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Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht

  1. Worauf kommt es bei der Literatur an?
  2. Kreatives Schreiben bereichert und verändert den Deutschunterricht
  3. Kreativität und Sinnlichkeit
  4. Die Bewertung von Schreibanlässen ist offener
  5. Überarbeitungen und Korrekturen
  6. Bewertungsmaßstäbe

1. Worauf kommt es bei der Literatur an?

Ist es nun eine Interpretation oder "nur" eine Textbeschreibung? Eine Frage, die nicht nur auf Korrekturbebesprechungen immer wieder gestellt wurde; wenn es galt, die Aufsatzleistungen von Schülern zu messen. Und: Manchmal hatte man als Lehrer (und Leser?) das Gefühl, der Umgang mit Literatur gehe nur über Interpretieren oder die strukturierte Textbeschreibung.

Frage: Wie entstehen eigentlich "Leseratten" - und wodurch bleiben sie es?
Im Literaturunterricht standen bislang textanalytische Verfahren bei der Texterschließung, vor allem bei der Aufgabenstellunf für Aufsätze und Klausuren im Vordergrund. Ihnen wird zudem eine größere Objektivität bei der Leistungsmessung zugewiesen.

Handlungsorientierte "Schreibanlässe" in Verbindung methodischer Wege wie Rollenspiel, Dialogisieren, Inszenieren u.a bei der Erschließung von Texten fanden erst in den letzten Jahren verstärkt Einzug in didaktische Konzeptionen und auch in Lehr- und Bildungspläne. Lange galten sie nur als "Ergänzung" und "Auflockerung" des Literaturunterrichts. Dagegen haben sie ihre Eignung in vielfältigen Formen unter Beweis gestellt.

Im Zusammenhang mit Freiarbeit, offenem Unterricht und dem "Freien Schreiben" (in seinen durchaus unterschiedlichen Ausprägungen) ist die Forderung, mit Texten "produktiv umzugehen" (Bildungs- und Lehrpläne verschiedener Bundesländer) inzwischen festgeschrieben worden. In Baden-Württemberg wird seit 1995/96 in der schriftlichen Abschlußprüfung der Realschulen im Fach Deutsch als Thema 5 eine neue Prüfungsform "Mit Texten kreativ umgehen" angeboten. Das Thema "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch, ein sicherlich "schwerer" Roman, brachte unterschiedliche Erfahrungen mit sich. Eines kann jedoch nach vielen Gesprächen und Beobachtungen gesagt werden: Schüler und Lehrer sind mit dieser neuen Form meist gut zurecht gekommen. Manche Leseunlust und "Interpretationsgängelei" konnte durch offene Unterrichts- und Erschließungswege vermieden werden. Die neue Aufsatzform wurde gerne gewählt und mit guten Ideen gelöst.


2. Kreatives Schreiben bereichert und verändert den Deutschunterricht

Das Lesen und Verstehen literarischer Texte durch produktions- und handlungsorientierte Verfahren unterstützt und ergänzt den Deutschunterricht.

Beobachtungen in einer Klasse:
Im Deutschunterricht einer 9. Realschulklasse kam es zu einer offenen und recht kontroversen Diskussion über den Sinn von Literatur. Äußerungen wie "Wozu brauche ich das?", "Da mußt du eh das schreiben, was der Lehrer zum Text meint" weisen auf eines hin:

Zu oft noch verstehen - und erfahren - unsere Schüler Literatur als etwas "Hohes", daß Verstehen in erster Linie etwas Abstraktes, Analytisches ist. So werden literarische Texte auch in erster Linie in ihrem "meaning"-Aspekt erfahren. "Der Schriftsteller meint ... will damit sagen, ...". Dies muß durch Textuntersuchungen, durch Textanalyse und Belege systematisiert werden.

Lesegenuß, Unterhaltungswert und persönliche Betroffenheit erscheinen zweitrangig. Was Literatur auch ist, erlebendes und genießendes Hineinversetzen, Identifizieren und Ablehnen, gerät gerne zu kurz. Auch das Wiederfinden seiner eigenen Erfahrungen und Lebenssituation über das Lesen hinaus ("significance") rückt gar zu oft hintenan.

Vielfältige Erfahrungen in der Erwachsenenbildung belegen, daß Literatur in der Schulzeit als "Untersuchen", nicht aber als Lesen und innerliches Erfahren des Kreativen erfahren worden ist. Und leider war vielen das Interesse an Literatur zunächst genommen.

