Die Aufgabe zahlreicher, zuvor 200 Jahre und länger besiedelter
Wohnplätze zu Beginn des 5. vorchristlichen Jahrtausends markiert
das Ende des Altneolithikums. Es bilden sich nun neue Kulturen,
die in direkter Fortsetzung altneolithischer Traditionen stehen,
doch in Siedlungsraum, Hausbau, Keramik und Bestattungssitten
ganz neue Wege gehen. Nach der Hinkelstein- und der Großgartacher
Kultur ist die Rössener Kultur die jüngste dieser mittelneolithischen
Kulturen und datiert 4600 - 4400 v. Chr.. Benannt nach dem Gräberfeld
von Rossen (heute Leuna-Rössen) im Kreis Merseburg-Querfurt (Sachsen-Anhalt)
charakterisiert sie einen wichtigen Kulturkomplex, der das Jüngere
Mittelneolithikum Südwestdeutschlands, des Elsaß, Westdeutschlands
und des südlichen Mitteldeutschlands prägt. Mitte des 5. Jahrtausends
v. Chr. erlischt die Rössener Kultur in weniger als einem Jahrhundert.
Damit enden die alten, das bisherige Neolithikum kennzeichnenden
Kulturtraditionen. Die Auflösung ist durch das Entstehen zahlreicher
kleinräumig verbreiteter Kulturgruppen gekennzeichnet, die den
Beginn einer neuen vorgeschichtlichen Epoche, des Jungneolithikums,
markieren. Keine weitere Epoche der Jungsteinzeit zeichnet sich
durch derart vielfältige und abwechslungsreiche Keramikdekors
aus. Auf den stilistisch-typologischen Eigenarten der Zierweisen
und Gefäßformen basiert denn auch die innere Gliederung des Mittelneolithikums,
umso mehr, als nur wenige Siedlungen und kleine Gräberfelder aus
Südwestdeutschland bekannt sind. Da die Töpferscheibe noch unbekannt
war, wurden die Gefäße aus einem gemagerten Tonklumpen oder durch
Aufbau mehrerer Tonwülste mit den Händen frei geformt. Der Brand
erfolgte als offener Feldbrand, wobei über den Gefäßen mit aufgeschichtetem
Stroh oder Holz eine Art Meiler gebaut wurde. Durch die wechselnde
Luftzufuhr erhielten die Gefäße eine unterschiedliche Färbung,
die von hellgelb bis schwarz reichen kann. Die Gefäße sind charakterisiert
durch teppichartige, oft die gesamte Oberfläche bedeckende Einstichverzierungen.
Markant ist die Gefäßdekoration mit Doppelstichen ("Geißfußstich"),
die mit weißer Paste ausgelegt waren (Inkrustationen), furchenartigen
Einstichen und Stempeleindrücken. Typische Gefäßformen sind hohe
Schüsseln mit Standfuß, Kugelbecher, Zipfelschalen und Schiffchengefäße.
Die Oberfläche der Gefäße ist meistens braun, rotbraun, dunkelbraun
oder grauschwarz und geglättet. Im Januar des Jahres 1902 konnte
Karl Pfaff, Professor am damaligen Großen Gymnasium der Stadt
Heidelberg, bei der Anlage des Neuen Friedhofes zwei Gruben der
Rössener Kultur ausgraben, von denen die größere als "Pfaff's
Große Grube" weit über die Region hinaus zu Berühmtheit gelangte.
Die Fundstelle liegt in Neuenheim, wo während der gesamten Jungsteinzeit
die Menschen die fruchtbaren Löß- und Schwarzerdeböden des Neckarmündungsgebietes
als Ackerflächen nutzten. Auf dem Gelände des damaligen Neuen
Friedhofes befindet sich heute der Heidelberger Zoo und auf der
Fundstelle der Pfaff'schen Grube steht nun die Zookasse. Die "Große
Grube" hatte einen Durchmesser von 12x14 Meter und war noch 3,8
Meter tief. Angelegt wurde sie ursprünglich als Lehmentnahmegrube.
Der Lehm diente beim Bau mehrerer der charakteristischen Langhäuser
zum Verfugen der Wände und zur Anlage der Fußböden. Später wurde
die Grube als zentrale Mülldeponie des Dorfes genutzt. Es fanden
sich hier die Reste von über 900 Gefäßen, zahlreiche Tierknochen,
Gerätschaften aus Bein und Geweih, Feuersteine und Muschelschalen.
Der überdurchschnittlich hohe Anteil an verzierten und unverzierten
Scherben veranlasste den Ausgräber, den Fundkomplex fälschlicherweise
als Magazin eines neolithischen Töpfers anzusehen. Die jeweilige
gemeinschaftliche Nutzung der Grube ist ein Indiz für die entwickelte
Sozialstruktur der Dorfbewohner. Das starke Überwiegen der Haustierknochen
in der Grube verdeutlicht eindrucksvoll die Sess-haftigkeit der
Menschen. Die Jagd, über mehrere 100 000 Jahre die Haupttätigkeit
und Ernährungsgrundlage der Menschen, spielte für sie nur noch
eine untergeordnete Rolle. Sowohl die verzierte als auch die unverzierte
Keramik der "Großen Grube" zeichnet sich -typisch für die "Rössener
Kultur"- durch eine außerordentlich gute Tonbehandlung aus. Der
Ton ist durchweg, auch bei der gröberen, unverzierten Ware, feinsandig
gemagert und gut gebrannt. Die Oberfläche ist geglättet und erscheint
häufig leicht glänzend. Die Farbe der verzierten Gefäße ist dunkelgraubraun,
z.T. mittelbraun gefleckt. Die unverzierten Gefäße sind meistens
etwas heller, manchmal sogar rötlichbraun. Die Scherben von etwa
700 verzierten Gefäßen, von denen 55 Exemplare ergänzt werden
konnten, vermitteln einen umfassenden Eindruck von Gefäßformen,
Zierelementen und der Vielfalt der Verzierungsmotive der Rössener
Kultur im Unteren Neckarland. Verziert wurden besonders Kugelbecher
und -topfe. Die Dekore setzten sich aus einer Vielfalt von verschieden
kombinierten Ritz- oder Fur-chenstichlinien, vertikalen Zickzackverzierungen,
Gittermustern oder Winkelbändern, hängenden Winkeln, Dreiecken
oder Bögen, Reihen von Doppel- oder Einfacheinstichen und von
Me-topen, bestehend aus Gruppen von Ritz- oder Furchenstichlinien,
zusammen. Einmalig dagegen ist das "Sonnenmotiv", gebildet aus
einzelnen langen Einstichen.
Renate Ludwig
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