
jedoch als wenig ernst zu nehmende Gelegenheitsarbeiten abgetan
und im Privatbesitz aufbewahrt werden, gelangen selten in den
Kunsthandel. Aus ihm konnte als Neuerwerbung Jakimows anrührender
„Märchenthron“ erworben werden.
Aus erkennbar persönlichen Motiven entstanden, vereinigt er in
sich die unterschiedlichen künstlerischen Intentionen aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: den konstruktivistischen Aufbau
der de Stijl-Gruppe, auch mit der weißen Farbigkeit die Ästhetik
des Bauhauses und mit dem Märchenhaften des Dekors Intentionen
der Wiener Secession.
Annette Frese
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