Ernst Haeckel: Briefe an Anna Sethe (1858-1865)
OCR + Korrektur von
Kurt Stüber 1998. Copyright Kurt Stüber.
Jena, 23.5. 1858
Himmelhoch jauchzend, mein süßes Liebchen, rufe ich Dir in
der
ersten Frühe des Pfingstsonntags meinen innigsten Gruß aus
unserem allerliebsten Jena zu! O wärst Du hier, wie solltest Du
mit mir jubeln und jauchzen und Dich freuen. Ich habe Dir schon
oft gesagt, daß ich in meiner freien herrlichen Gottesnatur
draußen ein ganz anderer und besserer Mensch bin, als in dem
dumpfen Dunste der Städte, wo ich mich oft, selbst trotz der
Nähe der nächsten Lieben, so beengt, gedrückt,
befangen fühle,
wo mir das Zusammenleben mit den verschrobenen
Kulturmenschen die schönsten Stunden und freiesten Gedanken
verdirbt. Kaum jemals habe ich aber diesen Gegensatz so lebhaft
empfunden, wie diesmal, wo mich der Vollgenuß freiesten
hingebendsten Naturlebens in kurzer Zeit ganz mir selbst
wiedergegeben hat, wo ich aus verworrenem Zweifel und
trostlosem Skeptizismus mich selbst wiedergefunden habe;
aber nicht den alten isolierten Egoisten, der am liebsten mit
seiner Wissenschaft ganz allein in irgendeinen entlegensten
Erdenwinkel sich zurückgezogen hätte, sondern einen neuen
besseren, vollkommeneren Menschen, der in Deiner reichen
Liebe, mein herziger Schatz, eine Quelle neuen, frischen,
liebevollen Lebens und Strebens gefunden hat, einen Weg zu
neuer, edlerer Freiheit, ein vermittelndes Band zum Verkehr
mit den anderen Menschen, die ihm ohne Dich so leer, tot und
trostlos erschienen.
Wenn Du Dich in den letzten beiden Wochen
gewiß oft über mein wunderliches Wesen und Denken,
über das
unsichere, zweifelvolle Schwanken und Zurückhalten gewundert
hast, vielleicht gar betrübt über die scheinbare Kälte
oder
Unsicherheit, mit der ich die reiche Gabe Deiner reinen
hingebenden Liebe nicht so ganz aufnahm und erwiderte, wie es
mein ganzes übervolles Herz so gern getan hätte, so schiebe
es
auf die Verstimmung und Verbitterung, die dieser Gegensatz
zwischen der idealen Welt meines Innern und der realen, die
mich umgibt, immer hervorruft. Wie anders würde ich Dir jetzt
erscheinen, wo unter dem belebenden erquickenden Einfluß des
grünen Waldes, der blühenden Bäume, der warmen,
hellen
Maisonne, des lieben gemütlichen Thüringer Waldvolkes ein
neuer, frischer Geist des Glaubens, der Liebe und Hoffnung mich
beseelt, wo die trostlosen Zweifel alle überwunden sind und ich
getrost und mutvoll in eine reiche, schöne Zukunft schaue.
Die Fahrt auf der Anhaltischen Eisenbahn bot natürlich nicht
genug objektive Naturschönheiten, um meine Sinne und
Gedanken zu fesseln. Um so freier und lieber weilten sie ganz
bei Dir und suchten sich die Ereignisse der letzten Wochen, die
mir immer noch wie ein Traum erscheinen, zu begreifen und dem
vorher so entgegengesetzten Gedankengange anzupassen. Das
unwillig widerstrebende Freiheitsgefühl des gefesselten
Prometheus, dem der Geier des Egoismus an der Leber nagt,
dieses disharmonische Ringen um die eingebildete Freiheit des
abstrakten Verstandesmenschen, welches mich bisher noch
keinen Morgen verschont hatte, wenn ich mir beim Aufwachen
des so ganz neuen, fremden Verhältnisses bewußt wurde - es
war diesen Morgen nur andeutungsweise, und hoffentlich zum
letzten Male, vorhanden und machte bald den herrlichen
Gefühlen Platz, sich im Besitze und als
Eigentum eines geliebten Wesens zu wissen, das die nach dem
Wahren, Guten und Schönen strebende Seele ganz versteht und
trotz aller ihrer großen Mängel liebt und für immer
festhalten
will! Tauchten dann über dem klaren Spiegel des sicheren
inneren Verständnisses, der bewußten Einheit, immer noch
einzelne, düstere und trübe Gedanken des Zweifels oder gar
der
Verzweiflung auf, so dachte ich an die schäumenden Gasblasen,
die sich beim Zusammentreffen mancher wahlverwandter
Elemente entwickeln und die klare Lösung des Salzes trüben,
aus
der dann doch nachher die schönsten Kristalle rein und
ebenmäßig anschießen. Lange dachte ich über dies
chemische
Gleichnis nach, über das Wogen und Wallen, Zischen und Brausen,
das beim Zusammentreffen von Säure und Base entsteht, zweier
so entgegengesetzter und doch so innig verwandter und sich
gegenseitig anziehender Körper, zweier Gegensätze, die sich
wie männliches und weibliches Prinzip verhalten, an sich
unfähig,
allein in Kristallform zu erscheinen, und erst durch ihre innige
Vereinigung zu der bestimmten reinen Form des klaren Kristalls
sich gestaltend.
Weiterhin dachte ich dann auch über den Dualismus der beiden
Naturen im Menschen nach und verhalf dem "lieben Menschen", d.
h. dem Gemütsmenschen mit seiner warmen Seele voll Liebe,
Hingabe, Gefühl und Poesie, zu seinem Rechte gegenüber
dem
"Naturforscher", dem Verstandesmenschen voll Sinn für
Wissenschaft und Erkenntnis, der bisher allein hatte herrschen
wollen. Freilich kam's dabei zuletzt so auf eine Art ,,doppelte
Buchführung" hinaus; indes weiß ich mir vorläufig doch
nicht
anders zu helfen, als daß ich beide entgegengesetzte Naturen
nebeneinander bestehen lasse. Sie müssen sehen, wie sie sich
vertragen und miteinander auskommen. Nur wünsche ich
nicht, daß der "liebe Mensch" durch Deine mächtige
Unterstützung zur absoluten Herrschaft gelangt. Je mehr ich
aber auch dieser, von der Wissenschaft nicht anerkannten Seite
menschlichen Geisteslebens ihr Recht ließ, je mehr mir Dein
liebes Bild den nackten Mechanismus der Lebensmaschine mit
der blühenden Farbenpracht des selbstbewußten Geistes
überkleidete, desto wohler und herzlicher wurde mir zumute,
und als nun gar, nachdem wir die Elbe bei Roßlau
überschritten
hatten, der dürre, heiße Sand und die düsteren
Kiefernwälder
der Mark dem paradiesischen Gartenlande des fruchtbaren
Sachsens Platz machten, das mit seiner Fülle in vollster
Blütenpracht stehender Obstbäume wirklich
entzückend aussah,
als knospende Wälder und schwellende Felder die weiten Fluren
mit dem frischesten Frühlingsgrün schmückten, da
ging mir das
in Berlin so verschlossene und gedrückte Herz vollends auf und
ich meinte Dich immer neben mir zu haben und Dir die Wonne des
klaren, hellen Maientags mitteilen zu müssen. Noch nie war mir
die Zeit auf dieser langweiligen anhaltischen Bahnstrecke so
rasch vergangen. Freilich brauste auch der Schnellzug so rapid
dahin, daß wir bis Halle noch nicht einmal vier Stunden
brauchten. Meiner Reisegesellschaft wurde ich erst hinter
Dessau gewahr, wo mich ein Berliner Tischler und seine Familie
durch die naiven Ausbrüche ihres Naturgefühis wahrhaft
erfreuten.
Die Fahrt durch die so wohlbekannten, lieben, treuen Thüringer
Lande erfreute mich sehr und frischte eine ganze Reihe alter
Jugenderinnerungen auf. Die schöne Gegend tat aber auch durch
den herrlichsten Blütenschmuck ihr möglichstes, um mich
recht
reizend und hold an die vielen in süßestem Naturgenuß
und
reichen botanischen Freuden verlebten Stunden zu erinnern Eine
verschwundene Zeit. Weißenfels, Naumburg,
Kösen, Sulza usw. sind mir mit allen kleinen Winkeln und Ecken
des Saaletales durch vielfache Besuche so liebe Heimatsorte
geworden, daß mir fast jeder Fels eine kleine Geschichte
erzählt und jeder Baum einen freundlichen Gruß zunickt. Und
dann das herrliche Wasser dazu! Das Wasser!!
Von Apolda ging ich zu Fuß nach Jena, in drei Stunden. Da
hättest Du mich sehen sollen, mein herziges Liebchen;
schwerlich hättest Du den kürzlich vereidigten praktischen
Arzt
(?) erkannt, eher einen übermütigen Studentenfuchs
vermutet,
dem vor Jugendmut und Freiheitslust, Natursinn und Kraftgefühl
die ganze weite Welt als Heimat erscheint und ihre weiten
Grenzen noch zu eng sind. Wie hab' ich Dich da in Gedanken
geherzt, wie bin ich mit Dir durch Wald und Feld gesprungen!
Die Landschaft ist an sich nicht besonders schön, wenigstens
sehr einfach. Weites offenes Hügelland mit fruchtbarem
Wellenboden. Aber die unaussprechliche Frühlingsluft in der
ganzen Natur, die mir heute erst recht aufzugehen schien, der
muntere Gesang der Vögel, das frische Grün der
üppigen Saaten,
die allerliebsten Thüringer Dörfer mit ihren reinlichen
Häuschen
mitten in den blühenden Obstgärten, dann der interessante
Muschelkalk mit seinen regulären Schichten und vielen
Versteinerungen, die knospenden und aufblühenden Wälder
mit
dem reizenden Gemisch frischgrüner Buchen und Birken und
dunklen Fichten und Tannen, dazu der üppige Waldboden, mit der
purpurnen Walderbse (Orobus vernus) und dem lieben blauen
Jmmergrün ganz dicht bedeckt, dazu der herrliche blaue
Himmel, der frische muntere Sinn - es war alles zu prächtig, und
nur Du fehltest in dem Paradies. Das einliegende Immergrün wird
Dir hoffentlich die Frühlingswonne des Waldes bei Isserstedt
und die Gedanken, die ich dabei für Dich hatte, besser
verständlich machen als eine lange Schilderung.
Die letzte Stunde vor Jena wird die Gegend sehr nett. Mit welchen
hoffnungsvollen Gefühlen für uns beide ich in unser
geliebtes, herziges Jena einzog, kannst Du denken. Mir wurde bei all dem
Herzensjubel ordentlich weich. "E. H. ordentlicher öffentlicher
Professor der Zoologie und vergl. Anatomie", summte mir die
trügerische Hoffnung immerfort in die Ohren. Wenn sie nur Wort
hält. Und was da immer für ein sonderbarer, feiner, kleiner
Schatten an meiner rechten Seite schwebte!
Nachdem ich im ,,Löwen" zu Abend gegessen, ging ich gleich zu
Professor Gegenbaur, der mich sehr herzlich empfing und mir eine
außerordentliche Überraschung vorbereitet hatte. Er
eröffnete mir nämlich, daß er im Oktober nach Messina
gehe, den ganzen Winter dort bleibe und mich selbst als Gefährten
sehr gern mitnehmen wolle. Was für ein unschätzbares
Glück das für mich ist, von wie unberechenbarem Nutzen
und Genuß, kann ich Dir erst mündlich klarmachen. Ich bin
jetzt noch ganz wie benebelt davon und glaube zu träumen...
Tausend herzinnige Grüße von Deinem treuen,
glücklichen
Ernst.
Jena, 25.5. 1858
Himmelhoch jauchzend, liebes Herz, hatte ich meinen letzten Brief
begonnen und abgesandt - leider sollte das "Zum Tode betrübt"
nur zu bald darauf folgen. Höre nur, was mir passierte.
Bald, nachdem ich meinen Brief an Dich aufgegeben, erhielt ich Deinen
lieben Herzensbrief, der meine Pfingstsonntagsfreude auf den
höchsten Gipfel hob.
Nachdem ich mich an ihm und Dir erquickt, ging ich zunächst zu
dem Staatsrat Seebeck, dem Großherzoglich Herzoglich
Sächsischen Kurator der Gesamtuniversität Jena, an dessen
Bekanntschaft mir sehr viel lag, und an den mir Frau Professor Passow,
seine Schwester, Grüße mitgegeben hatte. Er ist ein sehr
liebenswürdiger und netter, sehr vielseitig gebildeter und
geistreicher Mann, er empfing mich äußerst freundlich und
besprach die verschiedensten Verhältnisse mit mir, namentlich
den jetzigen Zustand der deutschen Universitäten und ihrer
Professoren. Ich freute mich sehr, in so vielen, auch subtileren Punkten,
eine volle Übereinstimmung meiner Ansichten mit denen eines so
trefflichen und tüchtigen Mannes zu finden. Zuletzt kamen wir
auch auf Lachmann zu sprechen, den er (als Onkel seiner Frau) sehr gut
kannte, und er äußerte sich in kurzem etwa
folgendermaßen über ihn: "Wie schade, daß ein so
talentvoller, tüchtiger Naturforscher sich durch zu frühes
Hingeben an ein weibliches Herz so ganz von seiner wissenschaftlichen
Laufbahn, die er so glänzend begann, hat ablenken lassen. Das
kann nun einmal beides nicht zusammen bestehen. Der Flug des Genius
erlahmt unter der Sorge für Weib und Kind. Das Interesse
für die Wissenschaft erlischt unter dem Gedanken an Bett und
Wiege. Ich liebe sowohl Lachmann als seine Frau sehr, allein um der
Wissenschaft willen wäre es schon besser gewesen, wenn sich ihre
Herzen ein Jahrzehnt später zusammengefunden hätten. Ich
kann Sie nicht genug warnen", setzte er lächelnd hinzu, ohne
meine Folterqualen gewahr zu werden, "sich zu bald zu verlieben. Es ist
zu gefährlich. Haben Sie erst Ihr Herz vergeben, dann ist es auch
bald mit der Wissenschaft vorbei."
Ich saß wie auf Kohlen. Jedes Wort fiel mir wie
ein glühender Tropfen schmelzenden Bleies oder siedenden
Öles auf das blutende Herz, dessen Zweifel ich soeben erst nur mit
der größten Mühe endlich ganz beseitigt zu haben und
so im Besitze des geliebten Herzens recht glücklich zu sein glaubte.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Ich empfahl mich möglichst bald und ging zu Gegenbaur. Da mir
der ganze Kopf von dem angeregten Thema schwindelte, fing ich
dasselbe auch bei ihm an aufs Tapet zu bringen. Scherzweise fragte ich
ihn, ob er sich denn bei seiner schönen Stellung für seine
große geräumige Wohnung noch keine Gebieterin ausgesucht
habe? "Das sollte mir fehlen!" war die Antwort. "Jetzt in meinen besten
Jahren, wo ich der Wissenschaft allein angehöre, für sie lebe
und arbeite, alle meine Zeit und Kräfte für sie allein
verwende, mich unter die Herrschaft einer Frau begeben, die Sorge
für Weib und Kind übernehmen, die dann alles Interesse
für sich absorbiert!! Nein, ist es erst so weit, dann ist es mit dem
Arbeiten und der energischen Ausdauer, mit dem wissenschaftlichen
Feuereifer und mit dem Reisen für immer vorbei. Sitzt das
schwimmende Strahltierchen erst einmal fest, dann hat die Freiheit und
Selbständigkeit ein Ende." -
Das fehlte noch, um mein entzweites Herz völlig zu
zerreißen, und ich war niclit weit davon, mich der Verzweiflung
ganz hinzugeben, nachdem ich noch kurz zuvor im herrlichsten
Sonnenschein des schönsten Glückes geschwelgt hatte. Was
ich mir nach mehrwöchentlichem Zwiespalt, zweifelvoller
Überlegung jetzt endlich so recht lieblich und schön
zurechtgelegt hatte, war nun mit einem Schlage vernichtet, und ich
fühlte die Wahrheit der angeregten Ansichten, das
Überwältigende dieser indirekten Vorwürfe nur zu
sehr, um mich ihnen irgendwie entziehen zu können.
Im tiefsten Schmerz über diesen unseligen Zwiespalt zwischen
dem lieblichsten, holdesten Wollen, der zartesten, süßesten
Neigung, und andererseits den objektiven Forderungen der kalten,
harten und doch so hochverehrten Wissenschaft, meinte ich fast
verzweifeln zu müssen, und ich verwünschte die Stunde, da
ich Dich gesehen, den Tag, wo ich mich Dir ganz hingegeben hatte - du
liebes, holdes Herz, das ich doch nicht lassen kann.
Wer weiß, was ich in meiner Verzweiflung, in deren
sturmbewegter, wilder Flut ich vergebens nach einem festen, rettenden
Fels rang, angefangen hätte, wenn ich mich nicht in der
Notwendigkeit befunden hätte, bei Professor Gegenbaur zu bleiben
und mich zusammennehmen zu müssen. So ging es denn am ersten
Pfingstfeiertag noch so ziemlich und ich erschien objektiv ruhig, obwohl
das Innere von den wildesten Stürmen zerrissen und gemartert
wurde. Da erschien mir wieder die hehre Wissenschaft in ihrer ganzen
Majestät und Größe, der ich so oft mein ganzes Ich,
mein Wesen und Wirken allein versprochen und angelobt hatte, und
forderte es mit eiserner Strenge. Und Dein liebes, holdes Bild, mein
Schatz, trat dabei so in den Hintergrund, daß ich Dich gar nicht
wirklich lieb zu haben glaubte, obwohl es mich noch vor wenigen
Stunden so ganz beherrscht hatte. Wie oft verwünschte ich meine
Schwachheit, daß ich mich meiner bloßen Neigung so ganz und
gar hingegeben habe, wo es doch Pflicht gewesen wäre, dem
reinen, kalten Ernste der Wissenschaft allein alle Sinne und Gedanken zu
widmen. Und dann wieder erschienst Du mir mit Deinem liebevollen
Gemüt, Deinem reinen Wahrheitssinn, Deinem offenen
Naturgefühl so liebenswert und herrlich, daß ich trotz
alledem Dich doch nicht meinte lassen zu können. Kurz es war ein
Zweikampf der Gedanken, der mich fast zur Verzweiflung brachte.
Glücklicherweise war bei Tisch (im "Bären") sehr muntere
Gesellschaft, und nachmittags machten wir trotz fortdauernden
Regenwetters mit mehreren Professoren einen Spaziergang nach dem
reizend gelegenen Dorf Winzerla, so daß ich wenig bemerkt wurde.
Ich war aber auch kaum fähig, etwas Ordentliches zu denken. Wie
sehr ich auch bemüht war, mich durch Reisegedanken zu
zerstreuen, so schwebte mir doch Dein liebes, süßes Bild
beständig vor Augen und ich konnte es nicht übers Herz
bringen, den Gedanken zu fassen, Dich vielleicht ganz lassen zu
müssen. Gegen solche Gedanken vermochten freilich selbst die
Reize unseres lieben Jenaer Saaletales gar nichts, ich sah und
fühlte sie nicht, ich ging nur wie im Traum. Meine einzige Freude
war, als wir auf dem Rückweg von einem tollen Gewitter mit
Platzregen durch und durch geweicht wurden.
Pfingstsonntag abend war ich zu Seebecks eingeladen. Obgleich ich
nichts weniger als dazu in der Stimmung war, und mich lieber in einen
Kampf auf Leben und Tod gestürzt hätte, in eine wilde,
sturmbewegte See, wo das schwache Lebensfünkchen mit seiner
verschwindenden Glut bald verloschen wäre, so mußte ich
doch hin. Auch ging es besser, als ich gedacht. Außer den sehr
netten Töchtern von Staatsrat Seebeck lernte ich noch zwei
ausgezeichnete Professoren kennen, den Philosophen Kuno Fischer, einen
geistreichen, munteren, unterhaltenden Mann, und den medizinischen
Kliniker Leubuscher (Pathologen), einen gescheiten, sehr
wissenschaftlichen Arzt. Letzterer ging beim Nachhausegehen noch eine
Stunde im Mondschein mit mir spazieren. So kam ich erst um
zwölf Uhr nach Hause, in den ,,Löwen".
Aber schlafen konnte ich noch lange nicht. Ich lag noch eine Stunde im
Fenster und klagte mein Leid unserem alten Freund, dem stillen
Vollmond, dessen lieber Schein nur stellenweise von schweren
Wolkenschatten umdunkelt wurde. Wie anders erschien mir heute die
ganze Welt, als gestern! Gestern die schönsten Reisehoffnungen
und kühnsten Zukunftspläne, heute nichts als die nackte
Verzweiflung und die unversöhnlichste Gedankenentzweiung. Wie
soll ich das vereinen? Ich finde keinen Ausweg, oder glaube wenigstens
keinen zu finden. Ich muß erst Dein liebes Gesicht, mein holder
Schatz, wiedersehen, um mich von dem allem ganz zu befreien. Wie soll
das aber werden, wenn diese Kollisionen, diese Konflikte der innersten
Strebungen und Gefühle immer und immer wiederkehren?
Merseburg, "auf der Hütte", 27. 5. 1858
Der zweite Pfingstfeiertag begann wie der erste mit einem
tüchtigen Landregen, der sich auch im steten Zusammenhang
wieder bis zum Abend fortsetzte. Ich ging schon früh zu Professor
Gegenbaur, um mit ihm alle Einzelheiten der Zurüstungen zu
unserer gemeinsamen Messina-Expedition ausführlich zu
besprechen. Was für ein außerordentliches Glück es
gerade jetzt für mich ist, an einem so ausgezeichneten Zoologen
einen wohlwollenden Mentor zu finden, und welche seltsame
Fügung, daß er auch schon lange gerade für
nächsten Winter sein Auge auf Messina gerichtet hat, kannst Du
kaum denken; mir selbst kommt die schöne Hoffnung oft nur wie
ein Traum vor.
Gegenbaur führte mich auch in sein zoologisches Museum; das ist
durch seine Bemühungen zwar sehr nett eingerichtet, aber den
außerordentlich kümmerlichen Mitteln der Universität
entsprechend im ganzen
doch sehr dürftig. Dieser Mangel einer tüchtigen Sammlung
und andererseits der nicht minder fühlbare einer reichen
Bibliothek sind die beiden größten und allerdings sehr
düsteren Schattenseiten des sonst so reizenden und lockenden
Jenenser Universitätslebens, in specie für den
Professor der Zoologie. Die übrigen Verhältnisse sind
dafür aber um so netter und Du kannst Dir denken, mein bester
Schatz, mit welchen egoistischen Nebengedanken und hoffnungsreichen
Träumen für uns beide ich mir das alles ansah.
Am Nachmittag machte ich bei Seebecks meinen Abschiedsbesuch. Der
treffliche Staatsrat war wieder äußerst liebenswürdig
und ich unterhielt mich noch einmal sehr lange mit ihm. Er entließ
mich vielversprechend mit den Worten: ,,Nun, wir werden uns
gewiß im Leben noch öfter begegnen!" Wie mir das Herz
hüpfte! Oh, sollte wirklich einmal dieser schöne Traum in
Erfüllung gehen und der Professor der Zoologie Ernst Haeckel seine
kleine Herzens-Anna in der lieben Thüringer
Universitätsstadt als würdige Frau Professor
einführen?
Am Abend, als der Regen aufgehört, machten wir noch einen
netten Spaziergang nach dem Dörfchen Löbstedt, im Saaletal
nach Dornburg zu gelegen. Das frische, prächtige
Frühlingsgrün, das nach dem reichen Regen überall in
der üppigsten Fülle hervorsprießte, machte auch unser
beider Herz weit, offen und glücklich, und wir sprachen uns recht
herzlich über die verschiedensten Angelegenheiten aus. Je
näher ich den trefflichen Gegenbaur kennenlerne, desto
glücklicher schätze ich mich, in eine so nahe und dauernde
Berührung mit ihm treten zu können, und ist es nicht
wirklich eine sonderbare Fügung, daß gerade jetzt, wo ich
durch Müllers Verlust so schwer getroffen bin, einerseits ein so
ausgezeichneter wissenschaftlicher
Freund und Lehrer, andererseits eine solche Quelle reichsten
Gemütslebens, wie ich ihn in Dir, mein bestes Herz, finde,
zusammenkommen, um mir die schon fast aufgegebene Zukunft mit
neuen schönen Hoffnungen zu schmücken?
Um sechs Uhr heute früh war ich in Kösen, wo ich ausstieg,
um von den lieben Stätten meiner botanischen Freuden, die ich
früher so oft besucht, auf lange Zeit, vielleicht für immer,
Abschied zu nehmen. Ich stieg zunächst in das Himmelreich
hinein, das mir aber bei dem schneidenden Nordwestwinde und kaltem
Regengusse recht irdisch vorkam. Über Saaleck stieg ich dann die
Rudelsburg hinauf, wo sich, innerhalb einer Stunde, das vorher so
trostlose Wetter so herrlich aufklärte, daß ich noch den
übrigen Tag hier zu verwandern beschloß. Zu Mittag war ich
bereits auf dem Geiersberg drüben und im Mordtale, und hier
nahm sich das bunte, so mannigfach gemischte Grün der aus
Buchen, Birken, Eichen, Fichten und Tannen zusammengesetzten,
ausgedehnten Laubwälder ganz reizend aus. Sonst hätte ich
tagelang in solchem herrlichen Frühlingswetter im grünen
Walde liegen mögen. Heute aber hatte ich nicht Sinn und Geduld
dazu. Ich sah den Wald vor "lauter - Anna" nicht!
Berlin, 12. 8. 1858
Das Wichtigste, das ich Dir heute mitteilen kann, ist, daß ich
übermorgen mit Max Schultze nach Jena zu der großen
Säkularfeier der Universität reise, wozu mich Schuitze heute
in kurzem ohne Mühe überredet hat. Außer der
großartigen und interessanten Feierlichkeit der mir so besonders
lieben Universität hoffe ich dort viele Fachgenossen
kennenzulernen. Insbesondere liegt mir aber daran, Professor Carus aus
Leipzig zu treffen und mit ihm über die italienische
Reise zu sprechen. Da es jetzt fast sicher ist, daß Gegenbaur nicht
mitgeht, so redete mir Max Schultze sehr zu, die Reise im Oktober
anzutreten und mit Professor Carus gemeinschaftlich zu machen, da
dieser sehr viele theoretische Kenntnisse besitzt, die mir ganz mangeln,
außerdem gerade ein solcher Gesellschafter für mich ebenso
nützlich als angenehm sein würde Auch rechne Carus schon
stark auf meine Reisegesellschaft Die Gründe, mit denen mir Max
Schultze zuredete, ließen sich in der Tat hören, und so ist es
wahrscheinlich daß mir diese Jenenser Reise endlich definitiven
Entschluß über das ,,Wann" und ,,Wie" der Reise nach Messina
bringen wird.
Biermann war diesen letzten Tag noch sehr lieb und nett. Er saß
fast beständig bei mir und plauderte, warnte mich vor meinen
Fehlern, alles in nächtiges Dunkel zu kleiden und die Extreme zu
suchen, zu wild und zu unruhig zu sein und lehrte mich Licht und
Klarheit zu sehen und zu suchen. Es ist ein lieber, prächtiger
Naturmensch, an dem ich mich nicht genug freuen kann, so einfach,
kindlich, natürlich, und dabei so freisinnig, gerade, wahr, liberal in
jeder Beziehung.
Mittwoch abend waren wir alle drei bei dem Professor Weiß wo
wir mit Professor Beyrich, Braun und dem Professor der Botanik Naegeli
aus München (früher in Zürich, wo ich ihn auf der
Rückreise aus Nizza besucht hatte), einen sehr netten,
vergnügten Abend verlebten; nur, daß ich periodisch so
geistesabwesend war, daß ich die verkehrtesten Antworten gab.
Rätselhaft, woher wohl diese sonderbare Zerstreutheit kommt? -
Heute abend ging ich nach dem Gesundbrunnen
(eine gute Stunde von der Stadt) hinaus, wo Max
Schultze bei seinem Schwiegervater, dem Prediger
Pettermann wohnt. Ich habe in der lieben Familie
einen sehr netten Abend verlebt. Max Schultze ist ein lieber
prächtiger Mensch, so einfach und natürlich, wie ein Kind,
dabei einer unserer tüchtigsten Anatomen, von ebenso
bedeutenden Fähigkeiten, als energischer Tatkraft und Fleiß.
Als ich heute abend sah, wie glücklich er mit seinem lieben und
netten Weibe (seiner Kusine!) zusammenlebte, wie er mit seinen beiden
allerliebsten kleinen Jungen spielte, und wie harmonisch und
schön er das alles zu vereinen wußte, ohne seinen
wissenschaftlichen Pflichten und Strebungen etwas zu vergeben
(natürlich die unersetzlichen Reisen, für die auch er
schwärmt, abgerechnet), so mußte ich recht lebhaft und mit
dem süßen Gefühl seligster Hoffnung an ein anderes,
analoges Pärchen denken! Oh, Du bester Schatz!
Jena, 15.8. 1858
Daß die lieben, schönen Jenenser Berge mit ihren
weißen Kalkfelsen und blumigen Abhängen, den freundlichen
Dörfern an ihrem sanft aufsteigenden Fuß und der
vielgeschlängelten Saale mit ihren grünen Auen, mit all dem
Reiz, den die liebliche Natur und die akademische Geschichte im Verein
dieser alten deutschen Universitätsstadt verliehen, mich schon so
bald wieder erfreuen würden, hätte ich zu Pfingsten nicht
gedacht. Und wenn damals die Gastfreundschaft von Professor
Gegenbaur und die Anmut der hiesigen Verhältnisse, mit denen er
mich bekanntmachte, den angenehmsten Eindruck von der so lange
nicht gesehenen Stadt zurückließen, so kamen diesmal noch
die ganz außerordentlichen Eindrücke dazu, die durch die
300-jährige Jubelfeier der Universität in festlicher Weise
hervorgerufen wurden, sowie das Zusammensein mit einigen anderen
jungen Professoren, die auch bei Gegenbaur waren.
Wir, Max Schultze und ich, fuhren am Samstag, 14.8. früh 7 Uhr
von Berlin fort und verplauderten die vier Stunden lange Fahrt durch
die langweilige Mark so nett, daß wir unversehens in Halle waren.
Der Zug war außerordentlich groß und mit Jenenser
Festgästen überfüllt. Unter der sehr bunten
Reisegesellschaft - zum Teil ganz alte, grau- und weißhaarige
Männer mit ihren früheren Studentenverbindungsabzeichen
- befanden sich drei sehr nette und freisinnige Magyaren, aus weit
entlegenen Orten Siebenbürgens und Ungarns, der eine von ihnen
ein wunderschöner Mann mit mächtiger Adlernase und Bart,
schwarz funkelnden Augen und langen Haaren. Sie waren, wie auch die
übrigen alten Studenten, urfidel und vergnügt und trieben
allen möglichen Unsinn, trotz der drückenden Augusthitze,
die uns in dem überfüllten Kupee wirklich in Schweiß
badete.
