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Kapitel 34: Neurogenetik | ![]() |
34.5.5 Die genetische Analyse von Lernmechanismen Unter Lernvermögen wird die Fähigkeit von tierischen Organismen verstanden, ihre Reaktionen auf Umweltreize adaptiv zu verändern. Unmittelbar in Zusammenhang damit steht der Begriff Gedächtnis, der die Speicherung der Information und die Fähigkeit zu ihrer Aktivierung beschreibt. Ein zentraler Fokus der Neurobiologie ist die Frage nach den Mechanismen von Lernprozessen und der Lokalisation von Gedächtnis im Gehirn. Die Verhaltensforschung kennt eine ganze Hierarchie von Lernprozessen, von denen hier die wichtigsten genannt seien. Habituation (Gewöhnung) beschreibt eine Verminderung der Reaktionsstärke auf einen Reiz bei dessen Wiederholung, wobei dies nichts mit sensorischer Adaptation oder motorischer Ermüdung zu tun hat, sondern mit neuronaler Reizverarbeitung. Habituation eliminiert die Reaktion auf irrelevante schwache Reize und ermöglicht die Konzentration auf adäquate. Sensibilisierung liegt vor, wenn starke Reize beliebiger Modalität nachfolgende Reflexantworten verstärken. Starke Reize erhöhen hierdurch die allgemeine Reaktionsbereitschaft; sie alarmieren den tierischen Organismus und machen ihn handlungsbereit. Neben diesen nicht-assoziativen Lernprozessen sind klassische und operante Konditionierung als wichtige Formen des assoziativen Lernens zu erwähnen. Charakteristisches Ergebnis der klassischen Konditionierung ist, daß ein neuer Reiz (der bedingte Reiz, conditioned stimulus, CS) eine Reaktion auslösen kann, wozu vorher nur der angeborene, unbedingte Reiz (unconditioned stimulus, US) in der Lage war. Notwendig für die neue Reiz-Reaktions-Verknüpfung ist, daß CS und US einmal (meistens mehrmals) zeitlich eng korreliert angeboten werden. Die besten Lernerfolge ergeben sich, wenn der CS kurz vor dem US gegeben wird. Bekanntermaßen konnte Pawlow bei seinen Hunden allein durch einen Glockenschlag Speichelfluß hervorrufen, nachdem er ihnen nach der Glocke immer Futter verabreicht hatte. Als operante Konditionierung bezeichnet man die Verstärkung oder Unterdrückung spontaner Verhaltensweisen aufgrund ihrer tatsächlichen oder scheinbaren Konsequenzen. Entscheidend ist wie bei der klassischen Konditionierung die zeitliche Korrelation (Kontiguität) zweier Ereignisse. Erfolgreiche Verhaltensweisen, die zur Befriedigung eines Triebes beitragen (positive Erfahrung, Belohnung) werden verstärkt, erfolglose Verhaltensweisen, die u.U. schmerzhafte Folgen haben können (negative Erfahrung, Bestrafung), werden unterdrückt. So verschaffen sich Ratten in der sogenannten Skinnerbox (nach dem amerikanischen Verhaltensforscher B.F. Skinner) durch die Bedienung eines Hebels selbst Zugang zu ihrem Futter, sobald sie durch Zufall die Erfahrung gemacht haben, daß diese Handlungsweise diese Belohnung erfährt. Der genetische Ansatz hat sich auch bei der Untersuchung dieser Fragen als erfolgreich erwiesen. Es besteht die Aussicht, daß sich die Vielfalt der phänomenologisch beschriebenen Lernprozesse auf relativ wenige molekulare Prinzipien reduzieren läßt. Neben der Maus und Drosophila ist bei der Erforschung von Lernvorgängen die Meeresschnecke Aplysia ein klassisches Modellsystem. Die Arbeitsgruppe um Eric Kandel konnte an Aplysia, anfangs auf zellulärem Niveau, aber inzwischen auch auf molekularer und genetischer Ebene, wegweisende Erkenntnisse gewinnen. Seymour Benzer und Mitarbeiter waren die ersten, die bei Drosophila sogenannte Lernmutanten isolierten. Mittlerweile ist es jedoch wieder die auffallende Konvergenz von Ergebnissen, die sowohl bei Aplysia, als auch bei der Maus und bei Drosophila auf ähnliche und somit evolutiv konservierte Mechanismen hinweist. Eine schon sehr früh getroffene Unterscheidung betrifft die Dauer der Speicherung von Lerninhalten. Kurz- und Langzeitgedächtnis sind Begriffe, die beim Menschen sehr wohl bekannt sind, die allerdings auch bei den genannten Modellsystemen zur phänomenologischen Beschreibung der Lernergebnisse gebraucht werden. Die Notwendigkeit der konzeptionellen Trennung des Gedächtnisses bei Invertebraten in Kurz- und Langzeitgedächtnis war ermutigend, weil sie die Hoffnung auf durchgängig ähnliche Mechanismen der Gedächtniskonsolidierung in allen Nervensystemen weckte. Als operationale Kriterien für Kurzzeitgedächtnis gelten, daß es durch traumatischen Schock, mechanische Erschütterung, elektrische Schocks, epileptische Anfälle, Kühlung und manche Drogen gelöscht werden kann. Es erstreckt sich über wenige Minuten bis Stunden, manchmal Tage. Das Langzeitgedächtnis erweist sich gegen alle diese Einflüsse als resistent. Es kann lebenslänglich Informationen speichern, beim Menschen bedeutet das viele Jahrzehnte. Der Übergang vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis wird Konsolidierung genannt. Die Konsolidierung kann durch Inhibitoren der Transkription und Translation verhindert werden. Genexpression wird deshalb für die Langzeitspeicherung von Information als notwendig angesehen. Ganz allgemein geht man heute davon aus, daß ein Teil des Mechanismus der Kurzzeitspeicherung die temporäre Veränderung der Transmitterausschüttung an den beteiligten Synapsen beinhaltet. Auf molekularer Ebene wird diese Veränderung der posttranslationalen Modifikation von Proteinen zugeschrieben (z.B. Phosphorylierung), die an der elektrischen oder chemischen Weiterleitung von Signalen beteiligt sind. Die längerfristige Speicherung von Gelerntem jedoch umfaßt eine morphologische Umgestaltung von Synapsen, bzw. deren Auf- oder Abbau. Dies geht einher mit Genexpression und Proteinbiosynthese. Diese Fähigkeit zur adaptiven Umgestaltung bezeichnet man als synaptische Plastizität und sie ist abhängig von der Aktivität der beteiligten Synapsen. |
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