Das Wirken von Literatur wird so nicht gefördert, oft ganz zurückgestellt. Eine Ursache dieser weitverbreitenen Demotivation ist die jahrzehntelange Überbetonung des Schreibens und Lesens nach vorgegebenen Regeln. Für viele Schülerinnen und Schüler werden Aufsätze und Schreibaufgaben so mit Unlust und Unsicherheit, nicht das "Richtige" zu schreiben, verbunden. Leider geht zudem auch die Bereitschaft, sich einem Text offen auszusetzen, ein gutes Stück verloren. Aber genau dieses Öffnen, dieses aktive Interessiertsein und diese Neugier brauchen wir, wenn wir uns Literatur aussetzen.

Das "Begreifen, was uns ergreift" (Gadamer) kann jedoch nicht nur über das hermeneutische Verfahren, nicht nur und ausschließlich durch strukturalistisches Textbeschreiben erfaßt werden.

Thematik und Anliegen des Modells "Andorra" sind heute leider sehr aktuell, Vorurteile und Bildnisse können nicht nur durch rationales Erklären abgebaut werden. Eine gegen Vorurteile und gefährliche Bildnisse gewappnete Persönlichkeit ist offen und aktiv. Diese Unabhängigkeit, dieser Eigensinn kann durch eigene Schreibversuche, durch Weiterschreiben offener Textstellen, durch Verändern von Textpassagen oder durch das Einfügen möglicher Szenen ausprobiert und erfahren werden. Inhalt, Aufbau und Struktur von Frischs "Andorra" können auch über kreative Formen erschlossen und erfahren werden. Die Charakteristik und Anlage einer Figur erfahre ich auch, indem ich sie in neue Situationen stelle, sie gewissermaßen ausprobiere. Durch dieses Verlängern und Verändern im Schreibversuch vollziehe ich aktiv und beteiligt Geschehen und Situation nach.

Viele Kollegen befürchten, daß dabei das belegende Verstehen eines Textes und seine Aussageabsicht verloren gehen könnten. Vielfältige Unterrichtsversuche mit Jugendbüchern in den Klassen 5 und 6, mit Romanen und Theaterstücken in 9 und 10 zeigen jedoch das Gegenteil: Schülern gelingt es sehr wohl, sich durch eigenes Schreiben, durch "Ausprobieren" und Verändern der Vorlagen in Szenen, Rollenspiel oder in Videosequenzen dem Text produktiv und kreativ auszusetzen, ihn zu ergreifen.

Offene Literaturkurse, in denen durch sinnliche Anstöße (eine Bachfuge zu Schneiders "Schlafes Bruder", eine Riechstraße zu Süßkinds "Das Parfüm", ...) oder durch eigentätige Einstiege (ein Bühnenbild zu "Andorra" entwerfen, eine Einstiegsszene zu einem Roman zeichnen, ...) versucht wird, sich einem Text zu nähern, entwickeln ein hohes Maß an Verstehen und Nachvollziehen, auch durch strukturelle Bezüge.

Die Erfahrungen von Anderschs Roman "Sansibar oder der letzte Grund", 1996 Thema der Realschulabschlußprüfung in Baden-Württemberg, ermutigen. Von vielen Kolleginnen und Kollegen wissen wir, daß Schüler Schreibanlässe gerne wählten und formal wie inhaltlich kreativ lösen konnten. Eine Sorge vieler Deutschlehrer, Schreibanlässe stünden dem Analytischen entgegen, erwies sich als unbegründet. Beim Verfassen einer Rückerinnerung aus der Sicht einer der Romanfiguren gelang es den meisten Schülern ungezwungen auch, Inhalt und Entwicklung der Handlung darzustellen. Stil- und Kompositionsmittel wurden teilweise in überzeugender Art erfaßt und angewandt.

Im Gegenteil, selbst "Fehler" bieten Anlaß zur lebhaften und fruchtbaren Diskussion. Wenn beispielsweise die Sicht- oder Handlungsweise einer Person nicht treffend verwendet wird, ergeben sich fruchtbare Anlässe zur Aussprache und zum Vergleich, weshalb eine Figur in einem Drama oder einem Roman so nicht handeln oder sprechen würde.