Der Trubel und die tosende Verwirrung bei der Ankunft in Apolda
waren unbeschreiblich. Da von den vielen Hundert Festgästen nur
wenige gesonnen waren, zu Fuß zu gehen, waren Post und Omnibus
natürlich gleich überfüllt, und so hoffte ich schon,
meinen Plan, zu Fuß zu gehen, auch bei meinen
Reisegefährten durchzusetzen. Aber Schultze hatte dazu wenig
Lust, und so begaben wir uns in die Stadt, wo wir einem Leiterwagen
begegneten, der von mehreren alten Jenenser Burschen mit Gewalt
gestürmt wurde. Wir unterstützten sie kräftig und
zwangen den Kutscher, uns nolens volens nach Jena zu fahren. Das
war nun eine der komischsten Fahrten. Der Leiterwagen wurde
querüber und der Länge nach mit Brettern belegt, auf denen
wir über einem Haufen von Kisten, Koffern und Reisesäcken
es uns so bequem als möglich machten. Von ähnlichen, in
buntester Weise bepackten Wagen war die ganze Chaussee bis Jena
bedeckt und wir hatten vielen Spaß mit den Begegnenden und
Wettfahrenden.
Die Fahrt selbst war bei dem klaren Wetter prächtig, und wir
litten auf unseren erhöhten Sitzen wenig von dem dicken Staub.
Schon von weitem sahen wir die Türme und Dächer reich
mit Fahnen geschmückt. Nicht ein Stockwerk irgendeines Hauses,
das ich sah, war schmucklos, und selbst die ärmste Hütte
war wenigstens mit Eichenlaub reichlich staffiert. Dazu flatterten von
allen Türmen und Dächern bunte Wimpel und Fahnen, meist
in den Landesfarben der vier sächsischen Herzogtümer, viele
auch in den deutschen Farben. In den Straßen überall
Triumphbogen.
Als wir um drei Uhr nachmittags in Jena ankamen, wimmelte es in allen
Straßen dergestalt von fremden Gästen und einheimischen
Festfeiernden, daß wir absteigen und uns zu Fuß durch die
Menge hindurcharbeiten mußten. Wir gingen sogleich zu unserem
alten Gastfreund, Professor Gegenbaur, auf dem Fichteplatz, der uns aufs
freundlichste aufnahm, trotzdem die Professoren Carus aus Leipzig und
Friedreich aus Heidelberg schon mehrere Zimmer besetzt hatten. Ich
wurde mit Carus in die Rumpelkammer gelegt.
Wir hatten uns kaum etwas eingerichtet und bewillkommnet, als sich
schon der Anfang der Festfeier durch das Läuten aller Glocken
bemerkbar machte. Wir gingen auf die Brücke hinaus und dort auf
und nieder. Als es dunkel geworden war, begann ein überaus
schönes Schauspiel. Auf allen den vielen Bergkuppen ringsumher
loderten große Freudenfeuer empor, und am Abhange der Berge
wurden durch viele Hunderte Fackeln tragender Bauern sehr
schöne, bunte Feuerlinien und Figuren gebildet, die sich zum Teil
schlangengleich den Abhang hinab entwickelten. Aus den Wiesen und
vom Flusse stiegen bunte Leuchtkörper und flammende Raketen
hoch empor, und prächtig reflektierte der Wasserspiegel die vielen
Lichter.
DAS JENENSER UNIVERSITÄTS-JUBILÄUM
Berlin, 22. 8. 1858
Am 15. August 1858, dem ersten Feiertage und Sonntage des 300
jährigen Jenenser Universitäts-Jubiläums, wurden wir
schon früh um sechs Uhr durch Musik und Gesang geweckt; wir
versammelten uns alsbald bei unserem gastfreundlichen Wirt, Professor
Gegenbaur, in dessen großer, dreifenstriger Studierstube zum
Kaffee. Professor Friedreich aus Heidelberg hatte in dessen eigentlicher
Schlafstube, Max Schultze aus Halle in seiner eleganten Galastube, Victor
Carus aus Leipzig in der eigentlichen Speisekammer, und meine
Doktorwenigkeit in der davor befindlichen Rumpelkammer
übernachtet. Doch können die anderen in ihren teils
wohleingerichteten, teils improvisierten Betten kaum so wohl geschlafen
haben, als ich, in meinen treuen alten Plaid eingehüllt, auf der
Bodenstreu, die mir bequeme Ausdehnung nach allen Seiten
gestattete.
Nach neun Uhr machten wir uns auf den Weg, um an dem großen
Festzuge teilzunehmen, der von der neuen Bibliothek aus (in welcher die
verschiedenen Festdeputationen früh empfangen und
begrüßt worden waren) den Fürstengraben hinauf
durch die Johannisstraße in die Stadtkirche zog. Obwohl ein
heftiges Gewitter mit strömendem Platzregen die Ordnung und
allgemeine Teilnahme etwas störte, nahm sich der Zug, in welchem
viele Tausend fremde und einheimische Festgäste, festlich geputzt,
zu je vieren einherschritten, sehr imposant und malerisch aus und hatte
eine solche Länge, daß die ersten schon in der Kirche waren,
als die letzten noch stillstanden. Voran, wie auch zu Ende des Zuges und
zwischen allen einzelnen Abteilungen desselben, zogen, von Musik
begleitet, studentische Festmarschälle, die sich in ihren schwarzen
Samtröcken mit Schärpen und Baretts mit
Straußenfedern, in langen Kanonenstiefeln und mit blanken
Schlägern recht stattlich, mittelalterlich ausnahmen. Den
eigentlichen Zug eröffneten die Büchsenschützen, dann
folgten die buntgeputzten Schulen und Institute, die evangelische
Geistlichkeit, der Magistrat, die Gewerke und Zünfte mit ihren
mannigfachen Abzeichen, Insignien und Fahnen, das studentische
Präsidialkomitee mit der großen Universitätsfahne,
dann das große bunte Heer der fremden und einheimischen
Festgäste, die uniformierten Staatsbeamten, die zahlreichen
Deputationen der verschiedenen Universitäten, Akademien usw.,
dann die Ministerien und endlich das Corpus academicum mit den
auswärtigen Universitätsdozenten, einer Anzahl
ausgezeichneter und berühmter Männer von allen deutschen
Universitäten. Den Schluß bildeten die alten und jungen
Jenenser Studenten aus den verschiedensten Jahrgängen, von
1792 bis 1858; gewiß der interessanteste Jubelzug, den man sich
denken kann.
Einen netten Gegensatz zu der hochfeierlich geputzten und mit Fahnen,
Standarten, Federn und Festornaten reichlich ausstaffierten
männlichen Genossenschaft des langen Festzuges bildete die aufs
bunteste und mannigfachste mit Bändern, Blumen und
Kränzen geschmückte, größtenteils weibliche
Bevölkerung, die beiderseits des Zuges ein dichtes Spalier bildete
und in der Stadt alle Fenster vom Souterrain bis zum Dach hinauf
besetzt hatte. Das Erstaunen über die nie gesehene Pracht war,
namentlich auf den Gesichtern der zahlreichen Landbevölkerung,
sehr amüsant. Gegen zwölf Uhr war die Festpredigt des
Oberkirchenrats Dr. Schwarz zu Ende, die sowohl durch den
begeisterten, spannenden Vortrag, als die hohe Liberalität und den
frischen Gedankenschwung allgemein gefiel und durch die Schilderung
der vielen schweren Kämpfe,
die die Universität durchgemacht, die beständige Teilnahme
frisch erhielt.
Mit dem Festgottesdienst hatte auch der strömende Regen
aufgehört, der nun als die größte Wohltat erschien, da
er die vorher unerträglich drückende Schwüle ganz
beseitigt und den dichten, feinen Kalkstaub ganz niedergeschlagen hatte.
Auch wurde das ganze Fest von diesem Augenblick an durch das
allerschönste, heiterste und doch nicht übermäßig
heiße Wetter sehr begünstigt.
Beim Heraustreten aus der Kirche war ich nolens volens mit in das
corpus academicum gedrängt worden, so daß ich nun auf dem
Markte, wo die feierliche Enthüllung des Johann - Friedrich -
Denkmals stattfand, einen der allerersten Plätze bekam,
nämlich mitten innen zwischen dem Festredner, Staatsrat Seebeck
einerseits, und dem Großherzoglichen Hofe, der mit den
Deputationen usw. auf einer erhöhten Tribüne Platz
genommen hatte, andererseits. So verstand ich jedes Wort von der
schönen Rede Seebecks, der die Verdienste Johann Friedrichs um
die Reformation durch die Gründung der Universität und die
Beschützung des Liberalismus in schönster Form
verherrlichte. Auch konnte ich die Enthüllungsfeierlichkeiten der
schönen, von Professor Drake gearbeiteten Statue, sowie die
darauffolgende große Vorstellung auf der Großherzoglichen
Tribüne, trefflich beobachten und hatte den besten
Überblick über den großen Markt, dessen bunter
Fahnenkranz und Kleiderschmuck über und zwischen den
wogenden, buntgeputzten Menschenmassen sich ganz prächtig
ausnahm.
Nachdem sich diese nach Beendigung der Feier zerstreut, fanden wir uns
wieder bei Gegenbaur zusammen und steuerten in unsere treffliche
Stammkneipe, den "Schwarzen Bären", wo wir von dem
dicken, dienstbeflissenen Wirt, Herrn Helbig, dem Feste
gemäß auf das vortrefflichste bewirtet wurden, doch unter
den vielen hundert Gästen und ihrem tollen Trubel nicht lange
aushielten, sondern uns in das Paradies und die große Festhalle
begaben. Dort begegneten wir unter der Masse der auf der grünen
Wiese, unter den Bäumen und in dem großen Festzeit auf und
ab wogenden Menschen noch manchem Bekannten.
Um acht Uhr zogen wir wieder in die Stadt und ich trennte mich von den
übrigen, welche in einer Elite Soirée in den akademischen
Rosensälen sich dem Kurator Seebeck und durch diesen dem
Großherzog vorstellen ließen. Ich schloß mich dem
großen Fackelzug der Studenten an, der die ganze Stadt mehrmals
in Schlangenwindungen durchzog und sich in dem bunten Schmuck
derselben ganz prächtig ausnahm. Nach dem zum Schluß
desselben das "Gaudeamus igitur" gesungen und ich mich
noch lange am feurigen Glanze der auf einen Haufen
zusammengeschleuderten Fackeln ergötzt, auch noch ein anderes
prächtiges Feuerwerk auf der Paradieswiese mit angesehen hatte,
wanderte ich wohl noch eine Stunde lang an dem schönen
Saaleufer aufwärts und suchte die zahlreichen mächtigen
und schönen Eindrücke zu bewältigen, die dieser
herrliche Festtag in mir hervorgerufen. Der frische Naturgeist des
Liberalismus, das kräftige Streben nach frischer, freier,
naturgemäßer Entwicklung, das in allen einzelnen Momenten
so deutlich, schön und harmonisch hervorgetreten, hatte mir diese
so liebe, deutsche Zentraluniversität, für die ich schon
vorher so viel Vorliebe hatte, jetzt ganz besonders wert und lieb
gemacht, und ich konnte mich lange nicht über den wilden Sturm
begeisterter Freiheitsbestrebungen und Entwicklungs-Ideen beruhigen,
die diese kraftvollen, glühenden, echt deutschen Momente in mir
wie wohl in der Brust eines jeden braven Jünglings hervorrufen
mußte. Doch kam endlich auch über mich süßer
Friede, als ich an die ferne Ostsee dachte.
Am Montag, 16. August, durchstrich ich schon um sechs Uhr früh,
während meine Gefährten noch schliefen, die Straßen
und Gäßchen der lieben Stadt, die die heiterste Morgensonne
beglänzte, und las die Gedenktafeln der berühmten
Männer an den festlich geschmückten Häusern. Fast
jedes dritte Haus, in manchen Straßen alle Häuser, hatten
deren eine oder mehrere aufzuweisen, auf denen Namen, Geburts- und
Todestag des ausgezeichneten Gelehrten, der darin gewohnt hatte,
verzeichnet war. Man muß in der Tat erstaunen über die
außerordentliche Zahl großer, deutscher Geister, die Jena teils
als Lehrende, teils als Lernende, seit 300 Jahren in seinen Mauern
beherbergt hat.
An dem feierlichen Festzuge, der in derselben Weise wie am
vorhergehenden Tage die Stadt durchzog, nahmen wir heute nicht teil,
sondern ließen ihn an uns vorüberziehen, um seine bunte
Pracht und imposante Größe in ihrer ganzen Ausdehnung
kennen zulernen. Danach stiegen wir beim herrlichsten Wetter auf einen
südwestlich von Jena gelegenen Berg, von dem wir mit einem Blick
die ganze liebliche Gegend überschauten, die reizende,
buntgeschmückte Stadt, im Kreuzpunkt von vier Tälern
liegend, indem das Saaletal, nördlich nach Dornburg, südlich
nach Kahla sich verlängernd, in ostwestlicher Richtung von zwei
anderen Tälern geschnitten wird, in denen von West die
Straße von Weimar, von Ost die von Roda sich in den grünen
Kessel hinabsenkt. Die großartigen weißgelben, scharf
vorspringenden Kalkmassen der Berge kontrastieren lieblich mit dem
frischen Grün, das die Täler, namentlich längs der
Saale, erfüllt, und die zahlreichen netten, kleinen Dörfer
geben der sonst schon so freundlichen Landschaft noch mehr Leben. Oh,
glücklich, wer hier sein Leben zubringen darf! - Wir lagen wohl
über eine Stunde im Grase auf dem Gipfel des Berges und priesen
Gegenbaur glücklich, der in einer so reizenden Natur, unter so
lieben Menschen, in einer Berufstätigkeit, die ihm nur Freude und
Genuß bringt, das glücklichste Leben führt.
Nachher schlenderten wir über die Festhalle in unseren
"Schwarzen Bären", wo ein äußerst
vergnügter Mittag unserer wartete. Es hatten sich nämlich
an der festlich geschmückten, langen Mittagstafel in der Kegelbahn
zufällig eine Menge alter Studiengenossen zusammengefunden,
die, von Begeisterung und Festfreude überströmend, in
Erzählung und Schilderung der alten Zeiten die interessanteste
Unterhaltung boten, die wir wünschen konnten, und als erst der
Wein ihre Zunge gelöst hatte, taten sie es an ausgelassener
Lustigkeit, tollen Einfällen und sprudelndem Humor den besten
jungen Burschen gleich. Ein witziger und treffender Trinkspruch, eine
begeisterte und frohe Jubelrede folgte der anderen, so daß wir bis
fünf Uhr äußerst vergnügt beisammen
saßen.
Wahrhaft ergreifend war die Standrede eines alten Schleswig-Holsteiner
Pastors, der, mit Weib und Kind von Haus und Hof vertrieben, in Sachsen
ein neues Vaterland gefunden hatte; er schilderte seine Schicksale seit
seiner Jenenser Studienzeit (er hieß "die lange Latte",
war von den Dänen in effigie gehenkt und verbrannt worden und
hatte sich nur durch ein halbes Wunder gerettet) mit so rührender
Wahrheit und Einfachheit, daß der weibliche Teil der
Tischgesellschaft in lautes Weinen und Schluchzen ausbrach.
Da Carus und Friedreich den Abend auf dem Balle zubringen wollten,
ging ich mit Max Schultze und Gegenbaur allein hinaus ins Grüne
und wir machten den allerschönsten Spaziergang. Bei der Festhalle
setzten wir über die Saale und gingen dann über frische,
saftige, mit vielen zerstreuten Bäumen und Gebüschgruppen
besetzte Wiesen in einer Stunde nach dem Dorfe Winzerla (wo ich auch
am zweiten Pfingsttag war). Von da stiegen wir in die Triesnitz hinauf,
einer reizenden, kühlen, wasser- und waldreichen Bergschlucht,
zwischen deren moosigen Felstrümmern und alten Bäumen
zahlreiche frische Quellen hervorsprudeln. Auf einem der
hübschesten Punkte, von wo man über die Bäume weg
ins Saaletal hinüb ersieht, tranken wir Kaffee und stiegen dann
noch bis zu dem höchsten Punkt des Berges hinauf, von wo wir
eine herrliche Aussicht das Saaletal hinauf bis Kahla hatten, das von der
Leuchtenburg überragt wird, und nach einer Viertelstunde auch
noch einen prächtigen Sonnenuntergang genossen, der die
blaßgelben Kalkkuppen und die weiter hinauf vortretenden roten
Standsteingehänge mit den schönsten wärmsten roten
und gelben Farbentönen übergoß.
Dazu wurden wir von Gegenbaur auch noch mit Champagner
überrascht, den er heimlich hatte hinaufbringen lassen. Wir
ließen die schaumgefüllten Gläser zu Ehren unseres
freundlichen Wirts und des lieben Jena klingen und plauderten noch
munter fort, bis die Nacht hereinbrach. Auch mit dem delikaten
"Kunitzer Eierkuchen" wurden wir noch traktiert, dessen
Verfertigung Geheimnis der Triesnitzwirtin ist.
Als wir ins Saaletal hinabkamen, war es schon dunkel geworden. Bald
trat aber der liebe Mond in schönstem Silberglanz hinter den
Bergen hervor und leuchtete uns auf dem hübschen Heimweg.
Viele innige Grüße sandte ich durch ihn nach dem lieben,
fernen Heringsdorf hinüber.
Der Abend war köstlich. Blaue Nebel stiegen aus den feuchten
Gründen des Saaletales empor. Aus der Ferne glänzten die
Lichter des Städtchens. Rings aus den Dörfern schallte Musik
und Freudengeschrei der überall zerstreuten Jubelgäste und
Studenten. Das Rauschen des Flusses mischte sich mit diesen fremden
Tönen und dem Gerassel der zahlreichen Fuhrwerke, die die zum
Fest gekommenen Bauern nach Hause führten.
Dienstag, 17. August, zogen wir um zehn Uhr im üblichen Festzug
in die Kollegienkirche, wo in Gegenwart des Großherzogs die
Ehrenpromotionen stattfanden. Die fünf langen lateinischen Reden
der vier Dekane und des Rektors waren sehr langweilig, dafür die
Musik zu Anfang und zum Schluß recht hübsch.
Nach Tisch gingen wir nach dem drei Viertelstunden entfernten Dorfe
Löbstedt, wo man gewöhnlich Kaffee trinkt. Um fünf
Uhr waren wir wieder in der Festhalle, wo der große Kommers
schon seit vier Uhr alles mit Lust und Leben erfüllt hatte. Ein so
großartiger und dabei so ungestört heiterer Kommers mag
wohl selten dagewesen sein, und das Hineinmischen der bunten Stadt-
und Landbevölkerung, namentlich des schönen Teils
desselben, gab ihm ein eigentümlich glanzvolles Leben, obwohl der
studentische Charakter des Festes dadurch etwas in ein Volksfest
umgesetzt wurde. Doch erinnerten die Studentenlieder, die mit Barett,
Schläger und Schärpe festlich geschmückten
Chargierten, die nach den Jahrgängen geordneten alten und jungen
Studenten mit ihren bunten Burschenschafts- und Korps-Bändern,
Mützen und Fahnen überall an den eigentlichen Zweck.
Wir setzten uns unter die alte Burschenschaft des Burgkellers mit dem
schwarzrotgoldenen Panier, wo sich bald mehrere Bekannte
zusammengefunden hatten, mit denen wir äußerst
vergnügt sangen und tranken. Getrunken wurde übrigens
sehr mäßig, trotzdem die Stadt zum "Freibier", das
sie gab, 300 Eimer hatte brauen lassen (es wurden nur 160 getrunken).
Der feierlichste Moment des Festes war der Gesang des
"Landesvaters". Der Chor von 1100 alten und jungen
Studentenstimmen (570 Burschenschaften, 230 Korps, 300 keiner
Verbindung angehörend) machte sich höchst großartig,
und die alten grauen und weißen Häupter, die alle
Zeremonien mitmachten, die sich den Hut selbst auf den Hieber
spießten, verliehen dem Ganzen etwas sehr Feierliches und
Ehrwürdiges. Nach zehn Uhr wurde das Getümmel etwas zu
bunt, es ging nun alles drunter und drüber und wir gingen
schließlich in den "Bären", um den neuen und
alten Freunden, die wir hier getroffen hatten, Lebewohl zu sagen.
Den Mittwoch benutzte ich, um mir die Umgebung von Jena noch weiter
anzusehen. Nach einem erquickenden Wellenbad in der Saale erstieg ich
den unmittelbar über der Stadt aufsteigenden Hausberg und den
Fuchsturm, von dem man die ganze Umgegend weithin überschaut.
Nachmittags ging ich mit Gegenbaur und Friedreich über die Auen
nach Wöllnitz, von wo man eine schöne Aussicht nach der
Leuchtenburg und in verschiedene Seitentäler hinein hat. In eines
der letzteren, das gerade nach Osten vom Saaletal sich abzweigt, gingen
wir eine halbe Stunde weit hinein bis zum
"Fürstenbrunnen", einer klaren, starken, unten aus
dem Fuß eines Kalkfelsens hervorsprudelnden Quelle. Die
Abwechslung der nackten, gelbweißen Kalkfelsen mit dem frischen,
grünen Buschwerk längs der zahlreichen Bäche und
dem dichten Laubwald war reizend. Der Rückweg, den wir mehr
auf der Höhe, am Rande der östlichen Saalberge hin
machten, war nicht minder schön. Zur Rechten den steilen, nackten
Fels, zur Linken das weite dunkle Saaletal mit seinen
mondbeglänzten Wiesenflächen, auf die die Baumgruppen
dunkle Schatten zeichneten und von denen duftiger Nebel aufstieg,
besonders den Lauf der geschlängelten Saale bezeichnend. Aus der
Stadt tönte uns schon von fern Gesang entgegen, und als wir
hineinkamen, fanden wir die Burschenschafter durch die Straßen
ziehend und den besonders beliebten, liberalen Persönlichkeiten
vor ihrer Wohnung Liederständchen bringend. Das "Freiheit,
die ich meine" - und "Wir hatten gebauet" - sangen sie
durch die stille Nacht mit ihrem starken Chor.
Berlin, 22.8. 1858
Soeben habe ich in der schönen Sonntagsfrühe ausgepackt
und mich in meiner Studierstube (die jetzt endlich einmal wirklich
dieser ihrer Bestimmung gewidmet werden soll) wieder häuslich
eingerichtet. Ich dachte so recht innig an das liebe, süße
Wesen, das dem allem erst eigentlich seine rechte Weihe gibt und jetzt
schon ganz zu dem unzertrennlichen und unendlichen roten Faden
geworden ist, der sich durch alle Gedanken, alle meine Vorstellungen,
hindurchzieht. Da kommt gerade zur rechten Zeit Dein Brief, mein
herzliebster Schatz, und nun kann ich nicht anders, als Dir gleich frisch
antworten, obgleich heute früh, zum Beginn meiner anatomisch-
zoologischen Arbeiten, gleichsam als Eröffnungsfeier, ein paar
schöne gelbgefleckte Erdsalamander und schwarze Waldschnecken
seziert und mikroskopiert werden sollten. Nun, ein Glück für
sie, daß Dein lieber, lieber Brief mir Messer und Pinzette aus der
Hand genommen und die Feder hineingesteckt hat. Wenn nur die
dumme Feder nicht ein gar so ärmliches und unzureichendes
Instrument wäre! Wie wenige und kleine Trümmer nur,
mein Herz, kann ich Dir immer auf dieser schmalen Brücke
hinübersenden, von der großen, überwältigenden
Gedankenmasse, die ich stets für Dich im Herzen trage und Dir so
gern, in allen ihren Wandlungen, ganz mitteilen möchte. Und wie
freue ich mich auf die herrliche Zeit, wo ich Dir wieder "Herz an
Herz und Lipp' auf Lippe" mein ganzes Ich werde geben und das
liebe Deine dagegen werde nehmen können, ganz so wie es ist, und
wie es die ausführlichsten Briefe doch immer nur stückweis
liefern können.
Die Jenenser Tage waren reich und fruchtbringend für mich.
Besonders das innige Zusammenleben mit den vier jungen Professoren,
die sich in Gegenbaurs Hause zusammenfanden, und der Verkehr mit
mehreren anderen akademischen Größen hat mir ebensoviel
Nutzen als Vergnügen gebracht und meinen akademischen
Ideenkreis ganz bedeutend erweitert. Während es mir anfangs
fast ängstlich und beklemmend war, daß ich, als kaum
flügge gewordener Nestvogel, mich in diesem Kreis von
ausgezeichneten Männern der Wissenschaft, die schon mit
kräftigen Flügeln zu ihren höchsten Höhen sich
emporgeschwungen hatten, etwas kühn hineindrängte, so
wich dieses Minoritätsgefühl doch bald dem liebevollen,
freundschaftlichen, entgegenkommenden Zutrauen, mit dem mich die
vier Professoren in ihren Kreis hineingezogen und gleichsam auch als ein
Stückchen künftigen Professor ansahen. Namentlich bin ich
mit Gegenbaur und Schultze in diesen Tagen um vieles vertrauter und
bekannter geworden.
In Carus, den ich vorher noch nicht kannte, habe ich mich nicht recht
hineinleben können. Zwar ist er ein sehr gelehrtes Haus, und um
unsere Wissenschaft im engeren und weiteren Kreise sehr verdient; aber
unsere ganze Art zu denken und zu handeln ist zu verschieden (er ist
auch über zehn Jahre älter), als daß ich mich ihm so
wie andern Freunden hingeben könnte. Dieser Grund hat nicht
wenig zu dem Entschlusse beigetragen, meine große Reise allein zu
machen, obwohl Schultze wie auch Gegenbaur mir sehr zuredeten, sie
mit Carus gemeinsam anzutreten, der dieses selbst sehr wünschte.
Allein gerade wie mir alle so zuredeten, wurde es mir im Innersten so
recht klar, daß ich den vollen Nutzen, den ich von dieser
großen Unternehmung erhoffe, die Umgestaltung und
Wiedergeburt meiner ganzen Lebensanschauung, die ich davon
bestimmt erwarte, in ihrem ganzen Umfange nur erlangen werde, wenn
ich mich selbst auf ein Jahr in die Verbannung schicke und mich zwinge,
mit mir allein fertig zu werden. Entweder - oder; alles oder nichts, die
Erfüllung oder die Vernichtung aller meiner Hoffnungen und
Pläne muß mir diese schwere Arbeit, an die ich alle meine
Kräfte setzen werde, mit entscheidender Gewißheit bringen,
und das kann sie nur, wenn ich mit mir selbst allein, durch keinen
fremden, disharmonischen Eindruck gestört bin! Daß endlich
auch der Gedanke, wenn ich mit Carus reisen wollte, schon Mitte
September fort zu müssen, mir ganz unerträglich war und
das seinige zu meinem Entschluß beitrug, weißt Du selbst,
mein bestes Herz, zu gut, als daß ich Dir's verschweigen
könnte.
Der Entschluß ist also jetzt definitiv gefaßt. Alea jacta est!
Mögen die Götter gnädig die Erfüllung aller
Wünsche und Hoffnungen, die ich davon hege, herbeiführen.
Ich gehe Ende Dezember oder Anfang nächsten Jahres ab und
werde die vier Monate bis dahin noch bestens zur Arbeit benutzen! Und
wozu noch?
Ganz besonders hat es mich gefreut, daß ich dem lieben,
prächtigen Menschen Max Schultze durch dieses mehrtägige
Zusammenleben noch um vieles näher gekommen bin. Er ist jetzt,
nach Johann Müllers Tode, das Ideal eines Naturforschers, auf das
ich meine ganze strebende Kraft hingerichtet habe. Alles, was ich bis
jetzt von Max Schultze kenne, von seinen ausgezeichneten,
wissenschaftlichen Leistungen, wie von seinen liebenswürdigen,
menschlichen Eigenschaften, von seinem kindlichen, unbefangenen
Natursinn, seinem Benehmen als Lehrer und Freund, wie von seinem
allerliebsten Familienleben, nimmt mich so unbedingt für ihn ein,
daß ich mir vorgenommen habe, in jeder Beziehung ihm
nachzustreben. Und am meisten hat es mich gefreut, daß Max
Schultze mich auch gern hat und meine Neigungen und Strebungen
versteht.
Auch mit Gegenbaur, unserm gastfreien, liebenswürdigem Wirte,
bin ich in diesen acht Tagen noch recht bekannt geworden und habe
manche liebe, neue Seite an ihm entdeckt. Denke Dir, wenn ich nicht
nach Italien ginge, könnte ich jetzt bei ihm Prosektor werden, mit
250 Taler Gehalt und freier Wohnung. Wäre das nicht reizend? Der
Gedanke stieg mir anfangs, mit tausend anderen herrlichen
Träumen wie ein Lichterbaum aufsprießend, so zu Kopf,
daß ich fast an meiner Reise irre geworden wäre und auf
einmal ein ganz anderes Gebiet betreten hätte. Doch besitze ich
glücklicherweise neben meiner idealisch träumerischen
Einbildungskraft noch Besonnenheit genug, um über dem so
naheliegenden Guten nicht zu vergessen, nach dem entfernteren Besten
zu streben.
Berlin, 24.8.1858
Ja, Du hast es eher gewußt als ich selbst, meine Änni,
daß ich Dir ganz, ganz angehöre! und lange schon! Wie ihr
Frauen überhaupt in Sachen des Gefühls und Gemütes
einen viel feineren, klareren Blick, ein viel zarteres, richtigeres
Empfinden besitzt, so hast auch Du, mein einziges, liebstes
Mädchen, das einzige, das ich je geliebt habe und je lieben werde,
schon lange, ehe es mir selbst klar und bewußt war, gewußt
und erkannt, was wir beide füreinander sein könnten, und
wie wir es schon waren, wie ich in der Tat Dir Herz und Sinn ganz
zugewandt hatte. Du wußtest schon lange, was mir jetzt erst klar
geworden ist und mit jedem Tage klarer wird. Ich wollte die Liebe
leugnen, von der ich doch schon ganz beherrscht war; ich wollte mit dem
Verstande begreifen und als nichtig hinstellen, was nur durch die Tiefe
des Gemüts erfaßt werden kann. Wenn ich noch einmal ganz
wieder aus der Nacht des naturalistischen Materialismus, in die mich
mein naturforschendes Streben, das nur durch sinnliche, empirische
Anschauung die Wahrheit erfassen wollte, hinabgeführt hat, wenn
ich aus diesem düstern, hoffnungslosen Verstandesreich je noch
einmal zum Licht der Hoffnung und des Glaubens, der mir jetzt noch ein
Rätsel ist, hindurchdringe, dann nur durch Deine Liebe, meine
beste, einzige Anna!
Berlin, 26.8. 1858
Am Montag (23. August) abend3 waren wir bei Frau Professor
Weiß, wo jetzt die berühmte Reisende Ida Pfeiffer ist. Es war
mir sehr interessant, sie kennen zulernen. Leider ist sie in einem
körperlich höchst elenden Zustande, da sie seit
fünfzehn Monaten an einer der schlimmsten Formen des
Tropenfiebers leidet, das sie von Madagaskar mitgebracht hat. Sie ist so
elend, daß sie vom Hamburger Hospital aus kaum
herbefördert werden konnte und man nicht weiß, wie sie
weiter in ihre Heimat (Wien) kommen soll. Trotzdem war sie, als wir sie
sahen, geistig höchst munter und lebhaft und freute sich, in mir
einen "künftigen Tropenreisenden" kennenzulernen.
