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Die Münster-Monster

Groteske Gestalten am "schönsten Turm der Christenheit":

Von Christoph Renzikowski

Sie spucken auf Kirchgänger, strecken ihnen die Zunge raus, entblößen ihr Hinterteil - und niemand schreitet ein, nicht einmal der Erzbischof. Im Gegenteil: Der spendiert auch noch Kirchensteuern dafür, daß sie es weiter tun, wie schon die letzten 600 Jahre: Wasserspeier gibt es an vielen gotischen Gotteshäusern. Doch die Bedeutung der oft frivolen Figuren ist bis heute kaum erforscht. Eine Freiburger Kunsthistorikerin bemüht sich, eines der letzten Geheimnisse in der Geschichte der Kirchenarchitektur zu lüften. Für die Wissenschaft war das Thema lange Zeit zu "brisant", berichtet Heike Köster. Und zwar deshalb, weil "die Figuren so häßlich sind, daß sie eigentlich mit der Würde des Gebäudes nicht in Einklang gebracht werden können", vermutet die Mitarbeiterin der Münsterbauhütte. In der Tat präsentiert sich rund um das Gemäuer, das als "schönster Turm der Christenheit" gilt, ein wahres Gruselkabinett: Bizarre Bestien, Phantasiewesen mit Flügeln, Hundekopf und schuppenbewehrtem Schwanz; Mixturen aus Mensch und Tier mit weit aufgerissenen Mäulern, Löchern in den Zähnen und völlig verdrehten Körpern, sogar ein Totengerippe starrt mit hervorquellenden Augen auf den Münsterplatz herab.
 

Gotische Geisterbahn

Löwen und drachenartige Darstellungen zieren zahlreiche Kathedralen in Frankreich, etwa in Straßburg, Reims und Amiens; sie finden sich aber auch am Kölner und Regensburger Dom oder dem Ulmer Münster. Nirgendwo sonst jedoch ist die Vielfalt der Formen so groß wie in Freiburg, zählen die Wasserspeier zu den kunstvollsten Skulpturen des ganzen Baus: In einer dramatischen Jagdszene setzt auf schmalem Sims ein Hirsch über den in sein Horn stoßenden Jäger hinweg; in wilder Hatz haben sich zwei Hunde in die Ohren des Hirsches verbissen. Ein "Akrobat" balanciert waghalsig auf einem Bein, das andere hinter seinem Kopf auf den Schultem aufliegend. Eine völlig nackte Frau stemmt sich mit durchgedrückten Beinen an den Strebepfeiler und hält sich zugleich mit den Händen an spätgotischem Astwerk. Ihr lockenumrahmtes, "von tiefen Stirnrunzeln und Falten durchfurchtes Gesicht ist das eines Menschen von schwerem Stuhlgang", so eine Beschreibung aus dem Jahr 1910. Die Gestalten erfüllen zunächst eine ganz praktische Funktion: Bei Regen leiten sie das Wasser, das sich in vielen blei- und kupferausgeschlagenen Rinnen sammelt und über ihren Rücken zum Mund oder Maul geführt wird, vom Gebäude ab. Das Gemäuer wird dadurch vor Verwitterungsschäden bewahrt. Je weiter sie hervorspringen, desto besser erfüllen sie ihre Funktion. Rätselhaft bleibt, warum die Wasserspeier ausgerechnet in der Gotik ihre Blütezeit erlebten und sowohl vor dem 13. Jahrhundert als auch nach dem 16. Jahrhundert als kunstvolle Elemente der Kirchenarchitektur keine Rolle spielten.
 

