Freiburg (KNA-Korr.): Michael Rembeck muß schon handgreiflich
werden. wenn er sich von Kunstwerken ein Bild machen will; Rembeck ist
blind. "Berühren verboten", heißt es meistens in Kunsttempeln
und Kathedralen. Nicht so im Freiburger Münster. Auf einem am Dienstagabend
enthüllten Tast-Relief aus Bronze können sich Blinde erstmals
in Deutschland mit einem bedeutenden Bauwerk befassen, freut sich Rembeck
über eine Initiative des Lions-Clubs. Langsam streicht der Blinde
mit seinen Fingerkuppen vom Hahnenturm hinunter zur Renaissance-Vorhalle
und dann mit beiden Händen auseinander Richtung Westturm und Chor.
"Zuerst muß ich die Dimension des Ganzen erfassen", erklärt
er. Die Bronzetafel mißt 124 mal 60 Zentimeter; der Freiburger Bildhauer
Josef Dettlinger hat sie nach Plänen der Münsterbauhütte
originalgetreu in hundertfacher Verkleinerung angefertigt. Rechts neben
der Fassade hat er eine Mutter mit ihrem Kind an der Hand plaziert. Daran
können Blinde die Größe des Gebäudes ablesen. "Strecken
lassen sich wahnsinnig schlecht in Worten ausdrücken", erläutert
Rembeck die Hilfestellung.
Dann nimmt er die Details in Angriff: "Das reich verzierte Hauptportal kann man sehr schön ertasten, es wird links und rechts begrenzt von zwei großen Stützpfeilern mit Figuren, darüber schließt sich ein großes, dreigeteiltes gotisches Fenster an." Stück für Stück entsteht eine Vorstellung. Auf den "ersten Blick" können Blinde nichts erkennen; wie bei einem Puzzle müssen sie einzelne Eindrücke zusammensetzen. Die bis zu 14 Zentimeter herausgearbeiteten Strukturen des Reliefs ergeben "ein griffiges und viel klareres Bild, als ich es bisher hatte", sagt Rembeck. Auch der Bildhauer ist zufrieden. Eine Freiburgerin. die das Münster noch vor ihrer Erblindung anschauen konnte, habe auf dem Relief sogar einzelne Heiligenfiguren wiedererkannt, berichtet er. Mehr als zwei Jahre hat Dettlinger mit seinen Mitarbeitern fast täglich an dem Stück gesessen. Blindenbesuche in seiner Werkstatt waren dabei "sehr lehrreich", sagt er. So habe er gelernt, spitze Kanten zu vermelden und nicht zu viele Details abzubilden. um den Tastsinn nicht zu überfordern. Reliefs sind eine übliche Vermittlungshilfe für Sehbehinderte. Nur haben sie meist Kunstharzfolien "unter den Fingern", auf denen lediglich Grundrisse von Bauwerken oder Stadtpläne abgebildet sind, erzählt Rembeck. An ein besonderes Erlebnis erinnert sich der blinde Jurist heute noch: Bei einem Besuch der weltberühmten Uffizien in Florenz durfte er antike Plastiken anfassen - eine absolute Ausnahme für Museen. "Hautfett ist schädlich für Kunstwerke." Im Freiburger Münster ist der Abnutzungseffekt erwünscht - im Interesse der Sehenden. Durch stetes Betasten, so die Initiatoren, erhält die matte Bronze einen besonderen Glanz.
Christoph Renzikowski (KNA)
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