Sie meinte, daß sie noch heute dieselben Reisen wieder augenblicks
antreten werde, wenn sie auch wüßte, daß sie noch
zehnmal elender zurückkommen werde. Solcher Wissensdurst,
durch solche energische Tatkraft gestützt, ist bei einer Frau in der
Tat etwas Außerordentliches, und mein einer innerer Mensch (der
wissenschaftliche nämlich, nicht der liebe!) schämte sich
dabei nicht wenig, als er dachte, daß er auch solche
Tropenpläne so lange und innig gehegt und sie nun so rasch und
leicht um eines gewissen kleinen Wesens willen aufgegeben habe. Und
trotz ihrer Gelehrsamkeit, trotz ihres um fassenden Wissens, einer Welt-
und Menschenkenntnis, die sie z.B. die Dogmen ihrer katholischen
Konfession als blauen Dunst ansehen und verachten läßt, hat
sich diese Frau dennoch eine so liebenswürdige Weiblichkeit, eine
so anziehende, naive, kindliche Natürlichkeit bewahrt, daß
ich nach einer kurzen Unterhaltung nur ungern von ihr schied.
Übrigens verschlimmert sich ihr Zustand noch immer mehr, so
daß die Ärmste vielleicht nicht einmal in ihrer Heimat, deren
sie mit rührender Anhänglichkeit in dem gemütlichen
Wiener Dialekt gedachte, sterben wird. Der ganze Besuch hat mich sehr
ergriffen.
Berlin, 2.9. 1858
Meine Freunde, namentlich Hartmann, hatten mich schon lange
gequält, einmal wieder eine Exkursion mit ihnen zu machen. Ich
hatte aber gar keine rechte Lust (vielleicht rätst Du warum?) und
schob es immer wieder hinaus. Endlich konnte ich es aber doch nicht
mehr abschlagen, zumal sie mir immer vorhielten, daß dies wohl
die letzte Exkursion sein würde, wenigstens in diesem Jahre, die
ich mit ihnen gemeinsam machte. Und da heute nach vielen kalten und
regnerischen Tagen zum erstenmal eine schöne Herbstsonne vom
klaren Himmel schien, so machten wir uns auf den Weg, und in der Tat
konnten wir es nicht bereuen, so wurden wir belohnt durch guten Erfolg
und erfreut durch muntere, liebe Geselligkeit.
Um ein Uhr mittags rückten wir, sechs Mann hoch, vom Museum
aus: Martens, Hartmann, v. Bezold, Chamisso, ich und Graff, der Diener
und Gehilfe an unserem anatomischen Museum, ein sehr lieber, netter
Mensch, sehr gebildet und ein echter, leidenschaftlicher Naturfreund
und Forscher. Wir fuhren zuerst bis Charlottenburg und gingen von da,
teils durch Sandheide und Kiefernwald, teils über hübsche,
feuchte Wiesengründe und grünes, frisches
Laubgehölz, nach Tegel. Die Parallele mit unserer ersten (und
bisher einzigen) Exkursion dieses Sommers nach Tegel (am
Himmelfahrtstag) beschäftigte uns lebhaft und lag ins besondere
mir beständig im Sinn, und mit gutem Recht! Erinnerst Du Dich
vielleicht noch, mein liebes Herz, was das für ein schwerer,
trauriger Tag für mich war? Wie da alles zusammenkam, um mir
den eben erst geschlossenen Bund unserer Herzen, der doch so ganz
natürlich und ohne unser und anderer Zutun herbeigeführt
war, als unglücklich, ja als unmöglich er scheinen zu lassen?
Noch jetzt erschrecke ich, wenn ich an die Qualen denke, mit denen mein
kleinmütiger Zweifelsinn mich damals folterte, so
unerträglich, daß ein rascher Tod mir als die
größte Wohltat erschienen wäre! Und wie ist das
seitdem alles anders geworden! Wie hat sich mein Zweifel in Hoffnung,
meine Furcht in Freude verkehrt! Der sichere, vollkommene Besitz
Deines lieben Gemüts, dessen ich damals nicht würdig, nicht
fähig zu sein glaubte, macht mich jetzt so glücklich, daß
durch ihn allein das Leben, an dem ich schon ganz verzweifelte, mir
wieder lieb, wert und hoffnungsreich wird!
In Saatwinkel traten wir an den Tegeler See, auf den man nach beiden
Seiten hin, längs der wald- und gebüschbekränzten
Ufer, einen sehr hübschen Blick hat. Nachdem wir unter vielen
Scherzen Kaffee getrunken, nahmen wir einen Kahn und fuhren damit
ein paar Stunden auf dem See herum, um mikroskopische Tierchen und
Pflänzchen zu fischen. Wir fanden eine Menge herrlicher
Alcyonellen, der kleinen, reizenden Federbuschpolypen (Bryozoen), die
ich auch von Rüdersdorf mitgebracht hatte. Sie saßen mit
wunderschönen Rädertierchen, Schneckenembryonen usw.
an der Unterseite der großen Seerosenblätter in
prächtigen, stemförmigen Kolonien. Auch allerliebste
Anneliden, kleine, reizende Röhrenwürmchen, Naiden,
muntere, bewegliche, liebe Tierchen, schlängelten sich in Menge
durch das Wasser. Sonderbar, daß ich jetzt diese, früher mir
gleichgültige Klasse so bevorzuge. Bezold und ich erquickten uns
durch ein prächtiges Schwimmbad vom Kahn aus, wobei ich schon
die Freude des Seebads im Vorgefühl genoß. Den Rest des
Abends saßen wir noch sehr fröhlich und munter am Ufer
des Sees, bei schöner Abendbeleuchtung, mannigfaltig gestalteten
Wolkengruppen, die sich in der klaren Wasserfläche
widerspiegelten. Ebenso war auch der Rückweg durch den Wald,
über Moabit, bei prächtigem Sternhimmel über uns
(der liebe Mond kommt jetzt leider so spät), ganz allerliebst, und
ich war den ganzen Nachmittag so ausgelassen lustig, daß meine
Freunde es gar nicht begriffen, bis sie es zuletzt der "Jenenser
Braut", die jetzt schon stereotyp wird, in die Schuhe schoben. Da
mir der Mund doch immer von Dir Liebsten, die mein ganzes Herz
füllt, überfloß, so ging ich darauf ein und wurde nur
immer lustiger. Fast die Hälfte des Heimwegs wurden
beständig Studenten- und Volkslieder gesungen, wobei ich meist
zuerst anstimmte. Als ich bei dem Liede: "Stoßt an, Jena soll
leben" - den Vers "Stoßt an, Frauenlieb lebe, hurra
hoch! Wer des Weibes weiblichen Sinn nicht ehrt, der ist des Namens
Mann nicht wert"- ganz allein sang, und mit so begeisterter,
jubelnder Stimme, daß es den ganzen Wald durchklang, da brach
auch Hartmann heraus: "Na, da haben wir's, nun bin ich aber
wirklich überzeugt, daß er gänzlich verliebt ist!" -
Berlin, 4.9.1858
Heute abend habe ich endlich auch dem lieben Martens unsere
Verlobung mitgeteilt, was mir schon lange sehr am Herzen lag. Ich
mußte durchaus mit einem meiner Freunde darüber
sprechen, und Martens hat mich so sehr lieb, ist ein so edler, lieber,
prächtiger Mensch, eine so reine, kindliche Naturseele, daß er
dies Vertrauen vor allen verdient. Du kannst Dir denken, was er
für Augen machte! Zwar hatte er manches schon erraten; doch
hatte er sich nicht zu dem Gedanken verstehen können, daß
Du meine Braut seiest, weil er mir nicht den Leichtsinn zutraute, bei den
so sehr ungewissen und zweifelhaften, düsteren Aussichten, die
meine Zukunft in bezug auf eine sichere Stellung bietet, sowie bei
meinen bekannten, tropischen Reiseplänen, ein so
verantwortungs- und verpflichtungsvolles Verhältnis einzugehen.
Im ganzen aber freute er sich sehr darüber, pries mich sehr
glücklich und ist nun sehr gespannt, Dich näher
kennenzulernen.
Daß Du meine Alpenreise liest, und mit Vergnügen, freut
mich sehr. Es war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens,
und die Briefe sind der getreue Abdruck der großen, edlen und
tiefen Empfindungen, die die herrliche Alpennatur in der Brust eines
jeden empfänglichen Menschen hervorrufen muß. Man
fühlt sich in diesen riesigen, mit den reizendsten Alpenblumen
geschmückten Gletscherhöhen so hoch erhaben über
alles Kleinliche - Städte, Menschen, Staub - selbst so gereinigt,
veredelt, groß und gut, daß man dem Ideale der Gottheit ein
ganz Stück sich nähergerückt glaubt. Was werden das
für selige Augenblicke sein, in denen ich mein bestes, liebstes
Menschenherz in dies Heiligtum einführe und ihm die edelsten,
reinsten, größten Genüsse mitteile, deren der Mensch
fähig ist!
Berlin, 5.9.1858
Ich werde also Dienstag, 7. September, früh von hier abfahren,
um zwei Uhr mit dem Neptun von Stettin, und zwischen fünf und
sechs Uhr werde ich in Swinemünde in die Arme meiner Anna
stürzen! Schatzchen, hüpft Dir nicht das Herz vor Freude?
Noch fünf undfünfzigeinhalb Stunden! Bestes Herz, ich
weiß mich vor Freude, Sehnsucht, Ungeduld, Unruhe usw. nicht zu
lassen! Oh, Du allerliebster Schatz! Was werden wir glücklich sein!
Die Feder will nicht mehr fort! Der Geist der ungeduldigen Liebesfreude
hat auch sie ganz ergriffen. Darum alles andere mündlich!
Fünfundfünfzigeinhalb Stunden! Wie lange noch! Nein, wie
kurz! Also auf Wiedersehen, süßestes Herz! A revederci,
dolcissima cuore!!! Schatzchen, ich sprudele so über vor Freude
und Hoffnung, daß ich die zwei Tage über wohl nichts als
dummes Zeug machen werde.
Noch tausend Grüße und Küsse, Dein
glücklicher
Ernst.
AN EINEN FREUND
Anna Sethe
Ernst Haeckel
Dr. med. und prakt. Arzt
Verlobte
Heringsdorf und Berlin, den 14. September 1858.
Du wirst vielleicht Deinen Augen beim Anblick obiger wenigen, aber
inhaltsschweren Worte, nicht recht trauen, lieber Freund, und deshalb
füge ich einige Worte zur Erläuterung bei.
Was zunächst mein Bräutchen betrifft, so könnt Ihr
Euch schon a priori denken, daß solch ein wunderbares Wesen ein
Ausbund von Naturwüchsigkeit sein muß und mit allen
möglichen Tugenden begabt, die man an den meisten jetzigen
Kulturmenschen, wenigstens hier, vergebens sucht; denn sonst
hätte ich mich nimmermehr verführen lassen können,
meinen Grundsätzen so zuwiderzuhandeln. Übrigens kenne
ich sie schon sehr lange, da sie zugleich meine Kusine und die
jüngste Schwester meiner Schwägerin ist: ein echtes,
deutsches Waldkind mit blauen Augen und blondem Haar und
begeistertem Natursinn, klarem Verstand und blühender
Phantasie. Von der sogenannten höheren und feineren Welt hat
und hält sie gar nichts, was ich ihr um so höher zurechne, als
sie darin auferzogen wurde. Sie ist vielmehr ein gänzlich
unverdorbenes, reines Naturgemüt, wie ich nur Euch allen
ebenfalls ein solches für Euer späteres Leben
wünschen kann. Seit einem Jahr sind wir fast täglich
wenigstens eine halbe Stunde zusammen gewesen, so daß wir uns
gründlich kennen und mit jedem Tag lieber gewinnen. Vielleicht
seht Ihr aus Eurer wissenschaft lichen Vogelperspektive das alles noch
mit sehr ironischem Blick an. Indes kann ich Euch versichern, daß
ich das früher auch tat und nun doch gänzlich anderer
Ansicht geworden und sehr glücklich darüber bin. Also folgt
nur meinem guten Beispiel. - Was übrigens den praktischen Arzt
betrifft, den meine Alten mir als schuldigen Titel angehängt haben
(damit jedermänniglich überzeugt sei, daß ich das
Fegefeuer des Preußischen Staats - Examens durchgekostet habe),
so ist's damit natürlich nicht so schlimm gemeint und ich denke
nicht daran, jemals meine Mitmenschen durch Dosieren von
Medikamenten unglücklich zu machen. Vielmehr schwebt mir
noch immer die akademische Laufbahn als höchstes und einziges
Ziel vor Augen. Nur werde ich jetzt noch um vieles energischer darauf
lossteuern. Vorläufig gehe ich im Januar auf ein Jahr nach Italien,
um im Frühjahr in Florenz und Rom Kunst, dann im Sommer in
Neapel und im Winter in Palermo und Messina Naturstudien zu treiben.
Besonders werden mich wohl die Gewebe der Weichtiere und anderer
niederer Seebestien beschäftigen. Nach der Rückkehr werde
ich mich wohl habilitieren und warten, bis mir Fortuna so eine kleine
Professur der Zoologie zuschickt. - Die Pläne des verflossenen
Sommers wurden mir durch Johann Müllers Tod (für mich in
specie der herbste und unersetzlichste Verlust) gänzlich
zerstört und ich war genötigt, in den verlassenen
Räumen seines öden Laboratoriums für mich allein zu
arbeiten, wobei ich wenigstens das Glück genoß, seine
köstlichen Sammlungen noch möglichst benutzen zu
können. -
ALEXANDER BRAUN AN SEINE FRAU
Swinemünde, 21.9. 1858
In Heringsdorf angekommen erfrugen und fanden wir bald das
Sethesche Haus "Wald und See", wo wir die ganze
Haeckelsche und Sethesche Familie beim Kaffee vereinigt fanden, an
dem wir sogleich teilnahmen. Dr. Haeckel, der einen dickverbundenen
Hals hatte - er war mehrere Tage an einer Halsentzündung krank -
stellte mir seine Braut vor, ein freundliches, lebhaftes Wesen. Ich sagte,
daß ich nur nach Heringsdorf gekommen sei, um meinen
Glückwunsch anzubringen. Die ganze Familie war sehr freundlich.
Das Haus hat eine der schönsten Lagen in Heringsdorf und eine
herrliche Aussicht.
Berlin, 23.9. 1858
Einen recht schönen, guten Morgen, mein lieber Schatz!
Hoffentlich scheint Dir die prächtige Morgensonne vom
wolkenlosen Himmel recht ins Herz hinein und verscheucht den
trüben Schatten, der sich über das Glück unserer
letzten vierzehn Tage gelegt hat. Bei mir will ihr das zwar nicht recht
gelingen, das traurige Ende unserer so schön begonnenen Freude
hat mich recht gründlich verstimmt, und da ich nicht sprechen
kann, habe ich gestern den ganzen Reisetag über den Grimm und
Ärger recht tief in mich hineinfressen lassen. Freilich, waren die
ersten acht Tage wunderschön, aber ich hatte doch von den
zweiten noch viel mehr gehofft, da ja nun mit der Publikation unserer
Verlobung am vierzehnten auch die letzte und einzige Schranke gefallen
war, welche unsere beiden Seelen noch trennte. Dazu hatte ich immer im
geheimen noch gehofft, Vater zu bewegen, mich ein paar Tage
länger hier zu lassen. Das hat nun leider alles nicht sein sollen, und
wir müssen uns mit den all gemeinen Redensarten trösten,
deren ja die Menschen für solche Fälle eine Menge erfunden
haben...
Ein Uhr mittags
Soeben war Quincke hier und hat mir noch zirka acht Tage Arrest
prophezeit, ehe die Geschichte ganz vorüber ist. Die Diagnose:
"Stomatitis catarrhalis" d. h. katarrhalische Entzündung
der Mundhöhle, war übrigens richtig, und in der Behandlung
hat er auch nichts Wesentliches geändert. Sie bleibt bei
Boraxgurgelwasser. Dabei möglichst wenig essen und sprechen.
Also noch eine angenehme Aussicht für die nächste Woche!
Gut wenigstens insofern, als ich nun von Besuchen und Gratulationen
verschont bleibe, und inzwischen wirklich einmal tüchtig in die
Arbeit gehen kann, womit ich heut noch beginnen will.
Berlin, 26. 9.1858
Es ist wirklich ein wunderbares Ding um die Liebe, wie sie den
Menschen umwandelt. Ich kenne mich wirklich selbst nicht mehr. Kaum
bin ich jetzt von Dir fort und denke nun schöne Muße zu
fortlaufender Arbeit zu haben, so ist mir diese schon wieder ganz
zerstückt, denn dazwischen tritt gleich wieder immerfort der
Gedanke: Wann werde ich sie wiedersehen? Nur nach diesem Ziele wird
die Zeit berechnet, nur nach ihm streben alle Gedanken sehnend hin.
"Mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir
zerstückt!" Anna, meine Anna, was hast Du aus mir gemacht?
Und wie soll das im nächsten Jahr werden? Mir schaudert bei dem
Gedanken und ich wage ihn, mit allen seinen schrecklichen
Konsequenzen, gar nicht auszudenken. Wie soll ich Dich, mein ganzes,
einziges Leben, ein ganzes Jahr entbehren können, Dich, von der
mir jeder Trennungstag schon jetzt aus dem Leben gestrichen erscheint.
Oh, wenn Du wüßtest, wie bleischwer mich dieser Gedanke
jetzt oft packt und niederdrückt, fast bis zum Ersticken! Und doch
muß es, muß es geschieden sein! Ich fühle nur zu sehr,
wie notwendig es ist, daß ich durch neue große Kunst- und
Natureindrücke aus dem süßen Gefühlsleben, aus
der schwärmerischen Traumwelt gerissen werde, in der ich jetzt
ganz aufzugehen und zu zerfließen drohe. Was sollte wohl aus uns
werden, wenn ich so, wie in den letzten Monaten, fortlebe? Mir wird
jetzt in der Tat zuweilen sehr bedenklich zumute, wenn ich sehe, wie ich
eigentlich in dem ganzen Sommer nur negative Fortschritte gemacht
habe. Vergessen und verlernt die Masse! Und was das Schlimmste ist,
auch das alles andere in den Hintergrund drängende Interesse an
der Wissenschaft, das mich sonst über alle rauhen Klippen leicht
hinweghob, hat nun einem gewissen andern Interesse entschieden
weichen müssen und steht erst hinter diesem in zweiter Linie. Und
je mehr ich mich bemühe, den alten Studien ihren lieben Reiz
wieder abzugewinnen, desto klarer fühle ich, daß ein weit
mächtigeres Etwas jetzt alle meine Sinne und Gedanken gefesselt
hält!
Indes, noch ist nicht alles verloren und vielleicht gelingt es meinen
schwachen Kräften doch, diese beiden mächtigen, jetzt um
mich kämpfenden Prinzipien, Liebe und Wissenschaft, wieder zu
versöhnen und zu ihrer beiderseitigen Verherrlichung zu
vereinen. Die Liebe soll mir Kraft und Ausdauer verleihen, im Dienste
der Wissenschaft tapfer nach dem vorgesteckten Ziele zu ringen, und
diese soll mir andererseits die Mittel in die Hand geben, jene zu
belohnen und zu krönen. So, mein bestes Herz, wollen wir von der
italienischen Reise alles hoffen, und auch das Viele, Schwere, Bittere, das
sie mit sich bringt, gern und freudig ertragen im Hinblick auf die zu
hoffenden Früchte.
Jetzt begleite ich Dich in unsere reizende Solitude, wo wir heut vor
vierzehn Tagen einen so sonnenvollen Sonntagmorgen genossen, wie ich
mich keines zweiten zu erinnern weiß. Mein munteres, frisches Reh
hüpft an meiner Seite lustig und frei über Stein und
Wurzeln, schlüpft leicht durch Dorn und Dickicht. Da gehen wir
bald über die frischbetaute Waldwiese, bald über die rote,
blumige Heide. Hier erfreuen alte, graue Buchen und rote
Kiefernstämme mit malerischem grünen Dach unser Auge,
dort jubeln wir über die hellen Sonnenstrahlen, die in der dichten,
jungen Buchenschonung an den tausend weißen Stämmchen
und den Millionen frischgrünen Blättchen sich brechen und
zersplittern und überall hierhin und dorthin die herrlichsten
Blinklichterchen und Schlagschatten aus streuen, die bei jedem leisen
Säuseln des Windes beweglich und fast lebendig hin und her
tanzen und Leben und Licht in die dichten Waldmassen bringen. Jetzt
setzen wir uns auf die grüne Moosbank, und Dein wehender Atem,
Deine warme Wange an der meinen verkünden mir in jeder
wonnevollen Sekunde das süße, unaussprechliche
Glück, das ich in meinen Armen halte, fest und sicher, als
könnte ich es nie, nie verlieren. Dann lagern wir uns auf meinem
treuen, alten Plaid auf das natürliche Waldbett, mit trockenem
Buchenlaub gepolstert, das seitlich am Abhang, am Fuß der beiden
alten Stämme, für uns ausgehöhlt ist, und blicken
durch die tausend kleinen und großen Lücken zwischen den
runden, grünen Blättern in den tiefblauen, wolkenlosen
Himmel hinein, dessen helle Sonne das glücklichste Paar so
wonnevoll bescheint, als freute sie sich mit ihm. 0 Anna, das waren
Augenblicke, die ich nie, nie vergessen werde, Augenblicke des
höchsten menschlichen Glücks, die glücklichsten
darum, weil sich das Individuum selbst dabei ganz vergißt, sich
rein und ganz ablöst von der Hülle der elenden
Persönlichkeit, in die es gebannt ist, sich über sich selbst
erhebt und ganz aufgeht in dem vollen und reinen Anschaun des
andern, im Genuß der absoluten Hingabe an das andere. Man
vergißt Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft...
Ich kannte auch schon früher wohl solche Momente, und Du wirst
vielleicht in meiner Alpenreise zuweilen daran erinnert werden. Wenn
ich nach mehrtägigem, mühevollem Steigen und Klettern
über Berg und Tal endlich einem höchsten Tauernpunkt
mich genähert hatte, wenn ich durch Bäche und
Waldsümpfe, über Stein und Fels, über Gletscher und
Schneefelder schweißbedeckt und schwerbepackt
hinaufgeklommen war, und nun, da der Kräftevorrat fast
verbraucht war, die Schenkel zitterten, die Knie einknicken wollten, den
Schultern die Last unerträglich war, wenn dann auf einmal der
höchste Punkt erreicht war, wenn das befreite Auge, 8-9000
Fuß über dem Meere, weit über alles Menschengetriebe
erhaben, mit einem einzigen seligen Blick die Wunderwelt umfaßte,
welche ringsum in magischer, wunderbarer Größe,
Schönheit und Mannigfaltigkeit das kleine Erdenrund bedeckte,
wenn der Horizont von einem ganzen Lager von spitzen Eiszelten, der
Mittelgrund von einem vollen Gewimmel von Bergkuppen, und die
bunte Tiefe zu den Füßen mit Seen, Wäldern und
Matten bunt durcheinander bedeckt war, wenn das kleine
Selbstbewußtsein, von der Größe der Natur vernichtet,
vollkommen in ihr aufging, da, in solchen seligen Momenten
unmittelbarsten, großartigsten Naturgenusses, war auch alles, alles
andere vergessen, da war ich rein und vollkommen glücklich, weil
ich mich rein und vollkommen dieser Größe hingab, da war
mit einem Schlag Müdigkeit, Schmerz und das kleine und
große Ungemach vergessen, ohne das sich solche Genüsse
nicht erkämpfen lassen. Ich konnte nur jubeln und jauchzen und
mein Entzücken in die Schluchten der Berge und in die Schrunden
der Gletscher hineinrufen. Und das Glück konnte da nur so
vollkommen sein, weil ich mit meiner großen, einzigen Natur allein
war, weil kein anderes menschliches Wesen durch seine störende
Gegenwart, durch prosaische Einsprache oder triviale Philistereien die
wundervolle Harmonie störte und mich daran erinnerte, daß
ich selbst zu dieser traurigen Rasse gehöre. Ein einziger Mensch,
selbst wenn er nicht spricht, kann mir schon durch seine bloße
Erscheinung einen Genuß vollkommen stören und eine
Disharmonie in das Bild bringen, die sich nicht wieder ausgleichen
läßt. So ging es mir in Helgoland und in Nizza oft mit dem
Meere. Wenn ich abends ganze Stunden oben auf den zackigen, roten
Klippen verträumte, bald dem ewig neuen und
veränderlichem Spiel der nie ermüdenden, brandenden
Wellen an dem zerrissenen Ufer, bald dem wundervollen Farbenspiel
der sinkenden Sonne auf der weiten, unermeßlichen Fläche,
die mit den schönsten blauen, grünen, violetten
Farbenringen geziert war, zuschaute, wenn dann eine unendliche, selige
Ruhe alles wilde Wogen der unruhigen Gedanken zu einem glatten
Spiegel besänftigt hatte, dann konnten oft solche Momente
seligsten Selbstvergessens eintreten, in dem der Geist gleichsam nur ein
Bild der ganzen Natur ist; - dann dauerte es aber leider
gewöhnlich nicht lange, so kamen ein oder ein paar Menschen
dazu (meist noch die schreckliche Abart, welche man Badegäste
nennt) und störten die ganze Illusion, und man war mit einemmal
mitten auf den Boden der nüchternsten Wirklichkeit versetzt, zum
traurigen Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit.
Nicht minder schön und erhebend hat oft, wenn auch in anderer
Art, die unmittelbare, volle Anschauung der Natur im kleinsten Raum
auf meine Sinne gewirkt und mich über mich selbst erhoben, als
ich durch mein großes Mikroskop in die zahllosen, unendlich
mannigfaltigen Wunder eingeführt wurde, die die Struktur der
Pflanzen und Tiere in ihrem elementaren Zellenleben verbirgt. Auch da
verliert sich oft der Geist vollkommen in der unbegreiflichen
Größe und Vollendung der Natur, und das bewußte Ich
geht absolut auf in dem Versuche, diese Natur zu begreifen, oder
mindestens sie möglichst rein zu genießen. Nur mit diesen
wonnevollen Augenblicken glücklichster Selbstvergessenheit, wie
sie mir die Alpen, das Meer, die mikroskopische Wunderwelt, die Natur
in ihren reinsten und größten Offenbarungsformen so oft und
so selig gewährt hat, nur mit diesen kann ich die unnennbare
Wonne, das selige Entzücken vergleichen, das mir Dein Besitz, Dein
Genuß bereitet hat, mein bester, einziger Schatz. In Dir, in Deinem
reinen, treuen, liebevollen Sinne gehe ich so ganz auf, mein Herz,
daß alle anderen Gedanken, Gefühle, Regungen dabei
schweigen und vergehen. Wenn ich in Dein treues, blaues Gedankenauge
sehe, Deine warmen, weichen Lippen fühle, Deine feste, sichere
Hand halte, dann weiß ich nichts von mir selbst mehr, ich bin ganz
der Deine und als solcher glücklich
Montag, 27. 9. 1858
Ich durfte heute früh zum erstenmal ausgehen, und da war
denn mein erster Gang zu Hartmann. Dieser war, wie die meisten andern
meiner Freunde, über meine Verlobung sehr überrascht.
Zwar hatten sie mich zuweilen, wenn ich im Sommer so zerstreut und
verdreht war, mit Verliebtheit geneckt, aber doch nie ernstlich daran
gedacht. Ihr erstes Gefühl, als sie nun die wirkliche species facti
schwarz auf weiß sahen, scheint (wie ich richtig befürchtete)
mehr Bedauern, als Überraschung gewesen zu sein. Wagner hat
bloß geseufzt und kopfschüttelnd gesagt: "Schade um
den netten Jungen!" - Lieberkühn hat stillgeschwiegen,
Chamisso triumphiert, daß ich mich nun doch zum praktischen Arzt
bequemt habe. Dieser letztere, nämlich der "prakt.
Arzt" auf der Anzeige, scheint allenthalben zu nichts als
Mißverständnissen Veranlassung gegeben zu haben, wie ich
gleich anfangs fürchtete. Ich werde eine ganze Reihe Briefe zu
schreiben haben, bloß um den Leuten begreiflich zu machen,
daß ich nicht daran denke, mich durch die Verlobung zum med.
prakt. degradieren zu lassen. Auch Hartmann hatte geglaubt, daß
nun meine ganze akademische Karriere auf dem Spiele stände, und
daß ich zunächst die italienische Reise ganz aufgeben
würde. Erst als ich ihm alles weitläufig auseinandergesetzt
hatte, beruhigte er sich etwas, doch konnte er ein gewisses
mißmutiges Bedauern, das sich hinter seinem Glückwunsch
versteckte, nur schlecht verbergen. Von Bezold wollte er mir gar nichts
sagen. Dieser scheint ganz betrübt darüber zu sein. Kurz, der
allgemeine Eindruck bei meinen nächsten Freunden ist ganz so,
wie ich von Anfang an erwartet hatte und weshalb ich die
Veröffentlichung der Verlobung so gern hinausgeschoben
hätte, bis ich, auf einer solideren Basis stehend, mit einem
tüchtigen Werke in der Hand, oder nach der Reise als Privatdozent,
ihren Befürchtungen mit sicherem Blicke in die Zukunft
hätte entgegentreten können. Alle meinen, daß es nun
mit dem Hauptzwecke meines Lebens so gut wie vorbei sei, daß ich
nun so zerstreut und abgezogen werden würde, daß ich
für die Wissenschaft nicht die Hälfte von dem leisten
würde, was ich sonst ohne Braut wohl zustandegebracht
hätte. Namentlich diejenigen, welche mit mir für das Projekt
der großen Tropenreise schwärmten, sind sehr
enttäuscht. Daß es "der dümmste Streich sei, den
ich gerade jetzt hätte machen können, wo mir die ganze Welt
offen stand", scheint die Ansicht der Mehrzahl zu sein.
Wenn ich noch so wäre, wie vor einem halben Jahre, so
könnte mich jetzt dieser Sturm von Vorwürfen, gerade von
den Freunden, die mir am nächsten stehen und am meisten
wohlwollen, wirklich zur Verzweiflung bringen. Aber sei ruhig, mein
lieber Schatz, so viel hast Du mich schon gebessert (oder wie meine
Freunde sagen würden, heruntergebracht), daß ich das alles
mit leidlich ruhiger Miene und gutem Mute ertragen und anhören
kann und ihnen nur erwidere, daß die Liebe das alles trägt
und überwindet. Hätte ich Dich nicht wirklich so
unbeschreiblich lieb, Du beste, herzigste Anni, daß Deine Liebe mir
eben alles andere, auch was mir sonst das Werteste war, aufwiegt, mir
alles ersetzt, so könnte ich mit meinem Verstand allein das
nimmermehr ertragen.