Vergessen wir auch nicht:
Unterrichtliches Handeln, unsere Methodenwahl bestärkt Schüler, denen diese Art des Vorgehens entgegenkommt und hemmt oder benachteiligt zugleich (auch in den Leistungen, die wir messen) andere. Methodenvielfalt ist eine didaktische wie pädagogische Forderung, zumal Hirnforschungen belegen, daß eine Überbetonung der linken (mehr analytisch-logischen, ordnenden) Hirnhälfte nicht nur einseitig ist, sondern auf Dauer Nachteile in sich birgt: Denkergebnisse können dürftiger, quasi schablonenhaft ausfallen, weil sie "einseitig" ohne die experimentierende, Formen und Gefühle ergänzende rechte Hirnseite entstehen.
Und: Ein Teil der Klasse wird nicht oder nur zu einseitig angesprochen, stille Zurückhaltung, Unlust oder Ablenkung vom Unterrichtsgeschen und Unterrichtsstörungen erfolgen.
Weiterhin: Unterrichtserfahrungen mit Schreibanlässen belegen eindrucksvoll, daß die Erhöhung der Eigentätigkeit unserer Jugendlichen Kräfte auch im analytischen und strukturierenden Vorgehen freisetzen kann. Nicht zuletzt werden das Selbstorganisieren und das Miteinanderarbeiten gestärkt. So meinte ein Schüler, der Frischs "Andorra" in nur einem Tag gelesen hatte, das "Buch" sei "saugut". Dieser Jugendliche, ein sonst eher zurückhaltender Leser, war von der Fabel und der dramatischen Situation beeindruckt. Dieses Wecken von Interesse aber ist Voraussetzung, lebendig und offen an Texte, an Figuren, Konstellationen und Aussageabsichten heranzugehen.


3. Kreativität und Sinnlichkeit

Kreativität bedarf der Sinnlichkeit. Kreativer Unterricht spricht möglichst alle Sinne an: hören, sprechen, zeichnen und gestalten, auch fühlen. Ein Unterricht, der Sinnesschulung umfaßt, bringt eine Steigerung von Wortschatz und Ausdrucksfähigkeit mit sich. Wörter, die Stille, Trauer oder Angst, auch Aufgeregtsein transportieren, können nicht einfach wie Vokabeln gelernt werden. Erst ein Erfahren und Ausprobieren macht sie im Ausdruck und Verstehen verfügbar.


4. Die Bewertung von Schreibanlässen ist offener

Schreibanlässe müssen anders bewertet werden als Textbeschreibungen. Die Bewertung unterliegt wie die Aufgabenform selbst offeneren Meß- und Bewertungskriterien. Dies verunsichert viele Kolleginnen und Kollegen auch dahingehend, daß sie befürchten, die Beurteilung könne zu sehr zufällig, ja willkürlich ausfallen. Wir meinen, daß folgendes bei der Beurteilung freierer Texte berücksichtigt werden sollte:

Aus Veranstaltungen der Lehrerfortbildung und aus Erfahrungen können folgende Orientierungspunkte formuliert werden:


5. Überarbeitungen und Korrekturen

Schülergruppen erhalten einige namenlose Arbeiten, die nach (ihnen nicht bekannten!) Merkmalen wie "gelungen, teilweise gelungen, mit Schwächen, ..." geordnet sind, und sie bewerten diese.
Erfahrene Schüler können sich in Gruppenarbeit ihre Arbeiten gegenseitig vorlesen und einander Tips zur Verbesserung oder Erweiterung geben. Solche "Gruppenkontrolle" muß mit der Klasse eingeübt sein. Dabei werden auch die Kriterien zur jeweiligen Textart angewendet.
An Beispielen ist zu trainieren, wie stilistische Merkmale und Schreibhaltungen, z.B. das Berücksichtigen einer Stimmung oder Lage, des Alters und der Weiterentwicklung einer Person nachzuvollziehen und gestalterisch einzusetzen sind.
Kleine Dialogisierungen und szenisches Spielen bieten Einblicke in den Aufbau eines Dramas und verdeutlichen die Charaktere der Handlung.
Gelungene Schüleraufsätze mit Hinweisen, was an diesem Text gut gelöst ist, werden vom Lehrer ausgehängt. An einem Text werden dabei höchstens zwei wichtige Bereiche hervorgehoben.

Formalisierte Korrekturblätter, die jeder Schüler zu seiner Arbeit erhält, bieten ihm Hilfestellung und Erleichterung bei der Korrektur:
Passend zum Thema bzw. zur Aufgabenstellung wird eine Korrekturvorlage erstellt, die mit speziellen Schwerpunkten versehen wird (vertikale Spalte links). Sie verdeutlicht dem Schüler Stärken wie Schwächen durch Symbole wie Plus (+) oder Minus (-) oder Kriterien wie "gelungen", "prima" (horizontale Spalten).

Eine letzte Spalte "Tips" gibt dann Hilfen, wo nötig. Zudem vermeidet dieses Blatt, das die Schüler mit dem bewerteten Aufsatz zurückerhalten, das "exekutive Beurteilen" mit viel Rot. Als Ergebnis der Bewertung kann der Schüler so erkennen, was zu wenig oder nicht richtig berücksichtigt worden ist, ob wichtige Elemente (z.B. der Brief- oder Tagebuchform) nicht passend oder umfassend genug verwendet worden sind.

