Kapitel 34: Neurogenetik

34.5.4.2 Mutationen führen zu einer Veränderung der Periodizität von definierten Verhaltensweisen

Drosophila melanogaster wird "Taufliege" genannt, weil die Imagines mit Vorliebe in den frühen Morgenstunden schlüpfen. Dieses Verhalten ist arterhaltend, weil die noch nicht gehärtete Cuticula in den heißen Mittagsstunden zum Tod durch Austrocknen führen würde. Werden Drosophila-Populationen unter konstanten äußeren Bedingungen gehalten, schlüpfen die Individuen aus ihren Puppenhüllen dennoch in synchronen Schüben etwa alle 24 h (Abb. 34-65).

In einem großangelegten Versuch, die komplexeren Funktionen des Nervensystems genetisch zu analysieren, isolierten Seymor Benzer und Mitarbeiter am California Institute of Technology in den frühen siebziger Jahren eine große Zahl von Drosophila-Mutanten mit Verhaltensdefekten. Darunter befanden sich mehrere Allele eines Gens, dessen Mutagenese zu verzögerter Schlüpfrate von Fliegen aus dem Puppengehäuse sowie zu veränderter lokomotorischer Aktivität führte. Hierbei wurden drei Typen von Mutanten erhalten, solche mit verkürzter oder verlängerter endogener Periodendauer und solche ohne erkennbare endogene Rhythmik (Abb. 34-65). Die Störungen sind durchaus nicht nur auf die Schlüpfrhythmik beschränkt, sondern finden sich in allen tagesperiodisch beeinflußten Parametern, so auch in der Laufaktivität. Neben einer Veränderung der Periodenlänge können Mutationen auch die Temperaturunabhängigkeit der inneren Uhr verschlechtern. Das entsprechende Gen wurde period (per) genannt. Verschiedene Missense-Allele führen entweder zu einer Verlängerung der Periodizität (perL) oder deren Verkürzung (perS), während ein Nonsense-Allel (per0) jegliche Rhythmizität vermissen läßt.

Es war klar, daß einem Gen, von dessen Zustand die innere Uhr in so charakteristischer Weise abhängt, eine zentrale Rolle im Uhrenmechanismus zukommen muß, weshalb sich gleich zwei Arbeitsgruppen mit der molekularen Charakterisierung befaßten, die von M. Young am Rockefeller Institut in New York und die von J.C. Hall und M. Rosbash an der Brandeis Universität in Waltham. Das Interesse an der molekularen Analyse wurde nochmals gesteigert, als Verhaltensuntersuchungen Hinweise darauf gaben, daß die per-Mutanten auch in biologischen Rhythmen mit wesentlich geringerer Periodendauer in gleicher Weise gestört sind wie in der Tagesperiodik. Auch der Liebesgesang von Drosophila melanogaster enthält einen biologischen Rhythmus im Sekundenbereich. Seine genetische Analyse brachte das überraschende Ergebnis, daß Lang- und Kurzzeitoszillatoren über gemeinsame molekulare Komponenten verfügen können. Der Liebesgesang von Drosophila-Männchen wird durch die Vibration eines Flügels erzeugt. Er besteht aus einem Sinus- und einem Pulsgesang (Abb. 34-66). Die Zeit zwischen zwei Pulsen wird als Interpulsintervall (IPI) bezeichnet. Das IPI ist artspezifisch, so liegt es bei Drosophila melanogaster im Mittel bei 34 msec, bei Drosophila simulans bei 48 msec. Drosophila-Weibchen erhören flügellose Männchen in Gegenwart eines künstlichen Gesangs mit dem artgerechten IPI eher als in Gegenwart eines artfremden Gesangs. Dem IPI kommt also eine Rolle bei der sexuellen Isolation von Drosophila-Arten zu. Bei sorgfältiger Analyse der IPIs stellte sich heraus, daß ihre Länge um einen Mittelwert oszilliert (Abb. 34-67). Die Periode dieser temperaturkompensierten Schwingung beträgt bei wildtypischen Drosophila melanogaster 56 sec. period beeinflußt auch die Rhythmizität des Liebegesangs von Drosophila, in ähnlicher Weise wie sie für andere Aktivitäten beschrieben wurde (s. Tab. 34-11). Da praktisch alle Aspekte des Balzverhaltens einen nachhaltigen Einfluß auf den sexuellen Erfolg haben, stellen Variationen des Liebesgesangs auch bei Fliegen eine sehr effektive Barriere für Interspezies-Begattungen dar. Somit hat das period-Gen eine direkte Bedeutung für sexuelle Selektion oder Spezies-Isolation, denn alle Arten der Drosophiliden unterscheiden sich grundlegend in diesem Verhalten. Während die früh identifizierten Längenpolymorphismen des Period-Proteins schnell für allelische Variationen des Liebesgesangs verantwortlich gemacht wurden, kann insbesondere den Threonin-Glycin-Wiederholungssequenzen bis heute keine konkrete Funktion zugesprochen werden. Eine Rolle bei der Temperaturunabhängigkeit des period-Regelkreises wird diskutiert.

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