Berlin, 30.9.1858
Ach, liebste Anni, wenn ich Dich nicht so über alles lieb und
wert hätte, daß dies Glück mir alles an dere aufwiegt,
wenn ich noch der alte Mensch wär, ich hätte in diesen
Tagen wirklich verzweifeln können. Freilich sind Gratulationen
genug eingelaufen, aber meist von Fernerstehenden, selbst von vielen,
die ich nicht leiden kann. Aber daß gerade diejenigen, die mir am
nächsten stehen, die mich wirklich liebhaben und mein Bestes
wollen, daß gerade die fast alle mein Glück so
mißverstehen, daß sie keinen Glückwunsch von Herzen
tun können, daß sie halb mitleidig, halb ärgerlich die
Achseln zucken, das hat mir unendlich weh getan, das hat mich jetzt ein
paar Tage so bewegt, daß ich fast nur den schwärzesten
Gedanken Raum geben konnte, keinen Menschen mehr sprechen mochte,
und nur einen einzigen Wunsch hatte: an Deiner treuen Brust mein Herz
ausschütten und bei Dir mir Trost und Frieden suchen zu
können. Sei ihnen nicht böse darum, mein liebster Schatz,
daß sie mich so quälen; ich habe einen Entschuldigungsgrund
für sie, aber auch nur den einen: Sie haben keine Ahnung von dem
Glück, das in dem völligen, liebevollen Verschmelzen zweier
Seelen, in dem Ineinanderaufgehen ihrer Gedanken und Wünsche
und Hoffnungen liegt. Sonst könnten sie nicht so hart urteilen. Sie
kennen es eben nicht. Ach, hätte ich Dich nur hier und
könnte Dich ihnen ganz und voll so zeigen, wie Du bist, mit Deinem
edlen, sittlichen Wert, Deiner reinen, kindlichen Seele, Deinem
begeisterten, zartfühlenden Natursinn, wie bald hätte ich da
den Toren statt des hoffnungslosen Bedauerns einen freudigen
Glück wunsch von Herzen entlocken wollen!
Freilich wollen unsere Leute in dieser Beziehung ganz anders urteilen
und beurteilt sein als gewöhnliche Menschen, und Du mußt
da den Naturforschern schon etwas zugute halten; ich weiß ja selbst
zu gut, wie ich früher selbst in dieser Beziehung urteilte; unsere
heilige, erhabene, wundervolle Natur und Naturerkenntnis steht uns so
hehr da, daß sie uns hoch über die gewöhnlichen
Alltagsmenschen erhebt, daß wir uns als Personen ihr
gegenüber selbst vergessen und so unendlich niedrig und
unbedeutend vorkommen, daß die Freude und der Genuß des
gewöhnlichen Alltagslebens eben für uns keinen Wert hat.
Wir betrachten uns eben nur als einen zerstiebenden Tropfen im
Weltmeer, als ein Molekül, das in dem ewig umwirbelnden
Kreislauf der Weltensysteme nur ein momentanes Aufflackern und
Verlöschen des Daseins beanspruchen kann. Wir sehen das, worum
sich die gewöhnlichen Menschen abarbeiten, woran sie ihr ganzes
Leben, Streben und Ringen setzen, die vergängliche Ehre, die eitle
Lust, das selbstbewußte Emporstreben über andere, das alles
sehen wir gleichsam nur aus der Vogelperspektive, aus der Ferne,
gleichgültig oder verachtend an.
Gewiß liegt in diesem esoterischen Standpunkt des Naturforschers
der Neuzeit, der mit Mikroskop und Teleskop, mit Wasser und
Reagenzflasche die geheimsten Tiefen des Lebens ans Licht zu ziehen,
durch den Verstand zu erklären sucht, ein gewisser Hochmut, der
aber verzeihlich, weil zu natürlich und zu verführerisch ist.
Dafür, daß uns die gewöhnlichen Lebensgenüsse
der Menschen eben keine Genüsse mehr sind, dafür wollen
wir andererseits entschädigt sein, und diese Entschädigung
finden wir im reichsten Maße in unserer Arbeitstätigkeit, in
dem mühevollen, aber sicheren Eindringen in die verborgensten
Naturgeheimnisse, in einer Vertrautheit des allerinnigsten Umgangs mit
der köstlichen Natur, von der eben die gewöhnlichen
Menschen keine Idee haben. Ich selbst hatte mich in diesen einseitigen,
ausschließlichen Naturkultus bis zum äußersten Extrem
hineingearbeitet. Alles ging mir in dieser Beschäftigung auf, und
ich achtete jeden Augenblick für verloren, der nicht der
verstandesmäßigen Erforschung oder dem gemütvollen
Genusse der Natur gewidmet war.
Da wurde mir mit einem Male eine neue, bisher ungeahnte oder fast
ahnungsvoll gemiedene Seite des Menschenlebens aufgetan: ich lernte
Dich kennen, mein bester Schatz, und unbewußt und unbemerkt
keimte in mir das Bewußtsein auf, daß es auch noch etwas
ebenso Hohes, wo nicht Höheres gebe als das, wonach ich bis jetzt
allein gestrebt, daß es ebensooder noch mehr gelte, sich als Mensch
wie als Naturforscher auszubilden. Und daß ich mich dazu erhoben,
habe, ist einzig und allein Dein Werk, mein herziges Lieb, das ich Dir, je
länger, je mehr, danken werde, später noch viel mehr als
jetzt, wo mir doch zuweilen noch der Mephisto über die Schulter
schaut und mir höhnisch beweisen will, daß das alles Trug
und eitler Schein sei.
Daß ich mir durch meine Verlobung meine wissenschaftliche
Tätigkeit geschwächt, daß ich meiner
Lebensbestimmung dadurch untreu geworden, daß ich mir selbst
die jugendlichen Flügel beschnitten, das freie, ungebundene
Streben gehemmt, daß ich mir da durch den höchsten
Wunsch meines Lebens, die Tropenreise, selbst unmöglich
gemacht, mir selbst untreu geworden - das alles sind Beschuldigungen,
auf die ich wohl gerüstet war und die ich ziemlich leicht
abgeschüttelt habe, weil ich sie mir selbst so oft gemacht, bevor
und nachdem ich den entscheidenden Schritt getan, und weil ich sie mir
selbst widerlegt und überwunden habe. Aber ein anderer Vorwurf
wurde laut, und dieser hat mich diese ganze Zeit hindurch furchtbar
gequält, ja, wirklich fast zur Verzweiflung getrieben; und er kam
aus dem Munde eines Freundes, den ich seines treuen Gemütes
wegen ebenso liebe, als seines sittlichen Wertes wegen achte. Es war das
erste Wort, was er sagte: "Ein unbegreiflicher Leichtsinn! Hast Du
denn bei diesem wichtigsten Schritte, den man nur einmal im Leben tut,
wohl bedacht, was Du tust? Daß Du zu der schweren
Verantwortung Deines einen Menschenlebens Dir noch ein zweites
aufladest? Daß Du die Verpflichtung hast, dieses in jeder Weise
glücklich zu machen und mehr dafür einzustehen als
für Dein eigenes? Und hast Du wohl überlegt, was Du bei
Deinen wissenschaftlichen Bestrebungen für eine Aussicht hast, Dir
eine Existenz zu gründen? Daß Du vielleicht zehn Jahre
habilitiert sein kannst, ehe es bei der jetzigen Überfüllung
unseres überaus anziehenden Lehrfaches irgendeiner kleinen
Universität einfällt, Dich zu einer kleinen Professur zu
berufen, die dann nicht einmal ausreichend ist, um Deine Braut
heimzuführen? Und hast Du wohl bedacht, daß Deine Braut
über diesem vergeblichen Hoffen und Harren in die blaue Ferne
die besten Jahre ihres Lebens verlieren kann und daß sie dann
vielleicht mit einer Existenz vorliebnehmen muß, die ihren
Ansprüchen nicht im mindesten genügt? Nein, liebster
Freund, da begreif ich Dich doch nicht; daß Du so allen ruhigen
Verstand von der wilden Leidenschaft hast fortreißen lassen,
hätte ich nicht erwartet!"
Ach, Anna, das waren Worte, die mir bitter und scharf durch die Seele
schnitten, denen ich nichts erwidern konnte, deren Last mich zu Boden
drückte und erstickte. Leichtsinn - Leichtsinn! tönte es mir
Tag und Nacht in den Ohren wider! Unbegrefflicher Leichtsinn! In dieser
Art hatte ich die schwere Verantwortung unseres Verlöbnisses
doch noch nicht betrachtet. Gewiß war es eine einseitig
übertriebene Ansicht, und doch lag so eine schwere Wahrheit
darin, die mir das Blut nach dem Kopfe trieb, daß ich nicht
antworten konnte. Aber nur zu sehr hatten die schwarzen Gedanken den
düsteren Vorwurf aufgefaßt, und neu verarbeiteten sie ihn
und spannen ihn aus, weiter und weiter, Tag und Nacht.
Einen gewissen Leichtsinn hatte ich früher allerdings besessen -
ich hatte im vollständigen Aufgehen in meiner Wissenschaft, in
meiner Natur, mich selbst vergessen, mein Leben für nichts
geachtet und jedem Zufall preisgegeben, in leichter Sorglosigkeit in
meiner köstlichen Arbeit fortgestrebt, ohne viel danach zu fragen,
ob sie mich einmal ernähren würde oder nicht. Das ist nun
auf einmal alles so ganz anders geworden und ich hatte wirklich damals,
als ich um Dein Leben, Deinen Besitz warb, mir das nicht so scharf und
klar vorgestellt. Jetzt fiel mir diese Verantwortung mit doppeltem
Gewicht auf die Seele. Nach einer sicheren Existenz soll ich streben, und
das bald! Das war mir ein neuer Gedanke. Ach, und wie wenig
fühle ich mich noch dieser Aufgabe gewachsen! Wie ist noch alles
in mir so unreif, so unklar, so widerspruchsvoll und unbestimmt! Ach,
lieber Schatz, je weiter ich den Gedanken verfolge, je mehr ich ihn mir
mit allen Konsequenzen ausmale, desto schrecklicher wird er mir! Die
letzten vier Tage war ich fast zu keinem andern fähig. Leichtsinn,
unbegreiflicher Leichtsinn, rief es mir immer grell in die Ohren, und ich
wußte zuletzt nicht, wo aus, noch ein. Vergebens suchte ich mich in
das Studium der Müllerschen Ideen zu vertiefen, die mich soeben
noch so mächtig ergriffen hatten, vergebens spielte ich mir die
Melodien der lieben, tiefen Volkslieder, die mich sonst so
andächtig bewegen, vergebens sah ich mir meine lieben
Pflänzchen an oder suchte mir angenehme Reisebilder ins
Gedächtnis zu rufen. Vergebens nahm ich Deine lieben, herrlichen
Briefe vor, deren treue, gute Stimme sonst allen Schmerz vergessen
läßt - alles, alles umsonst! Die schwarzen Gedanken wollten
nicht fort, sie wurden je länger, je schlimmer! Alles schien
auseinander zugehen. Aus Deinem süßen Bilde sah mich
Vorwurf und Trauer, nicht Liebe und Lust an. Ich mochte keinen
Menschen mehr sprechen, ihre Glückwünsche klangen mir
wie Ironie, meinen Freunden ließ ich sagen, ich dürfte nicht
sprechen; des Abends schlief ich angstvoll und unruhig ein und wachte
des Morgens nur noch trauriger über dies neubeginnende,
selbstbewußte Leben auf. Zuletzt summte immer nur ein alter Vers,
ich glaube aus Faust, mir in den Ohren:
Hilf du mir, Tod, die Zeit der Angst verkürzen,
Was muß geschehn, mag's gleich geschehn,
Mag alles denn zusammenstürzen
Und sie mit mir zugrundegehn.
... So ging es bis heute nachmittag. Den ganzen Vormittag hatte ich
wieder über der Arbeit gesessen, ohne doch ein bißchen
vorzurücken; da konnte ich es endlich nicht mehr allein mit mir
aushalten und habe dem guten Vater alles ausführlich
ausgesprochen. Er hat mich denn auch beruhigt und getröstet, so
gut er konnte; das wilde, tobende Meer hat sich so ziemlich
geglättet. Ganz ruhig wurde es aber erst, als Dein lieber, lieber
Brief heut abend kam, mein bester Schatz, für den Du tausend,
tausend Dank haben sollst.
Freitag, 1.10.1858
Das war ein trauriger Schluß des schönen Septembers,
seine ganze zweite Hälfte wollte mich mit Gewalt aus dem Paradies
reißen, in das mich die erste versetzt hatte. Nur gut, daß
wenigstens zuletzt Dein lieber Brief und des guten Vaters
vernünftiger, liebevoller Trost die tragische Szene noch leidlich gut
geschlossen haben.
Eigentlich ärgert's mich heute, daß ich Dir a1l das dumme
Zeug, mit dem man mich so trostlos und doch so unnütz
gequält hat, geschrieben habe. Aber Du willst ja Deinen Erni ganz
haben und da mußt Du ihn auch mit allen seinen düsteren
Schattenseiten nehmen. Ich kann Dir nicht helfen; ich kann's schon gar
nicht mehr übers Herz bringen, Dir irgend etwas zu verschweigen,
und ich mußte auch das dumine Herz durchaus ausschütten.
Was hätte ich Dir auch sonst schreiben sollen? Ach, Anni, Du
glaubst nicht, wie trostlos das große Berlin ohne Dich ist! Ich gehe
nur ungern aus der Stube; so nackt und nüchtern und
hohläugig sehen mich die naturlosen Residenzstraßen an, mit
ihren ungemütlichen, hohen Häusern, der dumpfen
Kellerluft, dem unruhigen Gewirr und Gerassel der Wagen und Karren
und den teils philiströsen, teils blasierten, teils raffinierten
Physiognomien ihrer Straßenbürger. Jedesmal, wenn ich aus
der schönen Natur, wie neulich aus dem lieben Jena, hier wieder
einziehe, überläuft mich ein Schaudern.
Berlin, 5. 10. 1858
Gewiß hatte ich auf meinen letzten Brief, in dem ich Dich durch
meine düsteren Klagen vielleicht recht betrübt habe, nicht
einen so lieben, lieben Brief verdient wie der, den Du mir heute
geschickt hast. Hab tausend, tausend Dank dafür, mein herziger
Schatz.
Mein Leben in den letzten fünf Tagen war wirklich recht
glücklich, und zwar nur, weil ich mit den beiden besten
Lebensquellen, aus denen ich schöpfen kann - den Briefen meiner
Herzens-Anni für das Gemüt und den Vorlesungen meines
unvergeßlichen Johannes Müller für den
Naturforscherverstand - den ganzen Tag recht ungestört allein war
und in ihren unerschöpflichen Reichtum mich recht innig
versenken konnte. Was für einen köstlichen Schatz der
erhabensten Ideen, der interessantesten Anschauungen ich in Johann
Müllers vergleichender Anatomie habe, kannst Du Dir kaum
denken. Mein ganzes Streben geht jetzt dahin, mir aus dem Heft, das ich
mir im Jahre 1854 darüber bei ihm nachgeschrieben habe, so wie
aus dem ergänzenden neueren zweier anderer Schüler
desselben eine möglichst vollständige Sammlung aller darin
niedergelegten allgemeinen Ansichten und der Tatsachen in seiner
eigentümlichen Auffassung zusammenzustellen und auszuarbeiten,
Es ist eine schwierige und mühsame Aufgabe, aber gerade dadurch
so interessant und anziehend, und durch die Fülle genialer Ideen,
in die man sich dabei hineinarbeitet, so lohnend, daß diese Arbeit
jetzt für mich der größte Genuß ist und ich mit
wahrer Unersättlichkeit von früh sieben Uhr bis abends
zwölf Uhr da hintersitze. Wenn's nur etwas rascher gehen wollte!
Die Zusammenstellung ist doch zuweilen so verwickelt und die Form
macht soviel Schwierigkeiten, daß ich manchmal über einen
Satz mehr als eine Stunde tüfteln muß. Und da möchte
der ungeduldige Geist wohl zuweilen etwas wild werden. Aber
andererseits hat gerade dieses tiefe Versenken in den Grund einer Idee,
die möglichst weite Verfolgung aller ihrer Konsequenzen etwas
ungemein Reizendes, und ich speziell kann der Versuchung nicht
widerstehen, die tiefste Tiefe womöglich immer bis auf den Grund
auszukosten, wobei denn freilich nach stundenlangem Grübeln oft
weiter nichts herauskommt, als daß der unruhige Faust sich vor die
Stirn schlägt: "Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so
klug als wie zuvor! - Und sehe, daß wir nichts wissen
können!" - Sich so in die tiefen, reichen Ideen eines so
außerordentlichen und genialen Mannes hineinleben zu
können, ist gewiß einer der größten
Genüsse, und ich kann der Mutter Natur wohl dankbar sein,
daß sie mich mit dieser Fähigkeit und mit dem regen Streben
nach dem höheren Allgemeinen ausgerüstet hat, das vielen
meiner Freunde abgeht, die im Speziellen viel tüchtiger sind als
ich. Andererseits hat es freilich auch vieles Gefährliche, da man
sich oft zu leicht verleiten läßt, über dem Ganzen das
Einzelne zu übersehen und vom Allgemeinen zum Besonderen
herabzusteigen statt umgekehrt, wie es die allein richtige, empirische
Methode erfordert. Indes wird sich dieser Fehler immer leicht
vermeiden lassen, wenn man nur mit der geduldigsten Ausdauer und
liebevollsten Sorgfalt die Anschauung und Erforschung auch der
scheinbar unbedeutendsten Naturkörper und Erscheinungen so
intensiv betreibt und durchführt, wie sie es alle vermöge
des Reichtums der wunderbarsten Verhältnisse verdienen, die wir
auch im Kleinsten an ihnen finden. Gerade diese Vertiefung in alle
verschiedenen Wesensseiten eines Geschöpfes, wobei man sich
ganz in den Schöpfungsgedanken desselben hineinlebt, den Plan
verfolgt, der dem ganzen komplizierten Wunderbau zugrundeliegt, die
höchste Weisheit und Zweckmäßigkeit, Feinheit und
Schönheit in der Struktur und Zusammenfügung aller
einzelnen Teile und Organe erkennen lernt, gerade diese
möglichste Ergründung des Einzelnen ist im höchsten
Grade anziehend. Und doch wfrd sie noch übertroffen von dem
Genusse der allgemeinen Idee, die in hehrem Fluge über das
Einzelne hinwegstreift, das Gemeinsame der verschiedenen Einzelwesen
heraussucht, zusammenfaßt und vergleicht und im Abstrahieren
dieser zusammenpassenden Erscheinungen zum Gesetz sich erhebt.
Beide Richtungen sind in unserem unübertroffenen Johannes
Müller zur höchsten Entwicklung gediehen. Er war ebenso
der sorgfältigste Spezialforscher, wie der erhabenste Philosoph.
Aber wenn in später Zukunft sein Name bei vielen Einzelarbeiten
nicht mehr genannt werden wird, wird er noch im
unvergänglichen Lichte strahlen über der Idee des Ganzen
der organischen Schöpfung, die keiner so gewaltig wie er
aufgefaßt hat.
Daß Dir das Lesen der Ilias so viel Genuß gewährt, freut
mich sehr, nur schade, daß Du sie nicht im Urtext lesen kannst, wo
er doppelt groß sein würde. Es gehört der feste,
metallische, reine Klang der alten griechischen Sprache mit ihrer
wundervollen Eigentümlichkeit notwendig dazu. Mir war Homer
schon auf der Schule, wo einem doch die Klassiker durch das Einpauken
ganz zuwider werden, derjenige, den ich mit der größten Lust
und Liebe las (wie unter den Römern nachher Tacitus). Und als
Student habe ich noch oft meine Mußestunden benutzt, um einen
Gesang aus der Ilias oder Odyssee mir wieder lebensvoll ins
Gedächtnis zu rufen.
Daß Jacobis nun hier wohnen, freut mich in vieler Hinsicht auch
für Dich sehr, obwohl ich nicht leugnen kann, daß ich in
anderer mich auch davor etwas fürchte. Nach dem, was man
darüber hört, führen sie doch ein sehr ausgebildetes,
höheres, feines Gesellschaftsleben mit allem Glanz, Luxus und
Überfluß der vornehmen Leute, und wie mir alles das aus
Herzensgrund zuwider ist, weißt Du. Nun fürchte ich zwar
keineswegs, daß Dein reiner, einfacher Natursinn sich durch ein so
verlockendes Beispiel, wie das einer Schwester, sollte verkehren lassen.
Du bist gewiß ebensowenig als ich von all den Firlefanzereien und
Kinkerlitzchen der vornehmen Welt befriedigt; aber doch drängt
sich unter solchen Verhältnissen auch in die einfachsten
Gemüter der Wunsch und das Bedürfnis nach dem und
jenem ein, was das Leben wohl bequemer und angenehmer, aber ebenso
auch komplizierter und bedürfnisreicher macht. Mein Wahlspruch
bleibt aber der des Sokrates: "Wer am wenigsten bedarf, ist der
Gottheit am nächsten~"...
Berlin, 8. 10. 1858
Die letztverflossenen acht Tage haben mir gezeigt, daß ich mich
noch mit alter Kraft und Energie ganz in das Bereich der höchsten
Ideen versenken kann, daß die Fähigkeit und Freude zu
meiner Naturforschertätigkeit, die ich im verflossenen Sommer
durch die ausschließliche Beschäftigung des Gemütes
verloren glaubte, nicht verschwunden ist. In der genauen
Durcharbeitung, in dem tiefen Versinken in die herrlichen, genialen
Ideen Johannes Müllers, in dem Erfassen und Bewältigen
seiner Vorträge, die ebenso durch die Masse des empirischen
Materials, wie durch die philosophische Beherrschung und Durchbildung
desselben ausgezeichnet sind, habe ich zu meiner innigsten Freude mich
überzeugen können, daß ich die Begabung, die Lust und
Kraft dazu, trotz der solange zwischenliegenden Zeit, trotz der jetzt
ausschließlichen Herrschaft der Liebe über das Gemüt,
nicht verloren habe.
Gestern, mein liebster Herzensschatz, wurde ich auch einmal durch einen
sehr lieben, netten Brief von Finsterbusch erfreut, den ich Dir
mitschicke; heb ihn mir aber wohl auf; es ist derselbe alte Schulfreund,
der uns vor unserer Verlobung, Mitte April, zusammen sah und mich
geradezu fragte: "Ernst, sag mir auf richtig, das ist doch Deine
Braut? Sie gefällt mir sehr, ihr paßt gewiß ganz
vortrefflich zusammen." Ich lachte freilich damals darüber,
ohne Ahnung, daß das so bald wonnige Wahrheit werden
dürfte. Daß ich Dich sehr lieb hatte, war mir freilich schon
vor Weihnachten klargeworden; aber ich hatte an Dich immer nur als
eine Schwester gedacht, da Du mir ohnehin schon so nahestandest.
Daß Du, die reife, vollendete, ausgebildete Jungfrau, Dein Herz an
einen noch so in düsterem Zweifel und unsicherer Unklarheit
umhertappenden Jüngling verschenken könntest, der oft
kaum die Knabenschuhe ausgezogen zu haben schien, daran habe ich
wahrlich vor dem seligen Moment, wo es mir mit einem Male ganz und
voll klar wurde, nie gedacht...
Berlin, 10.6.1860
Kaum bist Du achtundvierzig Stunden fort, liebster Schatz, und schon
habe ich Deine unaussprechliche liebe Nähe, in der ich mich so
rasch wieder hier eingelebt hatte, so entbehrt, als ob Du mir schon lange
Wochen und Monate wieder genommen wärst. Ich komme mir in
meinen vier kahlen Wänden so öde, vereinsamt und
nüchtern vor wie ein entlaubter Baum. Und in der Tat bin ich auch
ohne Dich nichts anderes. Denn das Blätterdach der jungen Eiche
ist noch zu schwach, um dem Stamm hinreichenden Schmuck zu
gewähren, und von Früchten ist ohnehin noch keine Rede. Da
ist denn der beste, ja der einzige Schmuck das dichte, reiche grüne
Epheukleid, dessen liebende Ranken den kahlen, dürftigen Stamm
so umschlungen und so mit ihrem dunkelgrünen, hoffnungsreichen
Laube umwoben haben, daß dadurch alle Mängel und faule,
schlechte Stellen des jungen Eichstammes bedeckt und verborgen
werden. Und doch, wie sehr ich Dich auch schon entbehre und wie mich
das Gefühl Deiner Entfernung niederdrückt, überwiegt
doch der beglückende Gedanke, Dich, liebstes, bestes Wesen auf
der Erde, auch in der weitesten Ferne ganz und ungeteilt zu besitzen,
und die süße Hoffnung, einst in der völligen
Verschmelzung mit Dir zu der inneren Reife und befriedigenden
Harmonie zu gelangen, nach der ich auf allen anderen Wegen vergebens
strebe.
Diese beste, höchste Lebenshoffnung muß gerade jetzt mir
doppelt wert und tröstlich sein, wo inmitten der Befriedigung
über die glücklich vollbrachte Reise und der ruhigen
Verarbeitung der mitgebrachten Schätze auch schon die alten
unvermeidlichen Zweifel und Vorwürfe wieder wach werden, der
Gedanke, so viel Gelegenheiten zu weiterer Ausbildung nicht benutzt
und so viele Stunden an unnütze Beschäftigungen vergeudet
zu haben. Diese Vorwürfe haben mich gestern wieder recht
gequält, wo ich die eben heraus gekommene, in der Akademie
gehaltene Gedächtnisrede von Du Bois-Reymond auf Johannes
Müller gelesen, eine ausgezeichnete Arbeit, die auch Dich sehr
interessieren wird. Andere werden durch dieses unerreichbar
große Beispiel vielleicht zu begeisterter Nacheiferung angetrieben.
Auf mich hat aber gerade jetzt dieses leuchtende Bild in dem reichen
Glanze der Du Boisschen Darstellung eher niederschlagend und
entmutigend gewirkt, und ich legte das Buch, nachdem ich kaum ein
Viertel durchgelesen, mit einem matten Gefühl innerer Ohnmacht
aus der Hand und mit dem Bewußtsein, nie auch nur einen kleinen
Teil des von Johann Müller Geleisteten erreichen zu können.
Wie flach und unbedeutend, hohl und nichtig erscheinen mir auch meine
besten Gedanken und fleißigsten Arbeiten gegenüber diesem
Genius, dessen Riesenkraft mir mit erdrückender Gewalt in diesem
Bilde neu entgegengetreten ist. Statt mit rücksichtsloser Energie
den höheren Problemen unserer Wissenschaft nachzustreben,
verliere ich mich in unbedeutenden Nebendingen und vergeude die Zeit,
die nur der ernstesten Arbeit gewidmet sein sollte, mit nutzlosen
Spielereien.
Doch da sehe ich, daß ich auf dem besten Wege bin, durch das
überwältigende Gefühl der Nichtbefriedigung, das
mich jetzt beherrscht, wieder in das alte düstere Gebiet des
Weltschmerzes hinübergeführt zu werden, das ich doch
längst für aufgegeben und unmöglich hielt, auch
wirklich ernstlich meiden will. Und um dem zu entgehen, weiß ich
kein besseres Mittel, als zu Dir, mein bestes Herz, zu flüchten, was
ich für um so nötiger halte, als ein guter, vielleicht sogar der
größte Teil der Mißstimmung auf Rechnung der
erneuten Trennung von Dir zu schieben ist. Aber von dieser darf ich Dir
ja auch leider nicht sprechen, da ich, Quinckes allerhöchstem
Spezialbefehl zufolge, durchaus keine aufregenden
Gemütsäußerungen in meinen Briefen laut werden
lassen darf und mich auf Beschreibung von Krebsen und dergleichen
beschränken soll. Also will ich Dir noch rasch verstohlenerweise
die Neuigkeit ins Ohr flüstern, daß Du mein guter Engel bist,
der mich mit seiner reichen, reichen Liebe aus dem Abgrunde der
Selbstverachtung retten muß, dem ich jetzt wieder zur Beute zu
fallen drohe.
Zu Hause angekommen, fand ich eine Einladung, abends mit den
Aquarellen zu Herrn Peters zu kommen. Dort fand ich eine höchst
gelehrte Professoren-Gesellschaft, unter der ich mich etwas beklommen
und nicht sehr heimisch fühlte. Es waren da. Professor Braun,
Beyrich, Lepsius, Gerhard, Rose, Poggendorf, Ehrenberg, Du Bois, Kaup
aus Darmstadt, Dr. Ewald und der preußische Konsul Rosen aus
Jerusalem. Meine Aquarelle ernteten großen Beifall, besonders die
zwei aus dem Butera-Garten und von Girgenti. Indessen lassen mich
diese Lobsprüche jetzt immer schon ziemlich kalt, und es wird mir
fast langweilig, ewig dieselben Sachen zu explizieren. Die Gesellschaft
war im übrigen so steif und kalt, wie es einer echten
Versammlung Berliner Professoren geziemt, wenn zum Beispiel bittere
Feinde, wie Ehrenberg und Du Bois, bei Tisch nebeneinander sitzen
müssen.
Nachmittag.
Heute früh begegnete mir Virchow, der ausnehmend
freundlich war und mich ein Stück begleitete. Er behauptete, ich
sähe jetzt blonder aus als je und hätte wohl die Absicht, den
deutschen Typus in reinster Ausprägung zu verewigen! Ob er
dabei auch an meine blauäugige Blondine dachte? Er freute sich zu
hören, daß ich auch nach Koburg gehen will, um dort die
schwarz-rot-goldene Fahne des Nationalvereins zu tragen.
Montag früh
Gestern früh griff ich wieder zu Johannes Müllers
Biographie. Als ich erst wieder eine Seite in dem wunderbaren Buche
gelesen hatte, verwickelte ich mich aufs neue so darin, daß ich
nicht wieder los kam und den ganzen Nachmittag und Abend darin
weitergelesen habe. Es ist eigentlich das erste Buch, das ich seit
einundeinhalb Jahren wieder lese, und ich konnte zu diesem neuen
Anfang meines hiesigen Arbeitslebens wohl kein passenderes finden,
keins, das mich durch seinen Stoff mächtiger angezogen
hätte. Jede Seite hat teils eine Reihe alter, schlummernder Ideen
neu geweckt, teils einen ganzen Schwarm neuer erregt, welche ich
suchen werde, lebendig zu erhalten und tätig fortwirken zu lassen.
