Kapitel 34: Neurogenetik

34.4.3 Mechanorezeption

Im Gegensatz zur olfaktorischen Wahrnehmung und Photorezeption war die Aufklärung der molekularen Grundlage der Mechanorezeption fast ausschließlich das Verdienst formalgenetischer Denkansätze. Mechanorezeptoren befinden sich diffus über die Körperoberfläche verteilt und sind nur in spezialisierten Organen wie Gehör und Gleichgewichtsorgan höherer Tiere in größeren Dichten vorhanden. Es ist daher schwer, für cDNA-Genbanken oder proteinbiochemische Experimente ausreichende Mengen an Gewebe zu erhalten, im Gegensatz zu olfaktorischem Epithel oder Photorezeptoren, in denen Millionen von Rezeptorneuronen in hoher Dichte vorkommen.

Als Modell für die physiologische Grundlagen des Tastsinnes dienten die Haarzellen des Innenohrs, welche die schallwelleninduzierten Flüssigkeitsbewegungen durch die Auslenkung von cytoplasmatischen Zellfortsätzen (Stereocilien) wahrnehmen. Experimente führten zu der Hypothese, daß einzelne, ionenselektive Kanäle direkt mit der mechanischen Auslenkung der Stereocilien gekoppelt sind. Allerdings existieren nur einige hundert solcher Kanäle in jedem Neuron, wodurch sich eine molekulare Identifikation durch herkömmliche Techniken als nicht praktikabel erwies.

Eine Reihe von Mutanten von C.elegans zeigt eine reduzierte, bzw. fehlende Berührungsempfindlichkeit, daher waren sie Kandidaten für die genetische und molekulare Analyse des Tastsinns. Zellinien-Analysen zeigten, daß in C.elegans sechs sensorische Neurone für Tastempfindlichkeit verantwortlich sind. Diese Zellen senden zahlreiche Fortsätze zur Körperoberfläche des Wurms, wo sie unterhalb der Cuticula mit der extrazellulären Matrix, auch Mantel genannt, verankert sind. Die Tastzellen enthalten außergewöhnlich dicke Mikrotubuli, die aus 15 Protofilamenten bestehen und nicht aus nur 11, wie in anderen Zellen. Diese mechanischen Elemente stellen passive Widerlager für einen hypothetischen Mechanorezeptor dar; eine Vorstellung, die durch Befunde gestützt wird, daß das Cytoskelett der Sterocilien des Innenohrs durch Lärm zerstört und dadurch die Empfindlichkeit der Haarzellen herabgesetzt wird.

Außer den Genen, die für die Entwicklung der Tastzellen während der Embryogenese erforderlich sind, wurden weitere 12 Gene identifiziert, deren Mutagenese zur Störung der neuronalen Funktion dieser Zellen führt (mechanosensorisch-defekt (mec), Tab. 34-10). Die molekulare Analyse dieser Gene zeigt eindrucksvoll, daß praktisch alle mechanischen und rein sensorischen Funktionen dieser Zellen durch die Saturationsmutagenese identifiziert wurden.

Bei zwei der mec-Mutanten kommt es zu einer veränderten Struktur der Mikrotubuli mit weniger als 15 Protofilamenten. Diese Gene codieren für die jeweiligen a- und b-Tubulin-Isoformen, die speziell in den Fortsätzen der Tastzellen exprimiert werden. Das hypothetische Bindeglied zwischen der Membran und dem Tubulin-Cytoskelett wird in dem Produkt des mec-2-Gens vermutet, das über 75% Homologie mit Stomatin, einem weit verbreiteten integralen Membranprotein, aufweist. Der Carboxyterminus von Stomatin bindet nachweislich an Cytoskelett-Proteine, und die zelluläre Lokalisation von mec-2 hängt von der Integrität der Tastzellen-Mikrotubuli ab. Obwohl eine direkte physikalische Interaktion zwischen den beiden Elementen noch nachgewiesen werden muß, zeigen genetische Interaktionen, daß die beiden Elemente eine strukturelle Einheit bilden, die für die Funktion des Mechanorezeptors essentiell ist.

Demgegenüber liegt der Verdacht sehr nahe, daß die Genprodukte von mec-4 und mec-10 Untereinheiten des eigentlichen Sensors sind. Die Produkte der beiden Transkriptionseinheiten sind einander homolog und werden aufgrund der Sequenzähnlichkeit zur Überfamilie der Amilorid bindenden epithelialen Natriumkanäle gezählt. Die Proteine werden auch Degenerine genannt, weil dominante "gain-of-function"-Mutationen zu einem Anschwellen der Zellen und anschließendem Zelltod führen. Epitheliale Natriumkanäle besitzen zwei Transmembrandomänen und ihr Öffnungszustand ist nicht spannungsabhängig, sondern wird von Peptidhormonen, Steroiden und unter Umständen auch osmotischen Stimuli reguliert. Ein dominantes mec-10-Allel wird vollständig von einem rezessiven mec-4-Allel unterdrückt (Suppressormutation), was eine physikalische Interaktion der beiden Genprodukte impliziert. Bestimmte Allele eines dritten Locus, mec-6, sind in der Lage, sowohl Mutationen in mec-4 als auch in mec-10 zu unterdrücken. Es liegt nahe, diesem Gen in Analogie zum epithelialen Natriumkanal die Funktion der dritten Untereinheit des Sensors zuzuschreiben. Im Gegensatz zu mec-4 und mec-10 ist mec-6 allerdings nicht spezifisch für Tastzellen. So erstaunt es auch nicht, daß die erwähnten Suppressormutationen auch Degeneration durch andere Gene unterdrücken können, zum Beispiel deg-1, welches sich durch seine Sequenz ebenfalls als Verwandter der epithelialen Natriumkanäle auszeichnet.

Degenerine unterscheiden sich von ihren Verwandten durch eine große extrazelluläre inhibitorische Domäne, der man die Funktion des eigentlichen mechanischen Sensors beimißt. Um eine mechanische Auslenkung oder Scherkraft auf molekularer Ebene herbeizuführen, muß sich der Sensor natürlich an einem membrangebundenen Widerlager oder der extrazellulären Matrix vorbeibewegen. So ist es nicht verwunderlich, daß eine Reihe von strukturellen Proteinen des Mantels unter den Tastempfindlichkeits-Mutanten vertreten sind. Die Funktion der extrazellulären mec-1-, mec-5- und mec-9-Produkte sind noch nicht bis ins Detail geklärt. Das mec-5-Genprodukt ist ein naher Kollagen-Verwandter mit ungewöhnlicher N- und C-terminaler Struktur. Die zahlreichen Allele des Gens erwiesen sich als defekt in der Bildung der kollagentypischen Dreifach-Helix oder zeigten einen temperaturempfindlichen Phänotyp, der auf die thermodynamische Labilität des gebildeten Moleküls zurückzuführen ist. Mec-9 hat mehrere Motive, die allgemein als EGF-repeats bezeichnet werden (epidermaler Wachstumsfaktor), sowie eine Domäne mit Sequenzhomologie zu Serinprotease-Inhibitoren des Kunitz-Typs. Diese Motive werden auch in dem Molekül Agrin gefunden, welches an der Clusterbildung von Acetylcholinrezeptoren in der Nerv-Muskelsynapse beteiligt ist. Es wird daher angenommen, daß Mec-9 mit dem eigentlichen Mechanosensor Degenerin gekoppelt ist.

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