"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"
81. Brief
Potsdam, 23. April 1872.
Mein allerliebstes Röschen! Gestern und heute habe
ich schon sehnsüchtigst auf Deinen lieben Brief gewartet. Endlich ist er
heute mittag soeben angekommen, und ich antworte Dir sogleich. Ich bin
sehr froh, daß meine kleine liebe Familie wohl ist und daß
auch der kleine dicke Pimpel-Balg sich wieder erholt
hat . . . Ich war 4 Tage in Berlin. Noch nie ist es mir
so grauenhaft vorgekommen; ich danke dafür, in diesem Loch zu
stecken. Und diese lieben Verwandten!! Es sind jetzt noch 6
Gruppen . . . Gegen mich waren sie alle sehr
liebenswürdig, aber untereinander leben sie wie Katze und Hund. Da nun
jede Partei auf die 5 anderen schimpft und sich über die schlechte
Behandlung beklagt, so habe ich 6 mal 6 = 36 Jammerlieder anhören
müssen!! Das Hauptjammerlied ist aber die Wohnungsnot, die wirklich
alle Begriffe übersteigt . . .
Das Wetter ist seit gestern hier herrlich, und wir
haben eine sehr hübsche Exkursion nach dem Pfingstberg gemacht:
prächtiger Sonnenuntergang, Obstblüten-Pracht! Die Umgebung von
Potsdam, die ich jetzt zum ersten Male näher kennenlerne, ist doch sehr
schön, und ich habe ordentlichen Respekt vor meiner Vaterstadt
bekommen . . . Einen sehr schönen Nachmittag
verbrachte ich im Zoologischen Garten, wo ich mein Röschen und Walter-
Puttchen gar zu gern bei mir gehabt hätte. Ihr wißt überhaupt gar nicht,
wie Ihr mir fehlt und wie ich immer an Euch denke! Sei nur recht süß,
warm, hingebend und weiblich demütig, wenn ich wieder bei
Dir bin, Du kleine stolze Tyrannin! Freitag abend hoffe ich Dich recht
munter in meine Arme zu schließen . . .
Brief 80..........................................................................................Brief 82

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