Wie sehr mich die Schrift anfangs überwältigt und
deprimiert hatte, werden Dir die ersten Seiten dieses Briefes sagen. Fast
fürchte ich darin zu sehr meiner Schwäche und meinem
Hange zu völliger Resignation bei Betrachtung unerreichbar
großer Beispiele nachgegeben zu haben, und schäme mich
heute ordentlich ein wenig, Dich vielleicht durch das Geständnis
dieser Schwäche betrübt zu haben. Gestern hat mich nun das
weitere Lesen und Durchdenken der in ihrer Art einzigen Biographie
wieder etwas ermutigt und namentlich der Gedanke getröstet,
daß den meisten meiner jugendlichen Fachgenossen eigentlich
ähnlich zumute sein muß, wenn sie so ehrlich gegen sich sind
wie ich. Es wäre töricht, den Maßstab eines seltenen
Mannes erster Größe, wie Müller es war, an all das
mittelmäßige Arbeitervolk, unter das auch ich gehöre,
zu legen. Besonders hat es mich getröstet, daß auch Du Bois
diese in ihrer Art einzige Größe Müllers hervorhebt,
vor der alle anderen schwinden. Du Bois sagt.' "Es liegt in der
Massenhaftigkeit von Müllers Schöpfungen, wenn man, wie
unwillkürlich jeder tut, seine eigenen sieben Sachen damit
vergleicht, etwas so Erdrückendes, daß man sich gern nach
seiner Art zu arbeiten erkundigt, in der geheimen Hoffnung, auf
irgendeinen Umstand zu stoßen, der ihm besonders günstig
gewesen sei. Aber man entdeckt nichts der Art; sondern neben den
Naturgaben, durch die er eben mehr vermochte als andere, neben einem
riesigen Arbeitsvermögen, einem erstaunlichen Gedächtnis,
einer wunderbaren Spürkraft und einem schlagend richtigen
Urteil nur einen eisernen Fleiß, der mit äußerster
Entsagung jeden freien Augenblick zu Rate hielt. Es würde um
seine Arbeiten schlimm bestellt gewesen sein, hätte er nicht wie
wenige die Kunst verstanden und geübt, auch den ,Goldstaub der
Zeit' zu nützen."
Das ist sehr richtig, aber just von dieser Kunst verstehe ich gar nichts
und vertrödle und verspiele so viele kostbare Intervalle, daß
ich in dieser Beziehung wirklich ein ganz neues Leben anfangen
muß. Dazu will ich mich jetzt in den Trennungsmonaten eifrig
einüben; denn wenn ich erst wieder in den Zauberkreis Deiner
unwiderstehlichen Nähe, meine reizende Circe, gebannt bin,
werden diese, wie viele andere ernste Vorsätze, ein Spiel des
Windes. Also jetzt, jetzt! muß ich mich durchaus ermannen und
kräftigst zusammennehmen, und in dieser Hinsicht freue ich mich
sehr auf Freienwalde, wo ich ganz und ungeteilt der einen Arbeit werde
leben können. Ist nur erst der schwere Entschluß und der
erste Anfang überwunden, so wird es schon gehen. Aber ehe ich so
recht im Zug bin, das dauert eine ganze Weile, und das Gesetz der
Trägheit, das mein Körper kaum kennt, übt leider auf
meinen Geist einen großen Einfluß. Hierin kann ich mir sehr
Deine rasche, leicht entschiedene Tatkraft zum Muster nehmen und
Deine männliche Energie in der Ausführung. Vielleicht
amüsiert es Dich noch zu hören (ohne daß Du deshalb
wie Mutter entzückt zu sein brauchst), daß auch mein Name
von Du Bois als einer von denjenigen genannt wird, die die
glückliche Wirkung Müllers auf seine Schüler
bezeichnen. Wie sehr solche Erwähnung meiner Eitelkeit
schmeicheln könnte, kann ich sie jetzt doch um so weniger an
erkennen, als die dazu nötigen Leistungen noch nicht vorhanden
sind.
Die ganze Charakteristik Müllers ist übrigens ausgezeichnet
und muß es sein bei dem außerordentlichen Fleiß und
der glänzenden Darstellungsgabe, die Du Bois auf diese Arbeit fast
einundeinehalbe Stunde hindurch verwandt hat. Er hat dazu den ganzen
ungeheuren Berg von Müllers Schriften durchgearbeitet, von
deren Umfang man sich keinen Begriff macht, wenn man die
Durchschnittsrechnung liest, daß Müller von seinem
neunzehnten Jahre an (1821) volle siebenunddreißig Jahre lang alle
sieben Wochen eine wissenschaftliche Arbeit von dreieinhalb
Druckbogen mit etwa einundeindrittel Figurentafeln publiziert hat!! Und
das alles, alles klassische Arbeiten voll neuer, ruhmvoll errungener
Tatsachen. Vor solcher Leistung muß sich auch der Stolzeste
demütigen!
Was mich am meisten mit interessiert hat, ist die Darstellung des tief
tragischen Momentes, das in Müllers Leben, wie in dem jedes
großen Mannes, seine Schattenrolle spielt. Besonders ist hier der
Zug tief innerlicher Schwermut hervorzuheben, eines unbefriedigten
Strebens nach dem Unendlichen, das auch am glücklich erreichten
Ziel der rastlosesten Tätigkeit den aufrichtigen Forscher nie
verlassen kann. Müller hatte das vorgesteckte Ziel nicht allein
erreicht, sondern war vielleicht mehr, als die meisten anderen Genien,
darüber hinausgedrungen und hatte seine Bestimmung in
weiterem Kreise erfüllt, als er gewiß je angestrebt! Und
dennoch konnte auch ihn jener Fluch der Menschennatur nicht
verschonen.
Berlin, Freitag morgen, 15, 6.1860
Heute sind es nun schon acht Tage, liebster Schatz, daß Du mir
genommen bist, acht düstere Tage, die ich samt ihrer Wüste
trauriger Gedanken gern streichen möchte. Wie die Pflanze, der
das belebende Sonnenlicht genommen, bin ich ohne Dich, meine Sonne,
kalt und tot, fühle mich schwach und unwert und kann nicht ohne
Dich wachsen und gedeihen. Du glaubst nicht, wie befangen und
trübe meine Sinne diese ganze Woche waren; so schwer und
traurig, daß ich nicht einmal Dir schreiben mochte, weil ich
fürchtete, daß Du einen so bösen Erni nicht haben und
recht auf mich schelten möchtest. Suche nun den Grund worin Du
willst; ich kann ihn nur in der Trennung von meinem besten
Lebensprinzip finden. Oder wenn Du lieber willst, suche ihn in
veränderter Elektrizität der Luft oder der Nerven, oder was
es sonst Nachdenkliches gibt. Es läuft doch alles in dem einen
Faktor zusammen, daß alle meine Gedanken, wenn sie nicht bei Dir
sind, nur halb so brav und gut sind, und daß ich selbst nur halb
bin. Eine äußere Ursache für meine melancholische
Stimmung, aus der ich mich vergebens herauszureißen und zu
ermannen suche, könnte ich Dir wirklich kaum angeben. Im
Gegenteil habe ich wieder einmal, und in sehr wichtigen Dingen, soviel
Glück gehabt, daß ich von Rechts wegen recht munter und
vergnügt sein dürfte. Aber wie könnte ich das ohne
Dich, meine beste, meine einzige Anni, die zu aller Freude und Lust mein
erstes und letztes, unumgängliches Erfordernis ist. Ach liebster
Schatz, wenn ich Dich erst ganz besitze, dann werden solche böse,
traurige Tage gewiß für immer fort sein und Dein lichtes
Sonnenauge wird die trüben Wolken der Schwermut für
immer verscheuchen. Doch vergiß diesen bösen, subjektiven
Erni und höre, wie es dem objektiven in den letzten Tagen
ergangen ist.
Montag mittag ging ich zu Georg Reimer, der mich durch die unverhoffte
Mitteilung überraschte, daß er sehr gern bereit sei, das
Radiolarien-Werk zu übernehmen und mir dreißig
Kupfertafeln dazu zu bewilligen. Ganz besondere Freude machte mir
aber dabei die Mitteilung, daß er den tüchtigsten unserer
naturwissenschaftlichen Kupferstecher dazu gewonnen habe, Herrn
Wagenschieber, der auch meine früheren Krebstafeln gestochen
hatte. Abends hatte ich eine kleine Gesellschaft, die recht nett war und
der nur Du fehltest, um sie ausnehmend reizend und hübsch zu
machen. Es waren da die beiden Freunde von Allmers, Brücke und
Herr von Doerenberg, welche meine mitgebrachten künstlerischen
Schätze gar nicht genug bewundern konnten, so daß Dir
gewiß die Ohren vom Lobe Deines Erni und vom Preise seiner
glücklichen Braut geklungen haben müssen, Das ging mir
freilich ganz anders zu Herzen als die gezierten Lobsprüche in der
Abendgesellschaft bei Peters. Die beiden Künst1er fanden
natürlich in technischer Beziehung sehr viel an den Aquarellen
auszusetzen. Um so mehr lobten sie aber das Geschmackvolle und zum
Teil Großartige der Auffassung, die Wärme und Innigkeit des
daraus sprechenden Naturgefühls. Am meisten waren sie aber
über die Menge der Blätter erstaunt und meinten, daß
nur wenige Künstler vom Fach in so kurzer Zeit sich soviel
Material sammelten. Da die Lobsprüche von urteilsfähigen
Künstlern aus wahrem offenem Herzen kamen, erfreuten sie mich
sehr, wie mir denn überhaupt das ganze Gespräch sehr viel
Freude machte.
Diese jungen Künstler haben alle in ihrer Unterhaltung etwas
ungezwungen Natürliches, heiter Offenes und phantasiereich
Praktisches, und besonders ich weiß diese Eigenschaften, die den
jungen Gelehrten meist (auch vielen Naturforschern) nur zu sehr ab
gehen, wohl zu schätzen. Ich wurde dabei ganz warm und lebendig
und vergaß die trübe, melancholische Stimmung, wenngleich
die alte Reue, nicht lieber Künstler und in specie Landschaftsmaler
geworden zu sein, mir die leichten Gedanken etwas
verdüsterte.
Dienstag früh war Professor Peters hier, um die zoologische
Sammlung von Messina in Augenschein zu nehmen. Da wurde denn zur
Abwechslung auch einmal der Naturforscher gelobt und in einer Weise,
wie ich es nicht erwartet hatte. Peters konnte die Zahl und
Mannigfaltigkeit der Tierchen, ihre gute Erhaltung und ihr treffliches
Aussehen nicht genug bewundern. Er wollte die ganze Sammlung gleich
für das Königliche Museum erwerben, was ich jedoch nur
teilweise versprach, da ich einen Teil für meine eigenen
Vorlesungen behalten will. Doch ließ er einige zwanzig Flaschen
sofort holen und ließ mir als sofortige Abschlagszahlung einen
Hunderttalerschein zurück! Du kannst denken, was da der Alte
für Augen machte.! Um Dir einen Begriff vom Werte meiner
kleinen Bestien zu geben, will ich nur anführen, daß er jede
der beiden kleinen durchsichtigen Cephalopoden von zwei bis drei Zoll
Länge auf fünfzehn Taler schätzte, jedes der beiden
langen, dünnen Silberfischchen auf zehn Taler, jedes der
durchsichtigen Wurmfischchen (Helmichthyden auf einen Taler.
Dienstag nachmittag ging ich zu Wagenschieber, bei dem ich mehrere
Stunden plauderte. Ich freute mich sehr über das
Verständnis und die richtige Auffassung meiner Zeichnungen und
ganz besonders über die außerordentliche Lust und Liebe,
mit der er an das Stechen der Tafeln ging. Ich hätte in der Tat
keinen besseren und passenderen Kupferstecher dafür finden
können. Die erste ist schon in Arbeit. Sie werden ungleich besser
und künstlerisch richtiger ausgeführt, als meine Zeichnungen
sind. Die architektonische Regelmäßigkeit und die zierliche
Ausschmückung der Radiolarien machen ihm solche Freude,
daß ich darin die beste Garantie für die ganz ausgezeichnete
Ausführung der Tafeln besitze. Ein Jahr wird freilich vergehen, bis
alle dreißig fertig sind. So lange werde ich aber auch mit der
Ausarbeitung vollauf zu tun haben.
Jena, 21.6.1860
Tausend Grüße und Küsse, mein liebster, bester,
einziger Schatz, aus unserem lieben herrlichen Jena, in das ich heute
mittag - mit welchen Gefühlen, kannst Du denken -,
glücklich eingezogen bin... Müssen Dir nicht heute alle
Nerven gebebt, alle Sinne geglüht haben? Ich wenigstens war so
tief und innig von Dir bewegt, daß ich auf der Fußwanderung
von Apolda her Dich jeden Schritt zur süßesten Begleiterin
hatte. Jedes grüne Gräschen, jedes bunte Blümchen rief
mir Deinen Namen zu, jedes linde Lüftchen, das von den lieben
Bergen herabwehte und die heißen Wangen kühlte, war Dein
lieber Gruß, und aus jedem blauen Himmelsfleckchen, das zwischen
den zerrissenen Wolken hindurchschaute, sah mich Dein liebes, treues
Auge inniglich an. - "0 Mädchen, Mädchen, wie lieb ich
Dich, wie bin ich glücklich, wie liebst Du mich!" -
Mein ganzes Herz wird so von hoffnungsgrünen Zukunftsgedanken
bewegt, daß ich fast an deren Erfüllung glaube. Nie ist mir
unser liebes Thüringer Land so reizend wie jetzt erschienen, nie
habe ich so wie jetzt das Glück ersehnt, in diesem kleinen
heimlichen Paradies mit meiner besseren Lebenshälfte für
immer glücklich sein zu können. Du glaubst nicht, wie
reizend sich die Umgebungen des Städtchens machen, die
allerliebsten Promenaden, die es durchziehen; dichte
Rosenblütenmassen, welche die ganzen Straßen mit dem
zartesten Duft erfüllen, im frischesten Grün, das wegen des
vielen Regens in solcher Fülle prangt, daß auch ein durch
Italiens rotgelbe Landschaft nicht verwöhntes und nicht nach
Grün dürstendes Auge sich daran entzücken muß,
wieviel mehr das meinige, das sich an dem frischen Grün gar nicht
satt sehen kann, und das in jedem zartesten Blättchen einen neuen
Bürgen für die endliche Erfüllung seiner
süßesten Wünsche sieht.
Ich bin ein seltsamer Mensch! Aus dem wilden, unruhigen Streben nach
dem Unermeßlichen, Idealen, Großartigen und Weiten drohe
ich jetzt ins gerade Gegenteil umzuschlagen und in der engsten
Beschränkung mein Glück zu suchen, in dem kleinen
deutschen stillen Professorenhaus, wo mein guter treuer Engel schaltet
und waltet und wo ich in entsagender Selbstbeschränkung, im
Besitz des besten Mädchens, das Glück finden kann, das mir
auf allen anderen Wegen verschlossen und verborgen bleibt.
Jena, 22.6.1860
Guten Morgen, mein liebster, süßester Schatz!
Glückauf aus unserem lieben Sehnsuchts- und
Hoffnungsstädtchen! Gegenbaur schläft noch und ich kann
beim Glanz der jungen Morgensonne, in der die Vögel jubilieren,
und beim Duft der Rosen, der in Fülle zu dem kleinen Fenster aus
dem Gärtchen vor dem Hause hereindringt, ungestört mit Dir
plaudern! - So viel hast Du mir gestern und heute beständig im
Sinn gelegen, daß ich oft ganz geistesabwesend bin und Gegenbaurs
und Bezolds Fragen überhöre, wovon sie den Grund
glücklicherweise sehr wohl zu würdigen wissen.
Du wirst nun vor allem natürlich sehr neugierig sein zu wissen,
wie es mit der Habilitation steht. Gestern abend habe ich lange mit
Gegenbaur und heute früh mit Seebeck darüber konferiert.
Beide haben mich äußerst wohlwollend und
entgegenkommend aufgenommen und werden meine Niederlassung in
jeder Weise begünstigen. Besonders in Gegenbaurs Interesse liegt
es, die Zoologie bei seiner Überhäufung mit anderen
Vorlesungen und Geschäften möglichst bald loszuwerden. Er
drängt mich sehr dazu, mich doch ja noch zu Michaelis zu
habilitieren, damit mir nicht etwa sein eigener Assistent und Prosektor,
der ebenfalls Zoologie lesen will, zuvorkomme. Dies ist jedoch ein Mann
ohne Kenntnisse und Lust an der Sache, den ich wohl als Nebenbuhler
nicht zu fürchten haben würde. Immerhin wäre es
für mich besser, wenn ich schon zu Michaelis zu lesen anfinge.
Aber ich sehe nicht die Möglichkeit ein, das Radiolarienwerk bis
dahin fertigzumachen, und das ist jetzt vor allem die Hauptsache. Allein
die dreißig Tafeln werden zwei bis drei Monate kosten, der Text
wenigstens fünf, und dann bleibt noch die Masse anderer Arbeiten
und Geschäfte, die ich, ehe ich nach Jena gehe, ordnen muß.
Auch möchte ich gar zu gern vorher noch Öl malen lernen.
Also wird es doch wahrscheinlich dabei bleiben, daß ich mich erst
zu Ostern habilitiere. Die formellen Schwierigkeiten sind übrigens,
da ich mich in der medizinischen Fakultät habilitiere, sehr gering,
nötig ist nur ein Vortrag und eine Disputation, sonst nichts.
Meine Lust, hierzubleiben, ist bei der Erneuerung der Bekanntschaft mit
den hiesigen Verhältnissen neu erwachsen. Bezold und Gegenbaur
sind gar zu angenehme Gesellschafter und würden sehr liebe
Kollegen sein. Nur hat das wissenschaftliche Übergewicht
derselben mein Selbstgefühl bedeutend herabgesetzt und ich traue
mir kaum zu, ein leidlicher Nachfolger Gegenbaurs zu werden.
Berlin, 26. 6. 1860
Du bist und bleibst nun einmal das Einzige, Liebste und Beste, was
mich an diese Menschenwelt fesselt, und hätte ich Dich nicht, so
würde ich auf einmal der tragischen Komödie dieses
traurigen Lebens ein jähes Ende bereiten und der
trügerischen Erdensonne den Rücken zuwenden. Ach liebster
Schatz, nur in Dir und mit Dir und durch Dich kann ich noch hoffen
glücklich zu werden; so allein für mich komme ich mir so
dürr, hohl und nüchtern vor, daß mir vor mir selbst
graut und ich meinem eigenen Schatten entfliehen möchte. Ich
verzweifle nun aber fast daran, daß das dumme Ding
überhaupt jemals hart werden wird, wenigstens habe ich bei
meinen Härtungsversuchen bis jetzt immer nur das Gegenteil
erlebt. Erst jetzt wieder, wo ich auf der Wartburg ein paar sehr
hübsche Fresken mit der Geschichte des hartgeschmiedeten
Landgrafen (von Moritz Schwind) sah, nahm ich mir's recht ernstlich
wieder vor, das weiche Herz zu härten und rief ihm vielmals
täglich zu: "Herz, werde hart!" Aber es wurde nicht
hart, und die warme Sonne von Jena schmolz mit ihrem Farbenglanz und
ihrer Sommerwärme vollends die schwachen Eisspuren, die etwa
hier und da am Rande sich verdichtet hatten. Du glaubst nicht, wie ich
Dich in unserem lieben Jena zu mir sehnte, und wie mir alles
Schöne und Liebe, was ich dort sah und erfuhr, nur durch den
Gedanken wert wurde, daß ich es künftig einmal mit Dir
teilen könnte.
Wie lieblich mich das herrliche Thüringen, in specie unser
reizendes Jena, in seinem frischen, grünen
Frühlingsschmucke angelacht hat, habe ich Dir schon neulich
geschrieben. Das wunderschöne Saaletal hat mich über allen
Ausdruck erfreut und erquickt, und wenn ich dabei die Trennung von
Dir doppelt empfand, so erfreute mich um so mehr die Hoffnung, es
künftig mit Dir gemeinsam zu genießen. Ach, lieber Schatz, Du
kannst Dir kaum denken, wie sehnsüchtig ich Dich da allenthalben
herbeiwünschte und wie selig mich der Gedanke machte, hier
wirklich einmal die süßesten Hoffnungen erfüllt zu
sehen. Einige Goethesche Lieder, die ja zum Teil in diesem Tal
entstanden sind, wollen mir gar nicht aus dem Sinn, und besonders der
Vers: "Hier ist mir das Tal gefunden, wo wir einst zusammengeh'n,
und den Strom in Abendstunden still hinuntergleiten seh'n. Diese
Blumen auf den Wiesen, diese Pappeln in dem Hain, ach, und hinter
allen diesen wird ja unser Hüttchen sein!" - Und dann
jauchzte ich und jubelte, daß das Echo von allen Talwänden
den holden Namen "Anni!" zurücktönte und
daß Dich die Wiesen und Bäume schon jetzt lieb haben
müssen. Dazu sind die Menschen dort so lieb und nett, daß
man ordentlich Lust bekommt, mit ihnen zusammen zu leben, und
besonders würde ich an Bezold und Gegenbaur die besten Freunde
haben. Auch ist Gegenbaur ein so fester, energischer, männlicher
Charakter, daß gerade sein Einfluß meinem
mädchenhaften, weichen und wohl ganz in Gefühl und
Traum zerfließenden Sinn die rechten Fesseln und Schranken
anlegen würde.
Berlin, 2. 7. 1860
Heute fange ich also die letzte Woche in Berlin an, womit ich sehr
zufrieden bin. Ich wollt, ich könnte lieber heute schon, als am
achten fort. Ich möchte nie hier länger leben. Mir ist das
Herz wie zugeschnürt und ich fühle mich unter dem bunten
Menschengewühl, auch in der Gelehrtenwelt, so fremd und
unheimlich, daß ich mich von Herzen nach den bachdurchrauschten
Talgründen unseres Thüringer Waldes sehne, wo ich erst
wirklich zum Bewußtsein und Lebensgenuß komme und wo
meine wahre Heimat ist. Kaum habe ich dies je so tief wie jetzt
gefühlt, und die letzten acht Tage in Berlin haben mich nach der
herrlichen vorangegangenen Woche in Thüringen unangenehmer
als je berührt. Wärst Du nur erst wieder hier, dann
könnte ich es noch besser hier aushalten. Oder viel besser:
Wären wir beide zusammen nur erst fort! das ist das A und das 0
aller Gedanken...
Freienwalde, 9 7.1860
Gestern um drei Uhr nachmittags kam ich hier glücklich mit der
Post an und sitze nun im kleinen freundlichen Stübchen, wo ich
eine neue, bessere Epoche des Lebens zu beginnen hoffe. Meine
Gedanken sind ganz bei Dir und haben Dir so viel zu erzählen,
daß ich kaum weiß, wo anfangen. Die letzten vierzehn Tage in
Berlin waren die traurigsten Zeiten, deren ich mich seit langem erinnern
kann. Ich war so entsetzlich melancholisch, daß ich jeden Morgen
beim Erwachen das Tageslicht verwünschte, das mir von neuem
einen traurigen Tag zu leuchten begann. Ach, liebster Schatz, hätt'
ich Dich nur einmal ein paar Stunden bei mir gehabt, gewiß, Du
hättest mir Mut, Vertrauen und Hoffnung eingeflößt
und hättest das törichte Herz wieder auf den rechten Weg
gebracht. So aber war ich ganz mit mir und meinem sich selbst
hassenden Ich allein, und das ist die schlimmste Gesellschaft, die es
für mich gibt. Kaum kann ich mich erinnern, je in einer solch
zweifelvollen, unzufriedenen und pessimistischen Stimmung gewesen zu
sein. Ich mochte anfangen was ich wollte, ich konnte sie nicht vertreiben
und konnte keinen Mut, keine Hoffnung, kein Vertrauen gewinnen. Ich
kam mir so traurig, so unwert vor, daß ich mehr als einmal an die
einzige "Phiole" dachte, und mein Lieblingsgedanke war,
oben an einem Gletscherrande, allem Menschengewühl für
immer entzogen, auf meinen Alpenblumen gebettet von all dem Wust
und Wirrwarr für immer aus zuruhen. Alle Menschen, die mich
nur zu viel besuchten, waren mir verhaßt, und der einzige Mensch,
der es nicht war, war mir unerreichbar. Ach, liebster Schatz, wie habe
ich Dich zu mir gesehnt, was hätte ich darum gegeben, wenn ich
Dich hätte bei mir haben können. Aber ich war und blieb
allein und mußte sehen, wie ich fertig wurde.
Und doch würde es vielleicht einem, der mich nicht kennt, schwer
werden, für das alles einen triftigen Grund zu finden. Du kennst
aber Deinen Erni, und wirst Dir also denken können und begreifen,
wie das große Dilemma, in dem ich mich zwischen sofortiger
Habilitation in Jena und Fertigstellung des Radiolarienwerkes befinde, all
jene Zweifel und Kämpfe hervorzurufen imstande war, die ich
durch Italien längst überwunden glaubte. Aber ich sehe,
daß die innerste Natur des Menschen nicht auszurotten ist, und
daß der einmal eingepflanzte Keim einer bestimmten
Ideenrichtung und Gedankenentwicklung sich durch alle
äußeren Einflüsse unbeirrt in der angelegten Weise
entwickelt. Ich glaube, ich könnte noch so oft unter Italiens
unbewölktem Blau meine Zweifel und Sorgen, die tief im Innersten
feste Wurzel haben, vertrieben und beschwichtigt glauben; immer
würden sie unter der grauen Wolkenwand des Nordens
wiedererwachen und mich von neuem quälen. Ich habe jetzt
überhaupt den Gedanken aufgegeben, je zu einer so vollen,
frischen, mutigen Lebensanschauung zu gelangen, wie ich sie oft wohl in
heiteren Momenten erstrebe; und um so mehr bist Du, bester
Herzensschatz, dem glücklicherweise dieser Skeptizismus und
diese melancholische Ideenrichtung völlig abgeht, imstande und
verpflichtet, durch Dein heiteres, frohes Gemüt mir das Leben lieb,
süß und wert zu machen.
Sei mir nicht böse, meine beste Anni, daß ich Dir all die
dummen Gedanken weiter vorplaudere, über die Du Dich
gewiß recht ärgern wirst. Aber ich kann und darf Dir doch
Deinen Erni nicht anders geben, als er nun einmal ist, und ich denke, es
ist immer besser, ihn durch und durch mit allen Schwächen
kennen zulernen, als oben darüber hinwegzugehen und ihn
für besser und stärker zu halten, als er in der Tat ist. Und
schon, indem ich Dir dies schreibe und das beschwerte, bedrückte
Herz erleichtere, fühle ich, wie herzlich Du mit mir fühlst
und denkst und wie Du mich durch Dein liebes, munteres,
hoffnungsvolles Gemüt zu Dir emporhebst und beglückst.
Ach, liebster Schatz, sei nicht betrübt in dem Gedanken, daß
ich Dir vielleicht oft durch mein zweifelhaftes, unsicheres, traumhaft
weiches Gemüt und nur zu schwankendes Wesen in Zukunft noch
schwere und trübe Stunden genug bereiten werde. Ich denke
immer, wenn wir erst ganz zusammen sind, ganz verschmolzen, und
wenn wir erst in stetem Beisammenleben unsere guten Eigenschaften
austauschen und stärken und die schlechten möglichst
abschaffen, dann soll gewiß auch dies besser werden, und dann will
ich Dich gewiß für jene düsteren Momente durch
andere entschädigen, in denen Du das volle Glück deutscher
Mannesliebe genießen sollst, einer so vollen, reinen und intensiven,
daß ich an eine innigere und tiefere, als die meine, überhaupt
nicht denken kann. Das bleibt immer noch mein einziger Trost,
süßer Herzensschatz, daß ich durch Deinen Besitz und
Genuß doch noch ein ganz anderer, erst ganz ein voller und
kräftiger Mann werden werde, daß dann vielleicht auch noch
andere Seiten meines Wesens in harmonischer Weise sich entwickeln,
von denen ich jetzt leider noch keine Spur sehe. Oh, wie sehne ich mich
nach dieser glücklichen Zeit, von der mein Leben eigentlich erst
anfangen wird.
Ich habe in diesen letzten acht Tagen wieder recht gesehen, wie schlecht
ich dazu taugen würde, ein einsames Leben als alter Junggeselle zu
führen. Die Wirtshäuser sind mir, wie alles
unhäusliche Leben, verhaßt und ich habe in diesen acht
Tagen, wo ich allein Haus hielt, lieber abends gehungert, als daß ich
ausgegangen wäre, mit einem Bekannten zu kneipen, wie ich es
Mutter versprochen hatte. Ich glaube, Ehlers hat ganz recht, wenn er im
Winter immer behauptete, daß ich ein ganz musterhafter Ehemann
und Hausvater werden würde. Wenigstens weiß ich das
Glück des Familienlebens mehr als mancher andere zu
schätzen, und sehne mich unendlich danach. Schon gestern abend
und heute früh bin ich in dem munteren, glücklichen
Familienleben unserer lieben Geschwister ganz aufgetaut und aufgelebt
und ergötze mich im stillen daran, in Gedanken unser
künftiges Glück nach diesem reizenden Muster aufzubauen.
Nur, denke ich, werden wir noch ein gut Teil glücklicher werden,
da wir beide doch viel heißere, erregbarere Naturen sind als Karl
und Hermine und also auch ungleich innigerer und intensiverer
Gefühle fähig. Du glaubst nicht, wie reizend mir seit meinem
letzten Besuch in Jena das kleine, niedere, stille
Professorenhäuschen vor Augen schwebt, ganz in rankendes
Weinlaub versteckt und hinten mit einem reizenden, kleinen Garten.
Und darin eine Laube, so lieb und nett, in der außer zwei
Überglücklichen auch noch "Mehrere" (!) Platz
haben. Ach, würde es nur bald glückliche Wahrheit.
Die vielen verschiedenen Leute, die in den letzten acht Tagen kamen, um
meine Bilder und Sammlungen zu bewundern und dann mit Lob in den
stärksten Ausdrücken sehr freigebig waren, sind mir
ordentlich unangenehm und lästig geworden, und ich bin
außerordentlich froh, jetzt hier von dem allen verschont zu sein.
Ich habe im kleinen gemerkt, wie unangenehm es sein muß, ein
berühmter Mann zu sein, und sehne mich jetzt doppelt lebhaft
nach der stillen Abgeschiedenheit unseres kleinen Jena, wo man
Tüchtiges leisten kann, ohne deshalb von Leuten überlaufen
zu werden, die von der Berühmtheit zu profitieren hoffen.
Übrigens habe ich dabei auch wieder manche hübsche
psychologische Beobachtung machen und die Schwäche mancher
"großer" Leute in seltsamer Blöße aufgedeckt
sehen können. Eine Beruhigung habe ich denn doch, wenn ich sehe,
wie ein großer Teil selbst der bedeutenderen Leute sich mit dem
Streben nach Zielen abquält, für welche ich keinen Schritt
tun würde. Ich habe ein anderes Ziel, und das kennst Du am
besten...
Freienwalde, 14.7.1860
Heute hatte ich bestimmt einen Brief von Dir erwartet, mein liebster
Schatz. Nun er nicht gekommen ist, muß ich mich doch hinsetzen
und Dir mein Herz ausschütten, das gar sehr betrübt ist
durch eine höchst traurige Nachricht, die ich vor vier Tagen
empfing. Ich bekam nämlich am zehnten einen Brief von der Tante
Weiß, worin sie mir kurz den Tod meines Freundes Johannes
Lachmann meldete. Er ist nur drei Tage, an einem Karbunkel auf dem
Rücken, krank gewesen und sehr rasch gestorben.
Du kannst Dir denken, wie mich diese Nachricht erschüttert hat.
