[Hoimar v. Ditfurth sagt, "daß zwischen beiden Disziplinen menschlichen
Denkens, die so lange ausschließlich im Widerspruch zueinander gesehen
worden sind, auch ein Verhältnis denkbar ist, das über bloße
Verträglichkeit noch weit hinausgeht, indem es sich als Verhältnis
gegenseitiger Bestätigung, ja sogar wechselseitiger Verstärkung
erweist" (S. 143). Dann heißt es weiter:]
Im Mittelpunkt aller Überlegungen, die sich aus dieser anderen Perspektive
anbieten, scheint mir heute die Möglichkeit zu stehen, die Evolution als
den Augenblick der Schöpfung zu begreifen. Das ist ganz wortwörtlich
gemeint. Ich halte es für sinnvoll, ernstlich darüber nachzudenken,
ob es sich bei dem Prozeß, der sich unseren unvollkommenen Gehirnen als
der so quälend langwierig sich hinziehende Prozeß der kosmischen
und biologischen Entwicklung präsentiert, in Wahrheit nicht um den Augenblick
der Schöpfung handeln konnte.
Ein Naturwissenschaftler sähe keinen Anlaß, gegen diese Möglichkeit
Einwände zu erheben. Denn "Zeit" ist, untrennbar mit dem Raum dieses
Universums verknüpft, für ihn zusammen mit Energie, Materie und
Naturgesetzen zugleich bei jenem etwa 13 Milliarden Jahre zurückliegenden
Ereignis entstanden, das man als "Urknall" zu bezeichnen sich angewöhnt hat.
"Zeit" ist für einen Naturwissenschaftler daher neben Energie,
materieerfüllter Räumlichkeit und bestimmten Naturkonstanten
(den Massen der Elementarteilchen, der Gravitationskonstante, der
Lichtgeschwindigkeit u. a.) eine Eigenschaft dieser Welt.
Sie ist in dem unsere naive Vorstellung auf so seltsame Weise
überschreitenden modernen naturwissenschaftlichen Weltbild also an
die Existenz dieser Welt gebunden und ohne sie nicht vorhanden. Sie ist keine
die Welt insgesamt umgreifende, sie gleichsam »von außen« bestimmende
oder enthaltende Kategorie.
......
Frühere Epochen haben die Geheimnisse von Schöpfung, Jenseits und
der eigenen, vergänglichen Existenz wie selbstverständlich mit der
Sprache und in den Bildern zu erfassen versucht, die ihnen vertraut waren als
die Ausdrucksformen ihrer Zeit und ihres Weltverständnisses. Steht uns das
gleiche Recht etwa nicht zu? Müssen wir nicht von ihm Gebrauch machen, wenn
wir nicht in eine Rolle geraten wollen, in der wir uns mehr und mehr nur noch darauf
beschränkt sähen, Interpretationen und Sinndeutungen früherer
Generationen, die uns immer ferner rücken, in der Art ehrfürchtiger
Museumswächter zu bewahren und auch dann noch weiterzugehen, wenn wir sie
schließlich gar nicht mehr verstehen?
Darum glaube ich, daß die Evolution identisch ist mit dem Augenblick
der Schöpfung. Daß kosmische und biologische Evolution die
Projektionen des Schöpfungsereignisses in unseren Gehirnen sind.
Daß die Entwicklungsgeschichte der unbelebten und der belebten Natur
die Form ist, in der wir "von innen" die Schöpfung miterleben, die
"von außen", aus transzendentaler Perspektive, in Wahrheit also, der Akt
eines Augenblicks ist.
Naturwissenschaftler werden dieser Deutung nicht widersprechen.
Mehr noch: Sie allein waren in der Lage, die Voraussetzungen zu schaffen,
die eine solche Deutung Oberhaupt erst ermöglichen. Die Theologen
sollten sich dafür interessieren. Denn wie von selbst bieten sich vor
dem Hintergrund dieses Entwurfs Antworten auf einige Fragen an, die im Rahmen
des bisherigen Verständnisses offengeblieben waren,
Dazu gehört, um damit zu beginnen, das alte Problem der Theodizee,
der "Rechtfertigung Gottes". Wie läßt es sich erklären,
wie kann, scharfer und von der Position des Gegners aus formuliert, Gott
dafür entschuldigt werden, daß er eine Welt geschaffen hat,
die von allem Anfang an erfüllt ist mit Leiden jeder nur denkbaren
Art - Schmerzen und Angst und Krankheit? Wie kommt das Böse in die
Welt, wenn diese Welt die Schöpfung Gottes ist? Seit den Tagen des
Hiob muß jeder gläubige Mensch mit der Frage fertig werden,
wie die Unvollkommenheit der Welt mit der Allmacht Gottes in Einklang
zu bringen ist.
Der Widerspruch verliert an Schärfe, sobald wir die Möglichkeit
bedenken, daß die Welt, die wir erleben, eine »Schöpfung in
nascendo« sein könnte. Nicht das fertige, von seiten Gottes
abgeschlossene und von ihm gleichsam entlassene Schöpfungsprodukt.
Daß die unleugbare Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit der Welt
also vielleicht damit zusammenhängt, daß sie einer noch nicht
vollendeten Schöpfung entspringt. Woraus der gläubige Mensch,
für den die Transzendenz, das »Jenseits«, eine Realität ist,
immerhin auch hier schon den Trost ziehen könnte, daß diese
Unvollkommenheit sich insofern als eine Illusion herausstellen wird,
als sie ein zeitlich begrenztes Phänomen und damit im Licht der
transzendentalen Wahrheit nicht real ist.
Wenn wir davon ausgehen, daß Evolution mit dem Schöpfungsakt
identisch ist, ergeben sich ferner neue Ansätze zu einer Erweiterung
des Verständnisses menschlicher Existenz. Wenn Evolution nichts
anderes ist als der uns faßbare Anblick einer sich vollziehenden
Schöpfung, dann können wir zu der Einsicht kommen, daß
uns offenbar die Ehre einer aktiven Beteiligung am Vollzug dieser
Schöpfung zuteil wird. Denn seit unser Geschlecht zum Bewußtsein
erwachte, sind wir in zunehmendem Maße für den Ablauf der Dinge
in dem uns zugänglichen Teil der Welt ursächlich mitverantwortlich.
Daraus aber lassen sich nun bestimmte ethische Grundsätze für
menschliches Verhalten ableiten, die alle bisherigen sittlichen Gebote
einschließen, sie in einigen wichtigen Punkten aber sogar noch
ergänzen (Merkmale einer Hypothese, die jeden Naturwissenschaftler,
die aber auch einen Theologen erfreuen könnten). Wenn menschliches
Handeln weltliche Abläufe zu beeinflussen vermag, die als Abläufe
im Rahmen einer sich vollendenden Schöpfung anzusehen sind, dann ist
dieses Handeln von vornherein einem unbefragbaren Wertmaßstab unterworfen:
Es muß sich in jedem Augenblick an der Frage messen lassen, ob es dem der
Vollendung der Welt zustrebenden Ablauf der Dinge im Wege steht oder zu ihm
beiträgt.
(Hoimar v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, dtv-Taschenbuch
10290, München 1986, 143-146)
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