Für den Lehrer ist es hilfreich, bei der Korrektur und Bewertung zunächst einige Arbeiten von "sicheren" Schülern zu lesen, um einen Eindruck zu erhalten, wie die Aufgabenstellung verstanden und umgesetzt werden konnte. Alle für die konkrete Aufgabenstellung wichtigen Bewertungskriterien werden nun formuliert. Dies ergibt die vertikale Spalte der Korrekturvorlage, die jeder Schüler mit seinem Aufsatz zurückerhält. Es hat sich zudem bewährt, eine Korrekturvorlage mit Auszügen gelungener Schülerbeiträge im Klassenzimmer oder in einer Überarbeitungsphase zum Nachschlagen zur Verfügung zu stellen.

Erfahrungen, auch bereits in Klassenstufe 6, zeigen, daß die Schüler nach einer Kennenlernphase die Bewertungsgrundlagen übersehen und die Hinweise und Tips zunehmend gezielter anwenden können. Notwendige oder mögliche Verbesserungen fallen ihnen leichter auf. Die Anonymität der Beurteilung wird ein Stück weit abgebaut.


6. Bewertungsmaßstäbe

Die Bewertungsmaßstäbe kreativer Schreibanlässe zu "Andorra" orientieren sich an den formulierten Aufgabenstellungen und Hinweisen. Die folgende Aufstellung nennt allgemeine Maßstäbe.

  1. Inhaltliche Bewertungsmaßstäbe
    1. Ist die in der Aufgabe gestellte Fragestellung richtig unter Berücksichtigung aller wichtigen Gesichtspunkte bearbeitet? Das bedeutet, daß die Schülerinnen und Schüler den Inhalt des Dramas zum einen und die Handlungsmotive der Personen zum anderen verstanden haben und das Erarbeitete in einer frei erfundenen Situation anwenden (übertragen, verlängern) können. Zu bewerten ist auch, inwieweit dabei Leitmotive miteinbezogen werden.
    2. Entspricht die vom Schüler angewandte Textsorte der Aufgabenstellung?
      Enthält z.B. ein Dialog entwickelnde Rede und Gegenrede, oder inwieweit sind formale Elemente eines Briefes oder eines Tagebucheintrages im Text enthalten?
    3. Entspricht die Aussageabsicht der Aufgabenstellung?
      Bei der Schreibaufgabe eines partnerschaftlichen Dialoges zwischen Andri und dem Pater muß erkennbar werden, daß der Pater auf Andris Situation und auf seine Gefühle eingeht. Ja, er muß ihn zunächst zu Wort kommen lassen, im Gegensatz zu Frischs Anlage.
    4. Ist der Text folgerichtig und anschaulich aufgebaut?
      Berücksichtigt der Schüler, daß die Entwicklung einer Person, die im Stück begonnen hat, bei einer weiterführenden Szene oder in einem Brief deutlich gemacht werden muß?
      So ist der Pater der einzige, der sein Verhalten bereut und Schuld eingesteht.
    5. Literarische Texte sind stärker einfach für sich zu lesen, weniger bzw. nicht so sehr nach Ordnungskriterien. Deshalb ist es auch wichtig zu prüfen, ob der Schülertext Reaktionen wie Interesse und Neugier oder Betroffenheit, vielleicht auch Widerspruch auslöst. Neue Gedanken, ein kreativer Umgang mit den Personen und Motiven könnten Leseinteresse auslösen.
  2. Sprachliche Bewertungsmaßstäbe
    1. Ist die Sprech- und Ausdrucksweise der Figur nachvollzogen worden?
      Versucht der Schüler die Ausdrucks- und einseitige Argumentationsweise, etwa des Doktors, nachzuvollziehen?
      Trifft er Barblins Gemütszustand, wenn die Liebe zu Andri unterbunden wird?
    2. Ist der Schüler in der Lage, stilistisch geschlossen zu formulieren, den richtigen Ausdruck in den entsprechenden Zusammenhang zu stellen?
    3. Der Lehrer muß immer berücksichtigen, daß die literarischen Stilmittel eines Bühnendialogs und die knappe, präzise Sprach Frischs nur in Ansätzen nachvollzogen werden können.
  3. Formale Bewertungsmaßstäbe
    1. Gelegentliche Fehler in der Rechtschreibung und/oder im Gebrauch der Zeichensetzung sollten nicht in die Bewertung miteinbezogen werden. Freies Schreiben darf nicht aus Angst vor formalen Fehlern behindert werden.


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