Ich bin kein Freund davon, schmerzlichst erregten, tief innerlichen
Gefühlen durch lange Exklamationen auf dem Papier Ausdruck zu
geben, sonst könnte ich Dir viele Seiten füllen mit den
seltsamen traurigen Ideen und Vorstellungsreihen, die dieser Todesfall,
der so unerwartet wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, in mir erregt
hat. Doch Du kennst mich ja durch und durch und weißt also, was
mir diesen höchst traurigen Todesfall besonders beklagenswert
erscheinen läßt.
Lachmann ist nun schon der zweite aus dem kleinen Kreise meiner
nächsten Freunde und Studiengenossen, den im Verlaufe eines
einzigen Jahres das sinnlose Geschick aus seinem lebensvollen
Wirkungskreis weg reißt. Allerdings war Lachmann nicht so hoch
begabt und in jeder Hinsicht ausgezeichnet wie Beckmann; aber
immerhin war er ein vorzüglicher, tüchtiger Mensch und
Lehrer, und noch bei meinem letzten Besuche in Bonn hatte ich
Gelegenheit, mich über die nette Art und Weise zu freuen, in der
er sehr gewissenhaft sein Amt ausfüllte. Und in mancher
Beziehung ist doch dieser Todesfall noch viel trauriger als der von
Beckmann, dessen Körper schon von früher Jugend an den
Todeskeim in sich trug und der nicht durch zarte Familienbande fester
mit dem Leben verknüpft war.
Wie man sich in solchen Fällen mit der Idee einer
"allgütigen, weisen, liebenden Vorsehung"
trösten kann, ist mir in der Tat völlig unklar. Ich wenigstens
bin völlig unfähig, die Idee einer Vorsehung, eines
persönlich regierenden Gottes zu erfassen, welcher seinen
Geschöpfen nur darum die edelsten Gaben verleiht, um sie
möglichst wenig Gebrauch davon machen zu lassen, und sie nur
darum in die reizendste Fülle häuslichen Glückes
versetzt, um sie recht grausam und gewaltsam daraus zu entreißen.
Mit Ausnahme von Allmers waren unter allen meinen Freunden
Beckmann, Lachmann und Claparéde die bedeutendsten und
befähigsten. Zwei hat nun schon der Tod weggerafft, nachdem sie
kaum erst angefangen hatten, von ihren Gaben Gebrauch zu machen.
Und der dritte hat auch einen so elenden, kranken Körper,
daß man auf nichts weniger als eine lange Wirksamkeit rechnen
kann! Da suche Weisheit in den Plänen der Vorsehung, wer es
vermag! Ich bin dazu unfähig und gerate, je länger ich in
diese Folgenreihe von Gedanken mich vertiefe, immer tiefer in den
absoluten Zweifel und Unglauben hinein.
Was mich bei Lachmanns Tod am tiefsten ergriffen hat, ist, wie Du leicht
denken kannst, das trostlose Schicksal der unglücklichen jungen
Frau mit ihren beiden Kinderchen. Kann man sich eine Zukunft trauriger
und düsterer vorstellen? Kann die Vorsehung grausamer, sinnloser
handeln, als zwei sich innig liebenden Menschenherzen die
höchsten Freuden des Menschenlebens, das unvergleichlich
süße Los einer glücklichen Ehe ein paar Jahre
genießen zu lassen, damit sie dann lange Reihen von Jahren, von
ihrer besseren Lebenshälfte getrennt, ein trost- und freudloses,
einsam elendes Leben fortführen? Wir sind beide noch nicht durch
das süße Band der Ehe vereint und haben also den
Gipfelpunkt des Glücks, die völlige Verschmelzung, das ganze
Ineinanderleben beider Individuen, die Höhe der innigsten Liebe
noch nicht erreicht, und doch wäre es mir schon jetzt ganz
undenkbar, mein Leben ohne Dich fortzuführen, ein Leben, das
mir ohne Dich eben überhaupt nichts ist, das mir
gleichgültig, verhaßt ist. Wenn ich mir den Gedanken
vorzustellen wage, Dich möglicherweise einmal zu verlieren, so ist
unmittelbar und untrennbar der zweite Gedanke gleich damit
verknüpft, daß mit Deinem Leben auch das meine
aufhört und daß ich Dir freiwillig sofort in das Schattenreich
nachfolgen würde. Ich habe in dieser Beziehung schon oft den
zarten Sinn der alten Inder bewundert, wo der Tod des einen Gatten die
freiwillige Folge des anderen unmittelbar nach sich zog, was Goethe in
dem Gedicht "Der Gott und die Bajadere" so schön
dargestellt hat. Wenn ich mir nun schon jetzt ein Leben ohne Dich ganz
unmöglich denken kann, wieviel mehr müßte dies der
Fall sein, wenn wir erst durch das süßeste Band der Ehe zu
gemeinsam glückseligem Leben verbunden wären und nun
auf einmal in dies einzige Paradies, welches auf Erden möglich ist,
der unerbittliche Tod hineingriffe und die für ewig verbundenen
Hälften wieder trennte? Ich kann mir dieses traurigste Los gar
nicht schrecklich genug denken! Ich sprach noch neulich mit Vater
darüber, als wir auf dem Brauhausberg spazierengingen. Er
schilderte mir die glückliche Zeit seiner ersten Ehe, die auch nur so
sehr kurze Zeit dauerte, wie ihn der Tod rein in Verzweiflung
gestürzt, wie er unfähig zu denken und arbeiten geworden,
und wie ihn nur seine tiefgewurzelte Religiosität und sein
Gottvertrauen von der häufig aufkommenden Selbstmordidee
abgebracht habe. Da mir aber nun jene religiösen
Glaubensüberzeugungen völlig fehlen, würde ich
unfehlbar der letzteren zum Opfer fallen, und zwar um so eher, als ich
glaube, daß ich noch ein gut Teil leidenschaftlicher und
heißblütiger als Vater bin. Ich liebe Dich so innig und
ausschließlich, daß ich mir eine tiefere und herzlichere Liebe
überhaupt nicht denken kann. Mit Dir einzigem und
ausschließlichem Schatz steht und fällt alles, was mich an das
Leben bindet. Ohne Dich wäre mir das Leben eine
unerträgliche Last, und nur der Gedanke, mit Dir zu leben, Dich
ganz und einzig zu besitzen, vermag noch alle Kräfte und
Bestrebungen anzuspornen und lebendig zu erhalten!
Du kannst Dir denken, wie lebhaft und viel mich alle diese Ideen die
letzten Tage über beschäftigt haben. Ich habe auch wieder
einmal einen Versuch gemacht, mich mit den tröstenden Ideen des
Christentums zu befreunden, aber ganz vergeblich! Mir ist nun einmal
das Glauben an Tatsachen und Ideen, die von vornherein meinem
Verstande und dem Zeugnis meiner Sinne gerade ins Gesicht schlagen,
unmöglich, und ich arbeite mich bei solchen Gedanken je
länger, je tiefer in den nacktesten Zweifel hinein. Auch sehe ich
gar nicht ein, was der Glaube an bestimmte Dogmen für eine
fühlbare Wirkung auf das handelnde Leben ausüben soll.
Wenigstens sehe ich nur allenthalben., daß die Menschen viel
davon sprechen, aber nicht danach handeln! Ich habe zur Richtschnur
meines Lebens meine bestimmten ethischen Ideen, eine Moral, die die
einfachste, einleuchtendste und natülichste auf der Welt ist und
sich einfach in dem alten Sittenspruch "Was Du willst, daß die
Leute tun sollen, das tue Du ihnen auch" (und umgekehrt!)
zusammenfassen läßt. Im einzelnen Fall muß doch
lediglich das sittliche Bewußtsein und nicht der Formengeist
strenger Gesetze die Richtschnur des Handelns abgeben.
Freilich ist mir bei diesen Gedanken auch die ganze Nichtigkeit und
Hohlheit unserer Bestrebungen wieder lebhaft vor Augen getreten. Was
kann man im besten Falle erreichen? Ich habe jetzt im Laufe meiner
Aus bildung, besonders durch die verschiedenen Reisen, einen
Höhepunkt der Weltanschauung erreicht, von dem ich schon einen
ansehnlichen Horizont zu über blicken glaube, und was habe ich
doch schließlich da mit erreicht? Je höher ich mich
emporarbeitete, desto nichtiger erschien mir alles Überwundene,
desto weniger lockend das höhere Ziel. Ich scheine jetzt
augenblicklich vielleicht so glücklich situiert, daß mich meine
besten Freunde beneiden! Und doch schrumpft das alles in meinem
eigenen Bewußtsein zu einem kaum nennenswerten Resultat
zusammen.
Freienwalde, 16.7.1860
Hab innigsten Dank, bester Schatz, für Deinen lieben letzten Brief,
der gerade zur rechten Zeit kam, um mich etwas von der entsetzlich
düsteren und melancholischen Stimmung zu befreien, die mich
jetzt schon viele Tage so befangen hatte, daß ich zu gar keinem
frohen Gedanken mehr kam. An solch bösen Tagen ist ein Brief
von Dir die beste Medizin, und Du glaubst kaum, wie Du in dieser
Beziehung auf mich wirken kannst und wie Dein immer frischer und
jugendlich heiterer Sinn die Unmutswolken verscheucht, die nur zu gern
mich ganz bedecken. Aber ganz werde ich erst doch wieder frisch, wenn
ich Dich wiederhabe und mir von Deinen süßen Lippen,
meinem besten Lebensquell, wieder all den guten Mut holen kann, der
mir von Natur abgeht. Ich sehne mich so nach Dir, liebste Anni, daß
ich kaum die Zeit Deiner Rückkehr erwarten kann. Komm nur ja
möglichst bald; ich kann dann gewiß nachher noch einmal so
gut arbeiten als jetzt, wo die Anni mir immer über das Papier
läuft und wo, wenn ich früh an das Taufen meiner
Radiolarien gehe, ich aus jeder Gattung eine Art "Annae"
taufen möchte.
Das Zusammenleben mit den Geschwistern in den arbeitsfreien Pausen
ist sehr nett und die Kinder machen uns vielen Spaß. Von allen ist
Hermännchen reizend, immer dasselbe sinnige, still
träumerisch freundliche Kind. Dein kleines Patchen ist sehr drollig
und munter, ein dick ausgepolsterter kleiner Kadaver, von dem Du Dir
schon ein gut Stück Gesundheit kannst abgeben lassen. Aber in
bezug auf ihren Habitus als deutsches Mädchen macht sie ihrer
Patentante keine Ehre. Während alle drei Jungens echt deutschen,
hellblonden Typus zeigen, ist die kleine Anna in der Farbe der Haare,
Augen und Haut so dunkel und brünett, daß sie ganz wie eine
kleine Italienerin aussieht, weshalb ich sie auch immer
"Romagnola" oder "Concetta" rufe, wie die Tochter
meiner Wirtin in Rom hieß. Das glückliche Zusammenleben
und die ganze nette Häuslichkeit von Karl und Hermine macht mir
viel Freude, und ich muß dann immer denken, wie
überglücklich erst ihre beiden jüngeren Geschwister
sein werden, wenn die soweit sind. Oder glaubst Du nicht, daß die
noch ein gut Teil glücklicher sein werden? Freilich regt sich bei
diesen Gedanken auch immer die Ungeduld, daß es noch nicht
soweit ist, aufs neue, und ich muß immer denken, wie viele Tage
mir noch einsam und öde vergehen werden, ehe ich meinen besten
Schatz heimführen darf. Wenn doch nur bald, bald die ersehnte
Erfüllung käme. Gar oft ist mir's zumut, als könnte es
gar nicht mehr so lange dauern; aber freilich, was das dumme Herz
wünscht, das glaubt es auch. Gut wäre es aber für uns
beide, körperlich und geistig, wenn wir nicht mehr zu lange zu
warten hätten. Ich glaube, Du wirst auch erst ganz frisch und
gesund werden, wenn Du immer bei mir sein darfst. Daß meine
Gedanken dabei natürlich immer am meisten auf Jena schauen,
kannst Du Dir denken, und nach dem letzten Besuche gebe ich mich
diesen Hoffnungen mit doppelter Liebe hin.
Freienwalde, 22.7.1860
Ich muß Dir heute wohl mal von meinem hiesigen Leben etwas
berichten, liebster Schatz, von dem Du noch wenig weißt. Freilich
ist da auch nicht viel einzelnes zu erzählen, und das beste
weißt Du ja doch, daß Du nämlich in meinen Gedanken
mich beständig und überall begleitest. Ein Tag und eine
Stunde verfließt so ruhig wie die andere, und wenn ich nicht auf
die bestimmten Brieftage rechnete, würde ich kaum wissen, an
welchen Wochentagen wir uns immer befinden.
Mein Lebenslauf ist sehr einförmig. Gewöhnlich um
fünf Uhr (oft auch halb fünf oder halb sechs Uhr) stehe ich
auf und springe zunächst ein Viertelstündchen im Garten auf
und ab, um allen Rest des Schlafes völlig zu vertreiben. Dann
arbeite ich zwei Stunden. Um sieben Uhr wird gefrühstückt
und dann bis acht Uhr Volkszeitung studiert. Von acht bis ein Uhr
ungestörte Arbeit, bloß durch die kleine Concetta (Anna!)
unterbrochen, welche mir um elf Uhr mit ihrem römischen
Schelmengesicht ein Körbchen Kirschen bringt. Um ein Uhr Mittag
mit obligatem Kindergeschrei und sonstiger Familienunterhaltung. Mein
größter Freund ist gegenwärtig der kleine Heinz, den
ich täglich nach dem Essen eine Viertelstunde noch in die Luft
werfe und mit beiden Armen wieder auffange, ein Ballspiel, das ihn
immer in das höchste Entzücken versetzt und das alle
köstlich amüsiert. Sobald er mich irgendwo erblickt, jauchzt
er laut auf, krabbelt auf mich los und zerrt mich solange am Rockzipfel,
bis ich seine höchst komische pantomimische Bitte um
Indieluftwerfen erhört habe. Dann wird bis zum Kaffee eine halbe
bis eine Stunde im Garten Nationalzeitung gelesen, we!che jetzt wieder
reichen Stoff zum Reden und Ärgern gibt durch die unredliche und
unverantwortliche Handlungsweise, mit der das Ministerium, seinem
ausdrücklichen Versprechen entgegen, die Heeresorganisation
dennoch ins Werk gesetzt und durchgeführt hat. Besonderes
Interesse nimmt außerdem natürlich immer Garibaldi und
Neapel in Anspruch. Um drei Uhr wird Kaffee getrunken und nachher
wieder ununterbrochen gearbeitet bis acht Uhr. Ein paarmal habe ich
auch schon um sieben Uhr aufgehört und bin noch ein
Stündchen draußen herumgesprungen, um die erlahmten
Glieder wieder etwas gelenk zu machen. Um acht Uhr wird wieder
gemeinsames Abendbrot (konstant saure Milch) eingenommen und dann
noch ein bis zwei Stunden Brief geschrieben oder gelesen. Um einhalbelf
Uhr oder elf Uhr liegen wir meist alle schon wieder im Nest.
Du siehst, liebster Schatz, daß ich die gegebene schöne
Mußezeit möglichst ökonomisch benutze, um
tüchtig mit der großen Arbeit, welche am Ende doch noch
einmal den Ausschlag für unser Glück geben kann,
vorwärtszukommen. Nur muß ich leider hinzufügen,
daß ich nicht so beständig zu denken als zu sitzen imstande
bin und daß die vogelfreien Wandergedanken nur gar zu oft nach
dem westlichen Deutschland (wie im vorigen Jahre nach Norden)
fortlaufen, um mit einem Gegenstand sich zu beschäftigen, der sie
schließlich doch noch magnetischer anzieht, als selbst Tausende der
schönsten neuen Radiolarien. Auch muß ich Dir gestehen,
daß das alte, heiße, unruhige Wanderblut sich oft
mächtig regt, der saft- und kraftvolle Kadaver ist mit dieser
absoluten Stubensitzweise des jungen deutschen Naturforschers
durchaus nicht einverstanden. Wie schon früher so oft, wenn es
galt, lange Zeit hindurch sitzend ohne kompensierende körperliche
Bewegung zu arbeiten, kann ich mich auch jetzt nur sehr schwer in dies
halbe Gefängnisleben schicken! Oft kocht und wallt das junge,
heiße Blut, daß ich meine, ich müßte aufspringen,
meinen Schatz auf die Arme nehmen und eine nette steile Alpe, ohne
Atem zu schöpfen, hinaufstürmenl Was gäb ich oft
darum, wenn ich mich mal so recht müde laufen könnte.
Die Natur scheint sich aber förmlich bei meiner Ausstattung in
dem Paradoxon gefallen zu haben, recht widersprechende Gaben in der
einen Person zu vereinigen. Was taugt so ein vollsaftiger,
unbändiger Kadaver wie der meinige, der für jeden Bauer
oder Jäger oder Fischer die gewünschte Kraft und
Gefügigkeit besäße, für einen deutschen
Gelehrten? Oft habe ich schon gedacht, wieviel leichter ich's hätte,
wenn ich auch mit so einem leidenden, ausgetrockneten, kleinen
Professorenkadaver ausgestattet wäre, wie so viele andere
Fachgenossen. Wieviel besser, gleichmäßiger und leichter
würde ich da arbeiten! Nun muß ich aber gerade einen
Körper bekommen, der der überflüssigen Kraft nur
allzuviel hat und sich nirgends wohler fühlt, als wenn er sie recht
reichlich äußern und üben und sich tüchtig
abmüden kann. Freilich wird mein Schatz am Ende doch mit dem
frischen Fleisch und Blut, wie es nun mal da ist, zufrieden sein -
vielleicht kommt's uns mal in den Alpen zustatten! Aber hart ist's
wirklich oft, dagegen anzukämpfen, lieber Schatz, und Du kannst
kaum glauben, wie schwer ich oft die Abhängigkeit des Geistes
von dem Körper empfinde.
Freienwalde, 22.7.1860
Liebe Eltern!
Endlich muß ich Euch doch mal wieder schreiben, damit Ihr Euch
nicht wieder unnötige Sorge macht. Von meinem Leben kann ich
Euch freilich nur herzlich wenig berichten. Ein Tag verfließt bei der
steten ununterbrochenen Arbeit so ruhig wie der andere und von
Abwechslung ist gar keine Rede, doch fühl ich mich im ganzen
sehr wohl dabei. Nur der Körper ist nicht zufrieden. Der
möchte lieber auf den Bergen herumstreichen und sich
tüchtig abarbeiten, statt so Tag für Tag vom Morgen bis zum
Abend am Arbeitstisch zu sitzen, Aber was soll man tun? Die liebe Zeit
ist so kostbar, daß man sie durchaus zurate halten muß, und
noch nie bin ich so geizig damit gewesen als jetzt. Jede Stunde, die ich
nicht bei meiner schönen Arbeit sitze, die mir sehr viel Freude
macht, dünkt mich verloren. Das Werk wächst mir unter den
Händen so gewaltig an und geht doch im ganzen nur so langsam
vorwärts, daß ich Not haben werde, im nächsten Winter
damit fertigzuwerden. Ich habe also den Gedanken, mich schon
nächsten Herbst in Jena zu habilitieren, so gut wie aufgegeben und
werde den Winter ruhig in Berlin an meinem Werke fortarbeiten. Die
Arbeit macht mir übrigens jetzt soviel Freude, daß ich gar
nicht Lust hätte, vorläufig irgend etwas anderes zu treiben.
Doch kostet das Ausführen der Tafeln mehr Zeit, als ich dachte. Es
ist aber gar zu angenehm, so, wie ich es hier kann, in einem Zug
hintereinander fortarbeiten zu können, ohne durch irgend etwas
gestört zu werden. Nur die Sehnsucht nach Anna, die ich gerade
jetzt sehr entbehre, kommt zuweilen dazwischen, und in der letzten
Woche hat mich der Tod von Lachmann auch sehr viel beschäftigt.
Das ist wohl ein sehr trauriges, höchst beklagenswertes Ereignis,
welches zu vielerlei merkwürdigen Betrachtungen Anlaß
geben kann. Wieviel ich es auch versuchte, ich habe mich mit dem
Faktum nicht aussöhnen und keinen Trostgrund finden
können. Die arme, unglückliche Frau mit den zwei
Kinderchen! Und dazu erwartet sie in der nächsten Zeit ihre
Niederkunft! Die Sache ist so Hals über Kopf gekommen, daß
die arme Frau noch kurz zuvor gar keine Ahnung von dem schrecklichen
Ausgang gehabt hat.
Dich, lieber Vater, wird wohl die preußische Regierungspolitik jetzt
wieder recht ärgern, in der wieder viel verpfuscht wird. Die
Armee-Geschichte ist doch sehr schlimm und noch schlimmer die
Hinneigung zu Österreich. Wir lesen hier die Volks- und National-
Zeitung, welche auch damit sehr unzufrieden ist. Aegidi gab uns dieser
Tage mehrere Nummern der in Berlin jetzt neuerscheinenden
"Deutschen Zeitung", wie es scheint (von Dr. Haebner) ganz
vortrefflich redigiert im Sinne der preußischen Demokratie, sehr
ausführlich und reich, mit vortrefflichen Leitartikeln. Es ist doch
ein Jammer, daß bei uns kein energischer liberaler Minister ist;
wieviel ließe sich jetzt machen, wo Deutschland halb von selbst zu
Preußen fällt. Aber der Regierung fehlen alle großen
und liberalen Ideen. Und die Junkerwirtschaft ist und bleibt doch
ärger als irgendwo, gerade in Preußen. Aber die
Aufklärung, die namentlich durch die Naturwissenschaften
tagtäglich ungeheuer zunimmt, wird noch einmal der ganzen
Junkerbande den Hals brechen, und das befreite und geeinigte deutsche
Volk wird dann auch gewiß noch imstande sein, trotz seiner
sechsunddreißig Raubfürsten eine große, auch nach
außen mächtige Nation zu bilden.
Von Berlin höre ich gar nichts und bin sehr zu frieden damit. Die
Erfahrungen der letzten Wochen in Berlin, besonders in der
wissenschaftlichen Welt, haben mir den dortigen Ton wieder sehr
verleidet. Ich möchte viel lieber an einer kleinen Universität
eine Stätte finden, wo ich auch gewiß besser hinpasse.
Freienwalde, 9.8, 1860
Guten Morgen, mein liebster, einziger Herzensschatz! Mit
neugestärkter Kraft und Lust, die ich mir von Deinen
süßen Lippen geholt habe, gehe ich wieder an meine
schöne Arbeit, die jetzt, wo sie erst recht in Gang kommt, mir
doppelte Freude macht.
Von meinem Herwege gestern abend ist wenig zu erzählen. Der
Abend war köstlich sternenhell und recht geeignet, mit meiner
lieben Anni zu wandern. Um neun Uhr ging prächtig, dunkelvoll
der liebe Mond auf, welcher mir auf den ganzen Weg her leuchtete. Die
Luft balsamisch kühl und frisch, voll Waldluft, und ich mußte
immer singen. "Muß i denn, muß i denn" - wobei
natürlich der Vers.' "Übers Jahr, übers
Jahr!" die Hauptrolle spielte! Auch das Goethesche Mailied wollte
mir gar nicht aus dem Sinn:
"0 Mädchen, Mädchen,
wie lieb ich Dich,
wie bin ich glücklich,
wie liebst Du mich
So liebt die Lerche
Gesang und Lust
und Morgenblumen
den Himmelsduft,
wie ich Dich lieb
mit heißem Blut,
die Du mir Jugend
und Kraft und Mut
zu neuer Arbeit
und Schaffen gibst,
sei ewig glücklich,
wie Du mich liebst!"
Freienwalde, 14.8.1860
Dein Brief überraschte mich beim Frühstück und gleich
danach, um sieben Uhr, setzte ich mich hin und fing an zu arbeiten, und
das ging heute mit so gutem Erfolg, daß ich gar nicht wieder
aufhörte und, mit Ausnahme von kaum einer halben Stunde
Mittagspause, wo ich das nötige Essen möglichst rasch
hinabbeförderte, bis heute abend acht Uhr ununterbrochen
gesessen und geschafft habe. Das hat aber auch heute gefleckt. Es ist mir
so gut dabei gegangen, daß Du Dir schon gefallen lassen mußt,
mich zu begleiten.
Ich hatte gleich am Tage nach meiner Zurückkunft, am Donnerstag,
angefangen, einen schwierigen Teil meiner schönen Radiolarien
vorzunehmen, den ich bisher immer verschoben hatte. Nachdem ich die
eigentlichen Polycystinentafeln vollendet, wollte ich die Acanthometren,
die schönen Sterne mit den kieseligen Stachelstrahlen beginnen.
Aber gleich im Anfang stellten sich mir solche Schwierigkeiten, noch viel
größere, als ich erwartet hatte, entgegen, daß ich vier
Tage gar nicht von der Stelle kam und bis gestern saß und
saß, ohne einen Schritt vorwärtszukommen. Daß meine
Sonntagslaune infolgedessen gerade keine rosige war, obgleich ich den
Tag in recht munterem Sinne begann, kannst Du denken. Endlich kam
ich denn gestern auf den guten Gedanken, mir ein Modell von einer
Acanthometra zu machen, schnitzte mir also aus
einem Holzkloben zwanzig eckige Stäbchen und bohrte diese in
ihrer bestimmten mathematischen Ordnung in eine große Kartoffel
hinein. Dann bezeichnete ich diese verschiedenen Stachelgürtel
durch Striche und konnte mich nun trefflich in der schwierigen Form
orientieren. Nach vielen vergeblichen Versuchen brachte ich dann mit
deren Hilfe auch glücklich gestern abend eine recht leidliche
Zeichnung zustande.
Als ich heute früh anfangen wollte, die einzelnen Arten zu
beschreiben, entdeckte ich beim Vergleichen der Zeichnungen, daß
ich noch eine Art mehr hatte, als ich gewußt, und als ich nun die
mitgebrachten Präparate aus Messina wieder ansah, entdeckte ich
darin zu meiner großen Freude und Überraschung eine ganz
neue, prächtige Art, die einen recht erwünschten Zuwachs
liefert. Mehr aber als diese beiden neuen Formen erfreute mich die
endliche, oft vergebens versuchte Lösung eines sehr schwierigen
Rätsels, welches sich in betreff des feineren Baues der
Acanthometren bereits im Anfang des Winters in Messina mir auf
gedrängt hatte. Schon vielmal hatte ich es vergeblich auf
verschiedene Weise zu lösen versucht, bis endlich heute ein
glücklicher Zufall mir den Schlüssel in die Hand gab. Ich
machte sogleich sechs weitere Experimente und alle fielen vollkommen
übereinstimmend in dem nämlichen, gehofften Sinne aus, so
daß die Tatsache, welche ganz neu und recht interessant ist, nun
definitiv festgestellt ist.
Das war einmal belohnte Ausdauer, doppelt er freulich, da ich schon fast
ganz das gehoffte Resultat aufgegeben hatte. Ich war ganz
glücklich und es fehlte weiter nichts als ein gewisses kleines,
blondes Wesen, welches mir mit seinen süßen Lippen am
Feierabend die Belohnung für den angestrengten Fleiß
hätte erteilen müssen.
Erst dann, wenn ich täglich im innigsten, traulichsten
Zusammenleben mit Dir den Kern aller Lebensfreude und Lust
genießen werde, erst dann wird mir auch die Arbeit selbst wieder
volle Befriedigung und Freude gewähren, welche mir jetzt immer,
trotz aller Liebe und Lust dazu, doch zu sehr als eine Anstrengung
erscheint, der in den Mußestunden nicht die entsprechende
Erquickung folgt. Wie sehr aber auch gerade diese angestrengte und
spannende Arbeit, gerade für mich, Bedürfnis ist, fühle
ich jetzt wieder lebhaft. Ich bin nochmal so frisch, wenn ich was
Tüchtiges geleistet habe, und auch in dieser Beziehung freue ich
mich sehr auf die Zukunft, wo ich tagtäglich, mit Ausnahme der
herrlichen akademischen Ferien, meine bestimmte Berufsaufgabe zu
lösen haben werde.
15.8.1860
Gestern abend war ich zu müd, liebster Schatz, um den Brief zu
vollenden. Ich dachte an den kostbaren, wunderherrlichen Tag, den ich
vor einem Jahr in Capri gehabt hatte, wo ich, ganz allein in der
herrlichsten Natur, nur von den lieblichsten Annigedanken begleitet, das
große Aquarell vom Arco naturale gemacht hatte, welches Allmers
so bewunderte. Auch der 15. August war ein prächtiger Tag, wo
ich früh in den Grotten des Monte Solare umherkletterte, die
beiden Grotten und Ausblicke malte, in der Grotta di mulo das zierlichste
Venushaar pflückte und am Nachmittag an der Marina piccola
malte. Über diesen lieben Erinnerungen, bei denen mich Dein
herziges Bild beständig begleitete, schlief ich am Tisch ein,
träumte gar prächtig von Dir und mir und wachte erst auf,
als die Lampe wegen Ölmangel ausgegangen war.
Freienwalde, Montag, 20.8.1860
...In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag hatte ich einen sehr
ängstlichen Traum, den ich schon öfter gehabt habe. Ich
schwamm in den tobenden Wogen einer sehr heftigen Brandung. Die
sehr hohen Wellen drohten mir immer den Atem zu benehmen, so
daß ich ein beständiges ängstliches
Erstickungsgefühl hatte. Ich mühte mich vergebens ab,
schwimmend eine überhängende Klippe zu erreichen, auf
der Du saßest und Deine lieben Arme ausbreitetest, mich zu
empfangen. Aber sooft ich so hoch emporgeworfen wurde, um sie
anfassen zu können, warf mich die zurückweichende Woge
immer wieder in die schäumende Tiefe hinab. Ich habe diesen
angstvollen, beklemmenden Traum schon öfter in ganz
ähnlicher Weise gehabt; das ihm zugrundeliegende Gefühl
habe ich aber auch einmal wirklich erlebt, als ich nämlich in
Helgoland bei sehr heftigem Sturm, bei dem niemand badete, in einem
kleinen Boot hinausfuhr und von da aus in die Wellen sprang. Ich hatte
damals große Mühe, wieder ins Boot zu kommen, und so
große Freude mir der Kampf mit den furchtbaren Wellen machte,
so war er doch nicht ohne ein ähnliches bedrückendes
Beklemmungsgefühl, da die unaufhörlich sich
überstürzenden Wogen mir mehrmals allen Atem
benahmen. Dasselbe Gefühl hatte ich auch wieder in jener
Mittwochnacht und muß dabei wohl sehr lebhaft mit den Armen
und Beinen im Bett um mich geschlagen haben, denn als ich am Morgen
erwachte, lag ich ganz bloß und war ganz steif und kalt geworden;
die Decke lag auf dem Boden. Glücklicherweise hatte ich, da es den
Abend sehr kalt war, die Fenster, die ich sonst meist nachts auflasse,
zugemacht, sonst wäre die Erkältung wohl noch schlimmer
geworden, Sie war so schon arg genug.