Schelmische Steinmetze

Wie es zu den schönen Scheusalen kam, dafür gibt es bis heute keine allgemeingültige Erklärung. Die einfachste lautet: Hoch oben, wo sowieso niemand genau hinschaut, konnten sich die Bildhauer nach Lust und Laune austoben, erzählt Heike Köster. Der "mittelalterliche Humor" habe sich auf dem Kirchendach eingenistet und "mehr oder weniger geschmackvolle Steinmetzscherze" hervorgebracht, schrieb der Freiburger Kunsthistoriker Fritz Baumgarten vor fast 90 Jahren. Nach einer sorgfältigen Analyse der "buntgemischten Gesellschaft" erschien ihm jegliche zusammenhängende Interpretation, jede lehrhafte oder symbolische Deutung ausgeschlossen. Der pensionierte Domkapitular Willi Vomstein sieht das anders. Für ihn symbolisieren die fiesen Fratzen die "aus der Kirche verbannten Dämonen". Über ihnen thronen die Apostel - ein Zeichen für den Sieg des Evangeliums über das Böse in der Welt. Zu Stein geworden, müssen die Dämonen der Kirche dienen und andere böse Geister vom Gotteshaus abwehren - die Vorstellung, man könne den Teufel durch ihm ähnlich sehende Fratzen bannen, ist in vielen Kulturen verbreitet. Was andere abstieß, fand Vomsteins Interesse. In den letzten 50 Jahren hat der heute 84jährige Hobby-Fotograf 3.000 Aufnahmen vom Freiburger Münster gemacht; darunter mehrere Reihen über die Wasserspeier. Eine dritte Interpretation schreibt den häßlichen Horrorwesen eine belehrende Absicht zu. Den Gläubigen sollte so die Sündhaftigkeit des Menschen vor Augen geführt werden. Manche der Figuren scheinen Laster zu verkörpern. So könnte der schreiende Mönch, der sich in die Haare eines anderen Mannes krallt, den Zorn verkörpern. Bei den höchsten Turmwasserspeiern ist es sogar gelungen, sie als die sieben Todsünden zu identifizieren. Kurioserweise wurde 1921, als diese Deutung noch nicht bekannt war, für eine fehlende Figur eine Abbildung des Münsterbaumeisters Friedrich Kempf zu dessen ehrendem Gedenken angebracht. In welche Nachbarschaft er da geriet, wurde erst später entschlüsselt. Baumgarten vermutete hinter der äußerst fein gestalteten nackten Schönen nebenan noch eine "Wasserfrau" oder eine "verzauberte Märchenprinzeß". Tatsächlich personifiziert sie die Unkeuschheit.
 

Blecker und Bischof

Um mehrere Freiburger Wasserspeier ranken sich Anekdoten. Eines der beliebtesten Fotomotive am Münster ist der doppelköpfige "Blecker", der das Wasser aus seinem weit herausgereckten nackten Hintern auf den Münsterplatz speit. Freche Zungen stellten später einen Zusammenhang zum gegenüberliegenden Palais her, in dem ab 1827 der von Konstanz nach Freiburg umgezogene Erzbischof residierte. Das Zeigen des "zweiten Gesichts" ist aus mittelalterlichen Darstellungen als Abwehrgeste gegen den Teufel bekannt.

Die Darstellung einer Nonne, die mit der linken Hand in ihre Mundhöhle deutet, hat zu einer Legende inspiriert: In Luthers Tagen habe die Nachricht die Runde gemacht, daß allen Nonnen mit echten Zähnen das Heiraten gestattet sei. Daraufhin sei die Älteste und Häßlichste hervorgetreten und habe, so ein badisches Gedicht, die ungläubigen Schwestern mit folgenden Worten belehrt:

"Gar irre seid ihr, wenn ihr glaubt, ich sei der Zähne ganz beraubt; noch hab' ich einen Stumpen hier, heiraten will ich, wie auch ihr! Die Schwestem riefen lachend dann: Heil deinem künftigen Ehemann! - Am Münsterchor, in Stein gehau`n, ist dort zum Spott ihr Bild zu schau`n. Von einem Fratzenkreis umringt, aus deren Rachen Wasser springt, steht sie, den Mund weit aufgethan und deutet auf den Rest von Zahn."
 

Der Münsternarr

Auch die Freiburger Fasnet wurde durch die Wasserspeier bereichert. Auf der Südseite ragt unter einem Baldachin eine Gestalt mit schellenbesetztem Gewand und Eselsohrenkappe hervor. Seit gut 30 Jahren gehört der Freiburger "Urnarr" zum festen Ensemble der Fasnachtszünfte. Die modernen Narren, die ihren Zeitgenossen kritisch-humorvoll den Spiegel vorhalten, haben jedoch mit der ernst dreinblickenden Figur nur wenig gemein. Der Münsternarr ist kein Eulenspiegel, sondern ein Gottesleugner, der in seiner Verblendung die eigene Schuld nicht anerkennen will. Deshalb hat er seinen Platz in der Versammlung von Teufeln und Dämonen. In jüngster Zeit haben die Wasserspeier sogar eine internationale Filmkarriere angetreten. In dem Disney-Streifen "Der Glöckner von Notre Dame" wurden sie zum Leben erweckt. Als sympathische Monsterchen heitern sie mit ihren Späßen den buckligen Quasimodo in seiner Einsamkeit auf dem Kirchturm auf.

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