Ich habe in diesen acht Tagen nicht Tafeln gezeichnet, sondern den Text
des Radiolarienwerkes begonnen und habe bereits zwölf Bogen
geschrieben. Es geht leichter, als ich mir gedacht habe. Dazwischen habe
ich auch wieder mikroskopiert und ergänzende Beobachtungen
angestellt; die eine Familie, Acanthometren, ist nun in Bild und
Beschreibung schon ganz fertig. Wie sehr mir auch die Arbeit Freude
macht und wie angenehm es ist, daß ich alle Zeit
ausschließlich darauf verwenden kann, so kann ich doch nicht
leugnen, daß ich sie zuweilen satt bekomme und mir Abwechslung
wünsche. So wie bisher sie zu treiben, von früh bis abends
zehn Uhr in einemfort immer ein und denselben Gegenstand, nur eine
Stunde Mittag und eine Stunde Zeitung lesen ausgenommen, das werde
ich nicht lange mehr aushalten. Besonders abends möchte ich gar
zu gern den Geist auf ein neues Gebiet tragen, dem er sich nur mit zu
großer Leidenschaft zuneigt...
Dieser Tage erhielt ich auch wieder einen Brief von Gegenbaur. Seine
Teilnahme und Sorge für mich ist wahrhaft rührend und mir
bei Gegenbaurs Persönlich keit fast rätselhaft. Gegenbaur gilt
für eine stolze, herbe und kalte Natur; ich habe aber jetzt die
Beweise vom geraden Gegenteil in den Händen, und wenn sein
ganzes Wesen auch eine eigentümliche Abgeschlossenheit und
Einseitigkeit zeigt, so muß ich die wahrhaft edlen Seiten seines
trefflichen Charakters um so mehr anerkennen und hochschätzen.
Die Art und Weise, wie er sich jetzt bemüht, die Bahn für
mich zu ebnen, ist in der Tat unerklärlich, da ich mir nicht
bewußt bin, ihn durch irgendeine Leistung oder ein Verdienst dazu
angeregt zu haben. Wenn unsere süßen Jena-Träume in
Erfüllung gehen sollten, wie es fast den Anschein hat, so
dürfen wir ihm doppelt dafür dankbar sein und werden
auch genug Gelegenheit haben, seine Freundschaft durch die Tat zu
erwidern. Ähnlich geht es mir übrigens mit Max Schultze,
und ich könnte fast etwas stolz darauf werden, daß gerade
diese beiden trefflichen Leute, welche sicher in unserer
Spezialfachwissenschaft unter allen jüngeren Kräften
weitaus die bedeutendsten sind, sich so für mich interessieren.
Die letzten Abendstunden, wo ich durchaus keine Gedanken für
die Radiolarien mehr hatte, habe ich, seit langer Zeit zum erstenmal
wieder, eine ordentliche Lektüre angefangen, der ich mich von
zehn bis elf Uhr abends mit großem Genuß hingebe: Webers
Weltgeschichte. Mit dem größten Interesse habe ich jetzt die
Geschichte der Revolution von 1848 bis 1854 gelesen, und mein
patriotischer, d. h. demokratischer Eifer ist dabei bedeutend wieder
entflammt worden. Ich werde jetzt ebenfalls regelmäßig
fortfahren, mich mit Geschichte, besonders mit der der jüngsten
Vergangenheit, vertraut zu machen, und mich vorzubereiten, in den uns
bevorstehenden Kämpfen auch kräftig mitzuwirken, was
doch die Pflicht jedes Staatsbürgers, und gerade bei uns, wo so viel
Schlaffheit und Indolenz herrscht, doppelt nötig ist. Solange ich
noch keinen festen Standpunkt habe, werde ich mich allerdings passiv
verhalten und die Zeit um so mehr benutzen, mich allseitig zu
orientieren.
Freienwalde, 25.8.1860
Wenn es auch heut nicht viel wird, liebster Schatz, will ich Dir doch
gleich noch schreiben, damit der Brief heute vormittag noch abgeht und
Du morgen einen frischen Herzens-Sonntagsgruß von Deinem
Schatz hast. Gestern mittag erhielt ich Deinen lieben Brief, einen sehr
willkommenen Gruß in meinem einsamen Stilleben, obwohl Du
diesmal so flüchtig geschrieben hast, daß ich einigen
philosophischen Scharfsinn anwenden mußte, um einige Sätze
zu entziffern. Ganz ˆ la Mimmi fehlten etwa bei einem Dutzend
Sätzen die Prädikate, bei einem anderen halben Dutzend
waren sie dafür doppelt, und endlich waren da einige
Konstruktionen, nach dem leuchtenden Muster König Ludwigs von
Bayern, in unendliche Partizipialkonstruktionen sich selbst am Ende,
ihren Anfang vergessend, in ein in sich zurückkehrendes
Unendliches sich zu verwickeln im Begriff seiend, unklar werdend! Im
übrigen habe ich mich in die Schilderung Deines Heringsdorfer
Stillebens, auf dem ich Dich so vielfach täglich und stündlich
in Gedanken besuche und begleite, ganz hineingelebt.
Von mir ist diesmal wenig zu berichten... Abends habe ich in der letzten
Woche, wenn ich ganz radiolariensatt war, noch tüchtig Geschichte
gelesen und bin jetzt mit dem neunzehnten Jahrhundert ganz durch. Ich
werde nun das ausführliche Werk von Häusser über
dieselbe Periode lesen. Auch die Capri-Reminiszenzen habe ich
täglich im Tagebuch aufgesucht und dabei alle die herrlichen
Genüsse mir wieder lebhaft ins Gedächtnis gerufen, mit
welchen dies Reiseglück mich in jenen unvergeßlichen Tagen
beschenkte. Wärst Du damals bei mir gewesen, das einzige - aber
auch das beste! -, was mir fehlte, so würde ich jenen
glückseligen idyllischen Künstlertraum an die Spitze meines
Lebens stellen. Heut vor einem Jahr war ich mit Allmers in Anacapri
(Anna-Capri!), besuchte die guten Leute in ihren reizenden
Häuschen, zeichnete den alten Mann, den schönen Knaben,
die Ziegenherde, einige Treppenstudien und Interieurs und nahm zum
herrlichen Beschluß des köstlichen Tages allein ein
nächtliches Bad beim Sternenschein in der schäumenden
und leuchtenden See! Diese reichen Erinnerungen werden wohl noch oft
herhalten müssen!
Freienwalde, 1.9.1860
Das war heute ein schöner Schluß der fleißigsten Woche,
mein liebster Schatz, als ich gleichzeitig Deine beiden lieben Briefe
erhielt, die diesmal sehr rasch gegangen sind; eine prächtige, aber
auch wohl verdiente Belohnung nach der tüchtigen Arbeit der
letzten Woche, Zugleich fangen sie auf die merkwürdigste Weise
meinen Lieblingsmonat, den September, an, welcher sich mit dem Mai
um diese Ehre streitet... Es ist der eigentliche Reisemonat, und seit
frühester Jugend sind alle meine lieben Reisebilder mit dieser
schönsten Zeit des Spätsommers und Herbstes verwebt. Den
September 1854 verlebte ich mit Mutter in Helgoland, wo ich zum
ersten Male das "göttliche" Meer in seiner vollsten
Schönheit kennen lernte, die ernste, wilde, brausende,
hochwogende Nordsee; auch erschloß sich da zum ersten Male
meinen erstaunten Augen die wunderbare Tierwelt des Meeres, welche
an Reichtum der schönsten und mannigfaltigsten Formen, wie an
Komplikation ihres Baues und ihrer höchst verwickelten und
merkwürdigen sozialen und familiären Verhältnisse
alle lebendigen Wesen des Festlandes bei weitem übertrifft. Da
wurde zuerst durch Müller, das Meer und seine Wunder, mein
Geist aus den bisherigen Schranken befreit und schlug die Richtung ein,
in der ich nun mein ganzes Leben fortschaffen werde.
Im folgenden Herbst lernte ich dagegen das Großartigste und
Schönste kennen, was das Festland besitzt, die wunderbare
Alpenwelt, die Gletscher und Schneefelder, von denen ich so viel gelesen
und gehört und die nun doch, als ich sie selbst sah, fühlte,
durchwanderte, alle Bilder und Beschreibungen weit hinter sich
zurückließen. Dann die alpine Flora, welche mit ihren
reizenden Zwerggestalten, den blauen Gentianen und weißen
Saxifragen, den roten Alpenrosen und grünen Moosen das
heiße Ziel meiner Sehnsucht während der ganzen botanischen
Knabenjahre gewesen war und die auch jetzt noch über allen
Erzeugnissen der reichen südlichen Pflanzenwelt, über den
Palmen und Agaven, Pinien und Cistrosen obenan steht und ihren alten
Vorrang behauptet. Gerade in den September 1855 fällt der
schönste Teil meiner Alpenwanderung, die ich in neun Wochen
von Linz bis zum Wormser Joch und von Chiavenna bis zum Achensee zu
Fuß, allein, mein eigener Herr, in der köstlichsten Freiheit
ausführte. Im September wanderte ich durch das ganze Tirol und
Oberitalien, überstand in der Gletscherspalte des Ötztaler
Hochjochferners glücklich den gefahrvollsten Moment meines
Lebens, lernte in Mailand, Verona, Venedig eine neue Welt kennen und
sah schließlich am Ortler auf dem Wormser Joch die herrliche
Alpenwelt in ihrer größten Pracht und Majestät. Da
drohten die marinen Helgoländer Eindrücke hinter diesen
mächtigen Alpenbildern zu verbleichen. - Aber der folgende
September verhalf diesen wieder zu ihrem Recht; da war ich mit
Müller und Koelliker in Nizza und lernte zuerst die noch ungleich
reichere und wunderbarere Fauna des Mittelmeeres kennen, die mich
im vorigen Winter so reich beschenkt hat. Auch bezauberte mich da zu
erst mit voller Gewalt die Farbenglut des südlichen Himmels, in
der ich im vorigen Jahre in so reichem Maße schwelgen konnte.
Nur der folgende September ist ausgenommen aus dieser schönen
Reihe, da ich da die Vorbereitungen zu dem bösen Staatsexamen
(mit allen seinen verderblichen Folgen!!) treffen mußte. Dafür
war der vorher gehende Sommer in Wien (mit Focke, Krabbe, Kowan)
um so schöner.
Wie schön der September 1858 war, weißt Du am besten,
mein liebster Herzensschatz! In den September 1859 fällt der
beste Teil der sizilischen Reise, die herrlichen Tage in Palermo und
Girgenti. Und wie herrlich wird nun erst der September dieses Jahres
werden, auf dessen letzte Hälfte ich mich ganz
außerordentlich freue.
Freienwalde, 3.9.1860
Ich habe in dieser Woche von früh bis in den späten Abend,
fast wie in Messina, ununterbrochen hinter meinen lieben Radiolarien
gesessen und bin durch ein paar ebenso unerwartete wie interessante
Funde reichlich belohnt worden. Wieder gab es nicht nur ein paar neue
Arten, sondern auch eine sehr merkwürdige Tatsache hinsichtlich
des inneren Baues. Du glaubst nicht, wie sich während der Arbeit
der Gesichtskreis derselben erweitert und wie allmählich ein
neuer Gedanke nach dem andern aus dem Chaos der ungeordneten
Anschauungen klar und gewaffnet hervorspringt. Ich beherrsche jetzt
mein Thema so vollkommen und habe solche Lust, es möglichst
vollkommen zu bearbeiten, daß ich die größte Lust
hätte, noch einmal an die See zu gehen, um die großen
Lücken der ersten Beobachtungen, namentlich die höchst
dürftigen Notizen über die Lebenserscheinungen, zu
ergänzen. Ich würde dies jedenfalls tun, wenn nicht
über allen diesen Bestrebungen herrschend und lenkend ein
gewisser kleiner blonder, blauäugiger Engel säße,
welcher meine Herzensneigungen so ausschließlich beherrscht und
lenkt, daß selbst die dringendsten wissenschaftlichen
Wünsche ganz hinter ihm zurückstehen. Wäre dieser
kleine, gebieterische Querstrich nicht, welcher mir auch jetzt bei der
Arbeit ein "bis hierher und nicht weiter!" zuruft, so
würde ich jedenfalls jetzt auf vier bis sechs Wochen nach Nizza
oder Triest gehen, wodurch der Wert meiner Arbeit bedeutend steigen
würde. Überhaupt würde ich weit mehr Zeit und
Arbeit auf Fortsetzung der Untersuchungen und Erwerbung neuen
ergänzenden Matenais, als auf Ausarbeitung des schon
vorhandenen wenden. So aber ruft mir jeder Augenblick meine
"suprema lex" ins Ohr. Bis dat, qui cito dat! und dringt vor
allem darauf, daß das Radiolarienwerk bald erscheine, weil von
dessen Wirkung doch am ehesten noch eine baldige Erfüllung
unserer beider innigster Wünsche und Strebungen zu hoffen ist.
Daß es aber da doch noch zuweilen einen heißen Kampf gibt,
in dem der alte, längst unterworfene Wissenschafts-
"Ernst" gegen den jungen, über mächtigen
Liebes-"Erni", wenn auch ganz vergeblich, sich zu
empören sucht, kannst Du denken; besonders sucht mich dann der
erstere durch den Gedanken zu ärgern, daß aus der
"hehren, der herrlichen Göttin" der Wissenschaft
"die melkende Kuh" geworden ist, die mich mit Butter (d. h.
mit einer Professur) versorgen soll!
Indes sei unbesorgt; Dein auf die innigste Liebe gegründeter Thron
steht zu fest, als daß auch die heftigsten Anstrengungen der treulos
verschmähten Wissenschaft ihn zu erschüttern
vermöchten, und um so fester, je mehr die selige Ruhe der
Stunden, die ich in Deinen Armen verträumte, mit der Unruhe des
Zweifels kontrastieren, in den mich die wissenschaftlichen Gedaken
immer wieder kalt und trostlos hinausführen...
Jena, 14.9.1860
Universität und Stadt Jena entbieten ihrer zukünftigen
Professorin der Zoologie
zu deren glücklich zurückgelegtem
ersten Vierteljahrhundert
ihren alleruntertänigsten Gruß und Glückwunsch
und verehren derselben, zugleich als Beweis ihrer
tiefsten Ergebenheit, einen
Brummkasten
zum Einsperren ihres ersehnten Professors,
nebst Gebrauchsanweisung.
Anweisung zum Gebrauch des Brummkastens:
¤1. In den mittleren Kasten wird der Professor, wenn er mault oder
brummt, eingesperrt und im Caprikostüm an die Luft gesetzt, bis
er artig ist.
¤ 2. In den rechten Kasten wird ihm eine Schüssel mit
Buttermilchsuppe zur Stillung des Hungers hin gesetzt.
¤3. In den linken Kasten wird ihm ein Topf mit Kamillentee zur Stillung
des Durstes hingesetzt.
¤4. Diese Zustände bleiben solange in Permanenz, bis der
Professor wieder artig und lieb ist.
P.S. Zugleich spricht die Universität Jena die Hoffnung aus,
daß dieser Brummkasten schon im nächsten Jahre in ihr zur
Anwendung kommen wird.
Jena, 26.2.1861
Die innigsten freundlichen Grüße, mein süßer,
bester, einziger Schatz, aus unserem ersehnten lieben Jena, in welchem
ich nun schon zwei Tage weile und nach welchem ich Dich so
herbeisehne, daß ich immer meine, Du müßtest
herbeigeflogen kommen. Dein liebes Bild umschwebt mich
beständig und allenthalben.
Um siebeneinhalb Uhr aus Berlin gefahren, war ich um ein Uhr in
Apolda, wo der "Bummler" mit seiner Karete schon
bereitstand. Ich zog es jedoch vor, bei der herrlichen Frühlingsluft
über die Berge zu wandern und kam auch richtig zu gleicher Zeit
mit der schneckenartigen Rumpelpost hier an. Meine Freunde traf ich
nicht zu Hause, da sie ihren Sonntagsspaziergang machten. Ich trieb
mich also den Rest des Tages noch an der Saale im Tale umher.
Schon war mir das Tal gefunden,
wo wir einst zusammen gehn>BR>
und den Strom in Abendstunden
sanft hinuntergleiten sehn.
Diese Blumen auf den Wiesen,
diese Pappeln in dem Hain,
ach und hinter allem diesen
- - - - - - - - - - !!!
Du kannst Dir denken, was für Gefühle in dem Genusse der
lieben, alten, herrlichen Natur meine Brust durchwogten. Ach, liebster
Schatz, würden meine süßesten Träume doch
bald Wahrheit!
Gestern, Montag früh, machte ich bei sämtlichen Mitgliedern
der medizinischen Fakultät und beim Prorektor Visite; zuerst bei
Seebeck, welcher mich außerordentlich freundlich empfing, jedoch
über unsere ersehnten Aussichten nur sehr entfernte
Andeutungen machte, so daß mein Hoffnungsthermometer gerade
nicht gestiegen ist. Gegenbaur dagegen ist guten Muts und hofft das
Beste. Doch scheinen mir nach allem die Aussichten für den Herbst
leider sehr zweifelhaft.
Heute früh habe ich Wohnungen besehen, die jedoch, so wie ich sie
wünsche, ziemlich rar sind. Nur eine einzige habe ich gesehen, die
mir gefiel. Diese war aber auch überaus reizend, ganz nur
für uns beide geschaffen. Das Häuschen liegt außerhalb
der Stadt (etwa fünf Minuten entfernt) am Abhange des Berges,
mit der allerreizendsten Aussicht über die Wiesen und Felder des
Saaletales bis hinunter nach Dornburg, ganz allerliebst. Das
Häuschen ist noch ziemlich neu. Der Besitzer, ein junger
Ziegeleibesitzer, heiratet jetzt (der beneidenswerte Glückliche!)
und bezieht die Parterrewohnung. Bel-Etage sind drei reizende Zimmer
und zwei Kammern. Wüßte ich, daß Du im Herbst
kommen könntest, so nähme ich sie unbedingt. So aber ist
die Miete, achtzig Taler jährlich, doch zu hoch! Die Alten sollen mir
jedenfalls noch an dem Montag (eher werde ich mich nicht über
die Wahl der Wohnung entscheiden) schreiben, wie hoch ich mit dem
jährlichen Mietpreis gehen kann. Unter fünfzig bis sechzig
Taler jährlich werde ich eine Wohnung von drei Stuben nicht
bekommen...
Jena, 1.3. 1861
Schatzchen, könnte ich Dich Ostern mit hernehmen, ich glaube, ich
würde der glücklichste Mensch auf Erden! Denn abgesehen
von diesem einen Mangel ist wirklich alles allerliebst hier, die
Einsamkeit, die Freiheit, die überaus reizende Natur und für
mich speziell die höchst ansprechende Tätigkeit, für
die die Bedingungen allerdings so günstig sind, als sie für
einen Anfänger in der akademischen Karriere nur sein
können. Wie es aber mit der Professur steht, ist mir sehr
zweifelhaft. Der gute Wille wäre wohl da, aber die Mittel sind zu
gering. Trotzdem meinen Gegenbaur und Bezold, daß sie mir noch
innerhalb des Sommers zufallen müsse. Hoffe aber nicht zu
sanguinisch darauf, denn die bittere Enttäuschung könnte
nur zu leicht nachkommen. Ich weiß ja noch gar nicht einmal, wie
es mit dem Lesen gehen wird.
Ich habe die reizende Ruhe und Einsamkeit, Stille und
Abgeschlossenheit, in der ich wohne und in der ich nur durch Mittag-
und Abendessen mit Gegenbaur und Bezold unterbrochen werde,
benutzt, um tüchtig an den Radiolarien zu arbeiten, deren
allgemeinen Teil ich ziemlich fertig mitbringe. Täglich vier bis
fünf Bogen, das hat ordentlich gefleckt! Besuche habe ich weiter
nicht gemacht, Spaziergänge nur einen einzigen, vorgestern bei
reizendem Sonnenschein und warmem Südwind in den
"Forst", einen stundenweit ausgedehnten Wald, der kaum
eine halbe Stunde vor der Stadt anfängt. Denke Dir! welch reizende
Aussicht! Zwar ist alles nur niederes Holz, keine schönen
großen Bäume. Aber es ist doch Wald, Wald!! Was sagt das
köstliche Wort alles, und namentlich für zwei solche
Naturmenschen, wie wir beide sind. Gegenbaur sagte mir, daß er
im Sommer oft schon um drei oder vier Uhr hinaufgezogen wäre,
um da den Sonnenaufgang zu erwarten und dann ein paar Stunden
unter den Bäumen zu schwelgen. Nun denk Dir einmal, wenn zwei
gewisse Leute da hinaufwandern und sich der lieben Mutter Erde und
ihres herrlichen Schmuckkleides, der Bäume und Berge, des
Stromes und des Himmels, erfreuen!
Jena, 4.3.1861
Glückauf, mein lieber, süßer Herzensschatz! Nun bist
Du also die Braut eines Privatdozenten, und ich hoffe, daß Du Dir
mit vollem Bewußtsein die hohe Würde zu Gemüte
führst, die Du durch diesen entscheidenden Schritt erlangt hast!
Die ersten Worte des neugebackenen Privatdozenten müssen
natürlich Dir gelten, Du bestes, liebstes Herz, und ich sende Dir aus
vollem lieben Herzen den besten, innigsten Gruß, mit dem
Wunsche, daß dieser neuerworbene Titel mich möglichst
kurze Zeit zieren und sich bald in den heiß ersehnten Professor
umwandeln möge, nach dem wir beide gleichgroße Sehnsucht
haben.
Ich ging am Montag zunächst zum Dekan der med. Fakultät,
Professor Schleiden, welcher den Termin zur Disputation auf gestern
früh um elf Uhr ansetzte. Dann lud ich noch den Prorektor ein,
während der Pedell die übrigen Professoren einlud, und
überredete Gegenbaurs Assistenten, Dr. Müller und Dr.
Ahsverus, die Rolle der Opponenten zu übernehmen.
Sonntagabend war ich mit Bezold bei Seebecks, die sehr freundlich
waren und denen ich soviel von meinem Bräutchen erzählte,
daß er Dich notwendig bald zur Professorin machen muß!
Nachher arbeitete ich noch die lateinische Disputation für mich
und meine Opponenten aus. Gestern, Montag früh, brachte ich das
Aufgeschriebene den beiden Opponenten. Um elf Uhr ging der feierliche
Akt in der Aula höchst simpel vor sich, nachdem schon seit elf Uhr
dreimal das "Arme sündergiöckchen" (die
akademische Festgiocke) das hochwichtige Ereignis den Bewohnern
Jenas verkündet hatte. Die einzigen anwesenden Menschen
waren:
1. Schleiden als Dekan, 2. der neugebackene Privatdozent, 3. und 4. Dr.
Müller und Dr. Ahsverus als Opponenten, 5. der Pedell. Endlich
hatte sich ein höchst zahlreiches Auditonum von zwei!! Personen
eingefunden, nämlich der Kirchenrat Rückert, wie meine
Freunde und ich ein prinzipieller Gegner des lateinischen Sprechens, der
sich darüber lustig machen wollte, und dann ein jugendlicher
Student, der offenbar nur aus Neugierde der hohen akademischen
Festlichkeit beiwohnte, aber höchst unbefriedigt wegschlich. Der
ganze Schwindel war in vierzehn Minuten abgemacht, so rasch lasen ich
und die Opponenten die möglichst kurzgefaßten Sätze
ab, worüber Schleiden sehr erfreut war und sich noch speziell
bedankte...
Jena, 6.3.1861
Nun muß ich Dir doch auch noch von der Wohnung schreiben, mit
der ich sehr glücklich gewesen bin. Ich habe zwar nicht die
reizende Bei-Etage für achtzig Taler mit der wundervollen
Aussicht gemietet, wohl aber die Mansarde unmittelbar darüber,
mit derselben Aussicht, allerliebst, eine sehr geräumige und
hübsche große Stube mit 3 (drei!) kleinen Kammern,
vollkommen ausreichender Raum, Miete jährlich vierzig Taler. Das
reizendste dabei ist aber, daß die untere Bel-Etage nur für
den Sommer vermietet ist und den Winter wieder frei wird! Dann kann
vielleicht eins der glücklichsten Menschenpärchen
hineinziehen!
Jena, 24.4.1861
Der liebe Mond schaut gerade durch die zerrissenen Woiken voll und
klar in mein Zimmerchen, als wollte er mir sicher die Gewährung
unserer Wünsche versprechen... Wie nett, einsam und still ist es
hier, dabei die reizendste Umgebung, die Entfernung von der Stadt, der
frische ländliche Charakter; kurz, es ist alles nach unser beider
Wunsch, wie für uns geschaffen, und teile ich erst mit Dir, so wird
alles doppelt reizend sein. Hier ist in der Tat alles dazu angetan, ein
kleines Stück Ideal in wirkliches Leben zu verwandeln und einen
lieben Traum in wonniges, befriedigtes Erwachen ohne
Enttäuschung zu verwandeln.
Das Quartier ist wirklich ganz reizend und beneidenswert, und
Gegenbaur hat gestern nachmittag, als er bei mir war, fast zwei Stunden
lang im Fenster gelegen und sich gar nicht sattsehen können.
Daß Gegenbaur bereits hier war, als ich ankam, war mir sehr lieb.
Wir gingen gleich gestern nachmittag zusammen auf das Zoologische
Museum, welches er mir feierlich übergab und wo ich nun meine
ersten praktischen Versuche machen werde.
Jena, 29.4.1861
Die erste Vorlesung ist glücklich vorüber, mein lieber,
süßer Herzensschatz, und meine kleine bessere
Lebenshälfte soll das erste Menschenkind sein, dem ich jubelnd
zurufe, daß der Anfang gut gegangen ist und viel besser, als ich
erwartet hatte. Daß der heutige, bang erwartete Tag nicht ohne
einige Bedenken verging, kannst Du denken, liebster Schatz, zu mal ich
in der letzten Woche bei all der Packunruhe nicht die mindeste Zeit zur
Vorbereitung gefunden hatte, so daß ich faktisch erst heute morgen
mit ungewöhnlichem Leichtsinn die Präparation begann und
mir auf einem kleinen Blättchen kurz den Gedankengang des
Vortrags aufzeichnete. Der Leichtsinn wurde aber, wie immer, mit dem
besten Erfolg gekrönt, und es ging alles viel besser, als ich gedacht
hatte. Daß ich vor dem Material, das ich ganz beherrsche, keine
Bange hatte, weißt Du, liebste Anni; um so mehr glaubte ich,
daß es mit dem Vortrag sehr holprig und eckig gehen würde.
Der ging aber ganz ruhig und ohne Anstoß fort, obwohl ich ganz frei
sprach, so daß ich mich über mich selbst ein wenig
gewundert habe. Das Schlimmste waren die Nachmittagsstunden vorher,
in denen ich einigen Schüttelfrost nicht unterdrücken konnte
und mir mit einigen eiskalten Kopfwaschungen und einigen
Gläsern Zuckerwasser die nötige Gemütsruhe zu
verschaffen suchte. Unmittelbar vorher trank ich nach alter Erfahrung
eine Tasse Kaffee, die denn auch ihre altbewährte Wirkung richtig
nicht verfehlte. So ist denn der erste schwerste Anfang glücklich
überstanden und ich hoffe, daß es nun so fortgehen wird.
Jena, 3.5.1861
Wie sehr Du mir gerade heute gefehlt hast, liebster Schatz, brauche ich
Dir wohl nicht erst zu sagen, da es Dir vermutlich nicht viel besser
gegangen sein wird. Wie oft habe ich in Gedanken den 3. Mai 1858
zurückgerufen, wo in dem reizenden grünen Tempelchen bei
dem Genusse der Meerespoesie unsere erregten Herzgedanken sich
begegneten und zwei Seelen sich fanden, die, füreinander
geschaffen, nun nimmer voneinander lassen können. Recht lebhaft
habe ich mir heute wieder den Tag zurückgerufen. Früh war
ich erst auf dem Anatomischen, dann auf dem Zoologischen Museum, wo
ich mit dem guten Martens umherwanderte und die
tiefgefühltesten Schmerzensgedanken über den Tod des
verehrtesten Lehrers, den gerade für uns ganz unersetzlichen
Verlust, austauschte. Kaum hatten wir ihn vor zwei Tagen zu Grabe
getragen. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie dieser entsetzliche Fall
mich deprimierte und wie ich allen Glauben an Wissenschaft und
Zukunft verlor. Hatte ich doch gerade jetzt erst recht mich in Johannes
Müllers Art und Weise in seinem eigenen Umgang hin einarbeiten
wollen.
Als ich fortging, gab mir Martens noch ein paar ganz kleine Schnecken
mit, mit der Bitte, deren Zunge und Gebiß mikroskopisch zu
untersuchen. Zu Hause angekommen, versuchte ich es, aber ich bekam
nach langem Suchen kein ordentliches Präparat, und unmutig warf
ich die Instrumente weg, in meiner tiefen Verstimmung an allem
wissenschaftlichen Erfolg verzweifelnd. Das Wetter war dazu recht
passend, der düsterste, trübste Regentag. Noch ahnte ich
nicht, was mir so nahe bevorstand, und daß sich, wie so oft in
meinem Leben, die Extreme berühren, daß dem herbsten
Schmerze die größte Glückseligkeit folgen sollte. Ich
fuhr mit den Eltern zu Euch hinaus, wo wir mit Onkel Scheller und Emilie
zusammen essen wollten. Nachmittags spielten wir zusammen Klavier.
Dann, als die anderen fort waren, gingen wir in Dein reizendes, kleines
Zimmerchen, das, wie kein anderes, zum Brautgemach geeignet war und
wo sich bei dem
Spiele der schwungvoll schönen und schnellen,
der leichten und lichten Wellen
die Schleier lösten, die unser Innerstes noch verdeckt hatten, und
es uns mit einem Male wie Schuppen von den Augen fiel. Laß uns
noch oft, oft diese himmlische Stunde zurückrufen, mein lieber
süßer Schatz, wo wir uns für immer fanden! Ich
drücke Dir in Gedanken einen innigen, heißen Kuß auf
Deine süßen Lippen, und halte Dich fest an meinem Herzen,
von dem Du nimmer, nimmer lassen sollst.
Dies ist hoffentlich das letztemal, daß wir diesen gemeinsamen
Geburtstag getrennt verleben, dann soll Dich nichts wieder von mir
trennen, wenn ich Dich erst hier habe, wie ich es übers Jahr
bestimmt hoffe. Ich liebe Dich so innig, so wahr, so treu, mein liebster
Schatz, wie nur je ein deutscher Mann sein Mädchen geliebt haben
kann, und da denke ich doch, darf die Belohnung nicht mehr lange
ausbleiben, und wenn sich noch einmal der rollende Jahreslauf vollendet
hat, dann bist Du mein, und ich Dein, und beide sind wir glückselig
beisammen...
Gewiß, nun wird auch der Schlußstein unseres Glückes
nicht mehr lange ausbleiben, und was für ein herrliches,
glückliches Leben wollen wir dann beginnen! Wenn wir nur hier
bleiben dürften, liebster Schatz! Es ist alles gar zu reizend, und wie
für uns geschaffen, Du glaubst nicht, wie sich mein Gemüt an
dieser stillen Natureinsamkeit erfrischt und wie ich alle Tage neue
Kräfte daraus schöpfe. Die schön geformten Berge des
Saaletals sind gar zu prächtig, die Formen erinnern zum Teil
lebhaft an die kalabrische Küste. Auch die Farben sind oft ganz
italienisch. Wie herrlich muß das alles erst in den bunten Farben
des Herbstes sein!
Jetzt ist das Tal noch etwas sehr winterlich. Wird erst der Frühling
mächtiger, so werden sich auch die Auen freundlicher gestalten.
Heute früh fing es mit einem Male gar an zu schneien, was doch
der lieben Natur am dritten Mai gar nicht erlaubt sein sollte! An dem
Tage scheint sie aber gerade ihre besonderen Grillen zu haben. Auch
heute vor zwei Jahren war ein besonders trüber Regentag, wo ich
allein in Neapel saß und mich nach Dir bangte, nachdem ich tags
zuvor von meiner ersten Capri-Exkursion zurückgekehrt war. Der
Frühlingsmorgen des ersten Mai wird mir ewig unvergeßlich
bleiben. Spät abends zuvor auf der Insel im Dunkel gelandet,
ahnte ich nichts von der wunderbaren Naturpracht, die nun mit einem
Male, als ich morgens früh auf das Dach trat, in heiterstem
Morgensonnenglanze mit blühenden Orangen, Duft und
Frühlingswonne mich ganz überschüttete und
betäubte.
Diese Überraschung ist eine meiner lieblichsten italienischen
Erinnerungen, zumal sie mir das im voraus vormalte und abspiegelte,
was ich dann in dem reizenden August in aller Intensität und
Ausführlichkeit genießen sollte. Ich mußte soviel daran
denken, daß ich, als heute abend Gegenbaur zu mir kam, alle
italienischen Aquarelle, Photographien und Skizzenbücher usw.
hervorholte und ihm zum ersten Male alles in extenso demonstrierte. Er
war ganz entzückt, und konnte den Umfang meiner Leistungen
nicht genug loben. Er behauptet, daß ich für drei gearbeitet
habe und es nicht begreife, wie ich neben all den wissenschaftlichen
Arbeiten auch noch so viel Allotria habe treiben können. Auch die
neuen Radiolarientafeln konnte er nicht genug bewundern und
prophezeite dem Werk einen glänzenden Erfolg. In Gegenbaurs
Munde wollen solche Lobsprüche etwas bedeuten, und ich freue
mich insofern darüber, als ja wohl all das Lob Dir, liebstes Herz,
ein bißchen Freude machen muß.
Heute morgen ging ich auf die Bibliothek, die allerdings in einem sehr
bedenklichen Zustand sich befindet, und deren Bekanntschaft mir nicht
allzuviel Vergnügen verursacht hat. Ich werde mir wohl ziemlich
viel selbst anschaffen müssen.
5.5.1861
Wie die erste Woche dem Packen, so war diese zweite
ausschließlich den ersten Vorlesungen gewidmet. Das Auditorium,
welches zwei Treppen hoch im Großherzoglichen Schloß, an
der Wallpromenade liegt, und an das die freundlichen Räume des
Zoologischen Museums, mit reizender Aussicht in das Tal, unmittelbar
anstoßen, ist sehr nett, geräumig und freundlich. Daneben
habe ich ein sehr großes freundliches Arbeitszimmer und
Laboratorium, sehr große nette Räume, in denen ich mich
sehr behaglich fühle. Im Sommer werde ich viel dort arbeiten. Das
einzige Schlimme an der Anstalt ist ein sehr ungeschickter und
unbrauchbarer Assistent oder vielmehr Famulus, ein verdorbener
Student, mit dem sich nicht viel anfangen läßt. Ich werde
mich also, wie bisher, in allem ziemlich auf mich selbst verlassen
müssen.
Die Vorlesungen begannen mit einer historischen Einleitung über
die ältere Zoologie (Aristoteles, Linné, Cuvier, J.
Müller) und gingen dann zunächst als allgemein tierische
Physiologie oder Biologie fort, mit welcher ich erst zu Pfingsten werde
fertig werden. Nach Pfingsten soll dann der spezielle, systematische Teil
beginnen. Sowohl das Kolleg selbst, als die Vorbereitung, macht mir
bereits viel Freude und ich lerne selber vielleicht mehr dabei, als meine
Schüler.
Mittwoch, der 1. Mai, wo ich nicht las, wurde zum ersten Visitenzyklus
verwendet, der dann am Mittwoch, den 8. Mai fortgesetzt und beendet
wurde. An diesen beiden Tagen habe ich, was in Berlin wohl schwierig
wäre, zusammen 64, schreibe vierundsechzig Visiten gemacht!
Freilich war ich von 11-1 Uhr und von 4-8 Uhr beständig auf den
Beinen und benutzte redlich die Vorzüge der enggedrängten
Jenenser Topographie. Auch begünstigte der gütige Himmel
offenbar mein Unternehmen, da gerade diese beiden Mittwoche die
ersten sonnigen und warmen Tage waren, in denen alles, was Beine und
Sinn für Natur hat, ins Freie lief. Indes bleibt immerhin die Zahl
von 64 Visiten in zwei Tagen gewiß recht respektabel, und wenn
ich auch im ganzen nur etwa zwanzig Leute zu Hause traf, so ist diese
Zahl immer noch groß genug.
Jena, 11. 5.1861
Du glaubst nicht, wie überaus reizend es jetzt, seit der
Frühling nun wirklich eingezogen, hier ist. In der Tat sind in dieser
Beziehung meine Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen nicht
nur erfüllt, sondern weit übertroffen. Die Gegend, das
einfache, stille Landleben, meine reizende Wohnung, meine
Beschäftigung der Umgang mit meinen Freunden - alles, alles ist
noch viel reizender als ich je gedacht, und nur Du, süßes Herz,
fehlst noch, um mich wirklich glücklich zu machen. Wie wohl mir
diese ländliche Stille und Einsamkeit tut, kann ich Dir gar nicht
sagen. Es ist das wirklich mein spezifisches Lebenselement, worin ich ein
ganz anderer und viel besserer Mensch bin. Ich lebe aber auch
vollkommen, wie auf dem schönsten Landgut. Von der Stadt
höre und sehe ich nichts. Meine idealsten Jugendwünsche
sind in dieser Beziehung erfüllt.
Wie wonnig es früh ist, wenn mich um viereinhalb Uhr der erste
Sonnenstrahl und der liebliche Gesang der vielen kleinen Vögel im
Prinzessinnengarten weckt, kann ich Dir gar nicht sagen. Das ist ein
wahrer Prinzessinnengarten, dessen blühende Zweige mir gar
lieblich in das Seitenfenster hineinschlagen und mir von meiner
Prinzessin erzählen, die übers Jahr dort wandelt und dem
Garten erst recht die volle Lust und den wahren Klang verleihen wird.
Liebchen, könnten wir doch immer hier bleiben und für
Lebenszeit hier unser Nestchen bauen. Es ist, glaube ich, kein anderer
Ort so für uns beide geschaffen. Gegenbaur, der einen mindestens
ebenso fein und intensiv fühlenden Landschaftssinn hat wie ich,
behauptet, es wäre die schönst gelegene
Universitätsstadt und selbst Heidelberg unbedingt vorzuziehen.
Allerdings ist hier nicht so ein großartiges Totalpanorama, wie dort
am Schloß, dafür aber eine unerschöpfliche
Mannigfaltigkeit von höchst verschiedenartigen, reizenden kleinen
Partien und Bildern.
Dritte Woche, 6.5. bis 12.5.1861
Sonnabend und Sonntag (4. und 5.) wurden benutzt, um mit Gegenbaur
die seit Messina noch gar nicht ausgepackten Gläser mit kleinen
Fischen und Wirbellosen aller Art zu sortieren und ihren Inhalt in kleine
Gläser zu verpacken. Es ist daraus ein eigener großer Schrank
mit einigen Hundert Gläsern geworden. Gegenbaur fiel aus einem
Erstaunen ins andere über die Masse des Gesammelten und
behauptete, daß noch keine derartige Sammlung nach Deutschland
gekommen sei. Ich werde noch viel zu tun haben, ehe alle einzelnen
Arten bestimmt und gesichtet sind. Erst jetzt beim ordentlichen
Auspacken wird mir klar, was ich alles in Italien gesammelt habe.
Erst in der dritten Woche war es möglich, mit der ordentlichen
Zeiteinteilung des Sommersemesters zu beginnen, nachdem in den
beiden ersten Wochen alle Versuche gescheitert waren, meine Freunde
zu einer Verlegung der Mittagsmahlzeit auf den Abend zu bewegen. Die
Zeiteinteilung ist nun folgendermaßen festgesetzt: Um
einhalbfünf Uhr wird aufgestanden, von der Sonne geweckt, die
mir ihren ersten Strahl ins Bett schickt, um fünf Uhr bereits Kaffee
getrunken (ein sehr bedenklicher Mokka). Dann in einem Strich bis
eineinhalb Uhr gearbeitet, an den Vorlesungstagen Kolleg, sonst
Radiolarien. Um zwei Uhr mit Gegenbaur, Bezold und Dr. Naumann
(akademischer Tonkünstler) im "Bären" zu Mittag
gegessen, wo wir jetzt ein sehr nettes Plätzchen außen in der
Gartenhalle haben. Hier plaudern wir und trinken Kaffee bis dreieinhalb
Uhr. Dann gehe ich entweder auf das Journalzimmer, um Zeitungen zu
lesen, oder auf das Zoologische Museum, um zu arbeiten. Von fünf
bis sechs Uhr Vorlesung. Nach sechs Uhr entweder spazieren gegangen
mit Gegenbaur, oder demselben auf dem Anatomischen Museum
geholfen. Die Abende sind kurz. Um acht Uhr esse ich zu Hause mein
feudales abendliches Butterbrot und gehe dann schon um zehn Uhr zu
Bett. So verfließt ziemlich ein Tag wie der andere. Besonders
angenehm sind früh die neun ununterbrochenen Arbeitsstunden,
von viereinhalb bis eineinhalb Uhr, in denen man ein gehöriges
Arbeitsquantum ungestört erledigen kann.
Himmelfahrtstag war der erste, ganz prächtige Frühlingstag,
ein wahrer Jubeltag. Schon tags zuvor hatte mich ein lieber Brief meines
süßen Schatzes sehr froh gestimmt. Am Donnerstagmorgen
erhielt ich einen Brief aus Berlin von Oberbibliothekar Pertz, worin mir
derselbe mitteilt, daß der Minister von Bethmann Hollweg mein
Gesuch, die Königliche Bibliothek auch hier fortbenutzen zu
dürfen, genehmigt habe, eine mir äußerst wichtige und
dankenswerte Vergünstigung, über die ich sehr froh bin.
Dann erschien der Oberpedell und brachte mir das erste
Kollegienhonorar, zehn Taler, welches ich mit stolzer Miene in mein
Einnahmebuch eintrug. Ich habe jetzt acht Zuhörer, von denen
jedoch nur fünf bezahlen werden, da die übrigen arme
Teufel sind. Immerhin wird durch dieses Honorar des lieben Alten
Beschuldigung von absoluter Nichteinnahme widerlegt.
Donnerstag nachmittag von dreieinhalb Uhr bis acht Uhr machten wir
den ersten ordentlichen Spaziergang, eine Bergwanderung, die mich im
höchsten Grade entzückt und überrascht hat. Mit mir
gingen Gegenbaur, Bezold, Schultze und Naumann. Wieviel ich auch von
den Reizen der Gegend gehört und mir eingebildet hatte, so
übertraf doch die Reihe höchst reizender und
verschiedenartiger Landschaftsbilder, die ich auf dieser Wanderung sah,
alle meine Erwartungen. Der mehrstündige Weg, den wir machten,
die sogenannte "Horizontale", führt als eine wahrhaft
bewundernswerte Kunststraße an den Bergen hin, welche das
rechte Saaleufer nach Südwesten, nach Kahla hin,
umsäumen. Der schöne, ganz neue und wirklich kühn
angelegte Fußweg hält sich immer in der Mitte der steil
abfallenden Berge und folgt denselben in alle Biegungen und
Krümmungen hinein, bis zur Höhe über Lobeda, so
daß die eine Stunde lange Wegstrecke fast verdreifacht wird. Bei
jeder neuen Biegung entfalten sich neue überraschende
Aussichten, im Grunde immer das freundliche, vielgewundene Saaletal
mit seinen Wiesen, Äckern und Dörfern, von den
Schlangenwindungen der Saale und den ihr folgen den Chausseen
durchzogen. Rings an den niederen Abhängen freundliche
Dörfer mit Obstgärten und dichten Baumgruppen, weiter
hinauf kleine Waldstücke und endlich auf der Höhe der
nackten, gelben Kalkberge, deren schöne und großartige
Formen zum Teil in wahrhaft italienischer Farbenpracht gegen den
tiefblauen Himmel sich absetzen, größere und kleinere
Waldpartien, mit unbewaldeten Strecken wechselnd. Dazu war dieser
erste Frühlingstag in seiner wundervollen Wonnepracht, die nach
dem herben Nachwinter doppelt wohltat, wirklich entzückend
sonnig und klar. Die Beleuchtung war überaus prachtvoll, und wir
konnten uns gar nicht satt daran sehen.
Einer der reizendsten Punkte war die Sophienhöhe, in dem Knie
des Saaletals gelegen, wo es sich nach Südwest wendet. Ganz
köstlich war auch der Blick auf der letzten Anhöhe
über Lobeda, nach der Leuchtenburg hinüber, die alle Berge
überragt. Dort hörte der noch nicht ganz fertige Weg
plötzlich in einer Felsgruppe auf und wir sprangen und kletterten
nun an sehr steilem Abhange in ein reizendes, stilles und einsames
Waldtal hinunter, in dessen Grunde ein munterer Bergbach, der
Fürstenbrunnen, herabspringt; dessen Lauf entgegenstiegen wir
bis zu seiner Quelle, der Fürstenquelle, wo der Kurfürst
Johann Friedrich, aus Karls des Fünften Gefangenschaft
zurückkehrend, sich zum ersten Male wieder am heimischen Quell
labte. Das ist eine wunderbar heimliche und liebliche kühle Quelle,
rings von den prächtigsten alten Bäumen und
Moosbänken umstanden, auf denen wir uns lagerten und in der
schattigen Kühle ein sehr gemütliches Halbstündchen
verplauderten. Während die anderen sich an ihrer Zigarre
erfreuten, dachte ich sehnsüchtig an die viel liebere
Beschäftigung, welche meine Lippen hier gern genossen
hätten.
Jena, 15.5. 1861
Der prächtige "Hohe Gentzig, mein Liebling, mein liebster
süßer Schatz, soll Dir diesmal statt meiner einen recht
frischen, herzigen Pfingstgruß zurufen. Zwar kann ich Dir mit
meinen paar Federstrichen nur ungefähr die prächtige Form
des Berges vor Augen stellen, wie er mir gerade zu einem Fenster
meiner reizenden Wohnstube hineinschaut, und kann Dir nicht dazu die
wunderschönen Farbentinten hinzugeben, in denen er bald mehr
rot, bald mehr violett oder blau, im Abendschein
herüberglänzt; aher ich denke, schon die bloße Form
der wunderschönen Gipfelung wird Dir einen Begriff davon geben,
welchen Genuß mir hier die liebe Natur beschert hat und
täglich mit neuer Freude darbietet. Dieser reine und intensive
Naturgenuß muß mich für die bittere Entbehrung
trösten, die ich durch die neue Entfernung von Dir leide, liebstes
Herz! Freilich wie ganz anders würden die Berge, die Bäume
und das ganze liebe Saaletal mich ansehen, wenn ich all den Genuß
mit dem besten Herzen teilen könnte, das ihn mir verdoppelt.
Mein angefangenes Sommerstilleben nimmt indes ungestört und
regelmäßig seinen Fortgang. Wie ganz anders läßt
es sich hier doch arbeiten und denken, als in dem wüsten
ungemütlichen Berlin. Je länger ich mich hier einlebe, desto
mehr finde ich, wie diese Verhältnisse meiner
Eigentümlichkeit entsprechen, und wie ich fast alles, was ich
wünschte, verwirklicht finde, und dazu noch vieles andere, was
manchem als Schatten, mir aber gerade als die Lichtseite an Jena
erscheint. Ich glaube, meine Natur würde an keiner anderen
deutschen Universität solche Befriedigung finden!
Zunächst bin ich sehr froh, daß ich endlich einmal ganz
ungestört hintereinander arbeiten kann. So wie hier täglich
von 5 bis 8 Uhr habe ich bisher nur in Messina gearbeitet. Keine
Menschenseele stört mich, da die Jenenser zum Glück die
Entfernung meiner Wohnung für viel zu groß halten, als
daß sie mir viel Besuche machen könnten. Auch hält
zum größten Glück das Bekanntwerden meiner
Verlobung, für welches ich meine Freunde nach Kräften
wirken lasse, sehr viele Einladungen und Besuche ab, denen ich sonst
gar nicht würde entgehen können. Natürlich wird auf
keine anderen "Schwiegersöhne" hier so eifrig Jagd
gemacht, als auf Privatdozenten.
Nächstdem ist mir auch endlich die Entfernung aus dem
unendlichen Kreise der lieben Berliner "Familie"
äußerst angenehm. Denke ich daran, welchen Anstoß ich
allen den lieben Onkels und Tanten, Vettern und Basen in Berlin stets
erregte, ich mochte es anfangen wie ich wollte, so kommt mir das
Glück der hiesigen Isolierung erst recht zum Bewußtsein. War
doch zuletzt selbst das sonst so innig geliebte Eltemhaus, mit welchem
ich von klein auf so innig verwachsen bin, in gewisser Hinsicht für
meine gedeihliche Entwicklung zur männlichen
Selbständigkeit nachteilig und mit meinem individuellen Streben
unvereinbar geworden. Es war hohe Zeit, daß ich aus allem dem mit
einem Schlage herauskam, und ich fühle jetzt täglich mehr,
wie gut es mir bekommt, wieder auf eigenen Füßen zu
stehen. Dazu gewöhne ich mich nun schon in meine offizielle
Tätigkeit so ein, daß sie mir von Tag zu Tag lieber wird und
daß ich nie mehr als jetzt mit der Wahl des akademischen Berufs
zufrieden war.
Was die Erlangung der Professur im Herbste, als die Hauptsache, betrifft,
so wird sie mir im Gegenteil immer unwahrscheinlicher. Direkt
gesprochen habe ich darüber weder mit Gegenbaur noch mit
Seebeck, und es würde dies auch zu gar nichts helfen. Gegenbaur,
mit dem ich übrigens auf dem besten Fuße stehe, ist so
eigentümlicher Natur, daß jede von außen kommende
Anregung immer eher das Gegenteil bei ihm erreicht. Er will durchaus
alles von selbst und völlig unabhängig tun. Ich vermeide es
daher auch sorgfältigst, irgendein Gespräch mit ihm
hierüber zu provozieren. Ich darf dies um so weniger, als ich
einerseits das vollste Vertrauen zu ihm habe, daß er für mich
tun wird, was er irgend kann, und als ich andererseits ihm schon so sehr
verpflichtet bin, daß es ihn nur verletzen würde, würde
ich etwas von ihm begehren, was er doch nicht gewähren kann.
Die ganze äußerst angenehme Stellung, die ich jetzt schon
hier einnehme, den äußerst günstigen Anfang der
akademischen Laufbahn, wie er gewiß höchst selten einem
Dozenten in dieser Art geboten wird, verdanke ich ihm, und ehe ich
weiteres von ihm bitten und wünschen kann, wird es meine
Pflicht sein, einen Teil der Dankesschuld wenigstens abzutragen. Ich
bemühe mich daher, ihm zu helfen und bei seinen anatomischen
Arbeiten zu assistieren, so viel und so gut ich kann.
Gegenbaur selbst ist ein so höchst eigentümlicher Mensch
und daher auch mein ganzes Verhältnis zu ihm so eigener Art,
daß ich es Dir unmöglich schriftlich auseinandersetzen kann.
Er ist ein so durchaus strenger und rein wissenschaftlich strebender
Charakter, daß diese Seite, sein höchst energisches und
vielseitiges und fast absolut wissenschaftliches Streben, alle anderen
Menschenseiten in den Hintergrund drängt. Er ist ungefähr
das, was ich als Student, ehe ich die Liebe und die warmen
Gemütsseiten der Menschennatur kennen und über alles
schätzen lernte, stets zu werden bestrebt war, ein starker,
selbständiger Mann, der mit eiserner Konsequenz sich einzig und
allein seiner Wissenschaft hingibt und dieser ganz und im edelsten
Streben lebt. Dafür fehlen ihm aber freilich auch alle die reizenden
Lebensgenüsse, alle die ausgebildeten Seiten des warmen
Menschengemütslebens, welche ich erst im Liebesleben mit Dir,
liebster Schatz, kennengelernt habe und welche jetzt meine
wissenschaftlichen Bestrebungen gänzlich überwogen und
entschieden in den Hintergrund gedrängt haben. So wenig ich
wieder der alte Ernst zu werden vermag, so wenig ich die Liebe und all
ihr Reizendes und Herrliches abzustreifen vermag, selbst wenn ich es
wollte, so wenig vermag Gegenbaur diese Seite meiner Natur zu
begreifen; es sind das eben zwei Standpunkte, auf denen wir diametral
gegenüber stehen. Ich vermag auf keine Weise mich zu jenem
idealwissenschaftlichen Streben wieder emporzu schwingen, von dem
ich früher allein und ausschließlich beseelt war.
Du, süßes Herz, bist jetzt und überall mein Ersatz und
mein Bestes, und erst nach Dir kommt alles andere an die Reihe. Wie
jedes Ding im Menschenleben, so hat auch das Liebesleben seine Licht-
und Schattenseiten. Und wenn ich einerseits Gegenbaur gegenüber
das hohe Glück, das mir durch Deinen Besitz wird, liebstes Herz,
aufs lebhafteste empfinde und um keinen Preis mit Gegenbaur tauschen
möchte, so fühle ich doch auch andererseits gerade
Gegenbaur gegenüber, wie sehr mein wissenschaftliches Leben
und Streben unter der Liebe gelitten hat. In dieser Beziehung werden
mir erst jetzt die ganz gewaltigen Lücken klar, welche ich in den
letzten Jahren, wo ich nur Dir lebte, in meinen wissenschaftlichen
Kenntnissen habe einreißen lassen. Sie sind in der Tat höchst
bedenklich, und wäre ich noch der alte übergewissenhafte
Ernst, so könnte ich darüber verzweifeln. So indessen, wie
ich jetzt bin, setze ich mich darüber hinweg, und suche die
entstandene Bresche auszubessern, so gut ich es mit meinen besten
Kräften vermag. Gegenbaur, der offenbar in mir noch den alten
Haeckel, wie er ihn in Würzburg kannte, vermutet hatte, mit
einem wissenschaftlichen Feuereifer ohnegleichen, ist jetzt zuweilen
über die Abnahme desselben unter dem Gewichte der Liebe, und
über die in den letzten Jahren entstandenen Lücken meines
Wissens höchst erstaunt, und doch suche ich ihm diese
wissenschaftlichen Schwächen noch möglichst zu verbergen,
und hoffe nicht, daß er ganz dahinterkommt, ehe es mir gelungen
ist, sie wenigstens einigermaßen wieder auszubessern. Die
schlimmen Befürchtungen, die ich betreffs dieses Punktes in Berlin
schon hegte, sind aber allerdings richtig, und wie ich Dir schon dort
mehrmals sagte, hegte in der Tat Gegenbaur ganz übertriebene
Hoffnungen von meiner wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit.
Hoffentlich kann ich Gegenbaur bei näherem Bekanntwerden
überzeugen, daß ich trotz der sehr mangelhaften Kenntnisse
doch vielleicht nicht ganz unbrauchbar bin, besonders wenn es mir
gelingen sollte, durch allmähliche Ausbildung meines Lehrvortrags
mich als tüchtiger akademischer Lehrer zu erweisen.
Abgesehen von diesem verschiedenen Standpunkte in der Stufenleiter
der wissenschaftlichen Ausbildung, deren Differenz ich übrigens
viel lebhafter, als Gegenbaur fühle, stehe ich mich mit ihm ganz
vortrefflich. Zunächst bin ich hier der einzige, mit dem er
über Dinge unseres Spezialfaches, das ihn doch vor allem
interessiert, überhaupt sprechen kann. Dann ist der Dritte in
unserem Bunde, Bezold, in diesem Semester so sehr durch ein
Übermaß von Vorlesungen in Anspruch genommen, daß
wir ihn, außer beim täglichen Mittagstisch, fast gar nicht
sehen. So sind also Gegenbaur und ich wesentlich auf unseren
gegenseitigen Umgang angewiesen, in dem er mir natürlich viel
mehr geben kann, als ich ihm. In den allgemeinen Lebensanschauungen
und namentlich in allen Prinzipienfragen stimmen wir ganz
überein, so daß in dieser Beziehung keine Differenzen
entstehen werden. Im ganzen ist Gegenbaur aber ein noch viel
schlimmerer Pessimist, als ich selbst. Dieser Pessimismus gibt ihm auch,
verbunden mit der geraden Offenheit, mit der er den Leuten stets die
klare Wahrheit sagt, und einem etwas rauhen und abstoßenden, oft
etwas bäurisch rohen Benehmen, etwas Unliebenswürdiges,
dessenthalben er hier nur wenig Freunde hat und sehr
zurückgezogen lebt. Ich selbst stoße mich an diesen
äußerlichen Ecken gar nicht, da ich auf eine rauhe
Außenseite ja überhaupt nicht das geringste Gewicht lege; ich
halte mich bloß an den inneren edlen Kern, und dieser ist bei
Gegenbaur, ganz im Gegensatz zu seinem Äußeren, so
trefflich, so gediegen, daß ich mir ihn in den meisten Hinsichten
zum Muster nehmen kann. Einen ganz speziellen Berührungspunkt
haben wir außerdem ja noch in unserer italienischen Reise, und
wenn wir auf dieses Gebiet kommen, haben wir in der gegenseitigen
Rückerinnerung eine reiche Quelle schönsten Genusses.
Gewöhnlich gehe ich alle zwei Tage noch nach Schluß des
Kollegs auf die Anatomie und hole Gegenbaur zum Spazierengehen ab.
Da er ein fast eberso großer Naturfreund ist wie ich, und dieser
Genuß hier sein einziges Vergnügen ist, so stimmen unsere
Neigungen auch hierin trefflich überein, und wir erläutern
und erhöhen unseren Genuß durch gegenseitigen Austausch
wesentlich. Durch alles dies hoffe ich Gegenbaur mit der Zeit noch recht
nahezutreten und mich an ihn heranzubilden. Auch das ist ein so
günstiges Verhältnis, wie es sonst selten geboten wird.
Du fragst, liebster Schatz, ob auch mein Pinsel zuweilen tätig
wäre? - Der ruht ganz, und wohl auf lange Zeit. Ich habe jetzt
weder Ruhe noch Muße zum Malen. Die Zeit ist so kostbar, daß
ich selbst die beabsichtigte Pflngstexkursion auf einen, höchstens
zwei Tage beschränken werde, um endlich einmal in den Ferien
den allgemeinen Radiolarienteil fertigzumachen.
18.5.1861
Die Woche vor Pfingsten begann mit einem ausnehmend heißen
und schwülen Sonntag. Ich hatte eigentlich mit meinen Freunden
einen größeren Spaziergang machen und auf den Gentzig, den
höchsten und schönsten Berg der Umgebung, klettern
wollen. Der Nachmittag war aber so heiß und schwül,
daß wir in einem Tannenwalde am Fuße des Gentzig
liegenblieben und nur noch nach Kunitz wanderten. Die grünen
Wiesen des Saaletais mit ihren Weiden, Rüstern und dem
unterbrochenen Buschwerk glichen ganz den Saalauen bei Merseburg
und Halle. In der folgenden Nacht kam ein überaus heftiges
Gewitter und seitdem ist die Temperatur, welche sich drei Tage vorher
immer zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Grad im Schatten
gehalten hatte, wieder auf acht bis neun Grad, gestern und heute sogar
auf sechs Grad gesunken, so daß man in den ungeheizten Stuben,
wie zum Beispiel in meiner, trotz des Pelzes intensiv friert und bei
jedem Atemzuge die Dämpfe des eigenen Atems bewundern kann.
Eine längere Pfingstexkursion habe ich unter diesen
Umständen aufgegeben und werde höchstens an den beiden
Feiertagen einen kleinen Ausflug machen. Es ist mir das um so lieber, als
ich die vierzehn Tage Ferien benutzen will, meine Arbeit möglichst
zu fördern.
In meinem Kolleg habe ich diese Woche die allgemeine Zoologie
(anatomisch - physiologische Übersicht) beendet und fange nun
nach den Ferien mit dem speziell systematischen Teil an. Da ich im
ganzen nur noch fünfundvierzig bis fünfzig Stunden habe,
werde ich die einzelnen Klassen (dreißig) ziemlich kurz fassen. Die
Vorbereitung erfordert doch in der Regel den ganzen Vormittag des
Tages, an dem ich lese, und ich behalte also für die Radiolarien nur
den Samstag und den Sonntag.
In dieser Woche habe ich bereits die ersten Gegenvisiten von den
sechzig empfangen, die ich vorschriftsmäßig besucht hatte. Es
befinden sich darunter eine Menge höchst eigentümlicher
und komischer Originale, wie denn wohl nichts so geeignet ist, die
Eigentümlichkeiten des Menschen so einseitig herauszubilden, als
das stille, abgeschlossene, nur der Wissenschaft gewidmete Leben in
einer kleinen Universitätsstadt. An netten Leuten darunter fehlt
es nicht, und ich könnte, wenn ich Zeit und Lust hätte,
verschiedenen angenehmen Umgang in großer Ausdehnung
kultivieren. Der Ton im allgemeinen ist recht nett, die Leute sind
ungeniert, ohne viel Förmlichkeit, meist recht gemütlich und
im Durchschnitt sowohl in politischer als religiöser Beziehung
äußerst freisinnig. Die Theologen zum Beispiel gelten in dem
pietistischen Preußen mit einer einzigen Ausnahme als arge
Rationalisten und sind daher in der orthodoxen theologischen
Fakultät Preußens sehr schwarz angeschrieben. Von Junkern
und Soldaten hört und sieht man nichts, wie überhaupt alle
aristokratischen Elemente gänzlich fehlen. Das sind auch wieder
Lichtseiten des hiesigen Lebens, die nicht wenig dazu beitragen, den
idyllischen ländlichen Charakter der kleinen Stadt zu heben.
Eine andere Reihe von Bekanntschaften habe ich gemacht, indem ich
dem Professoren-Turnverein beigetreten bin. Außer vielen
Professoren und Dozenten sind auch mehrere Privatleute, Ärzte,
Kaufleute usw. darunter. Ich habe bis jetzt bloß das Verdienst der
größten Länge, weshalb ich an der Spitze der zweiten
Abteilung stehe, und damit zusammenhängend das Verdienst, am
höchsten springen zu können. Meine schwachen
Armmuskeln hoffe ich ordentlich zu stärken, da hierauf das meiste
Gewicht gelegt wird.
Nach Tisch gehe ich jetzt gewöhnlich eine Stunde auf das
"Museum", ein Journalzimmer, in welchem eine Menge
politischer, literarischer und belletristischer Zeitschriften zur Ansicht
liegen. Gewöhnlich lese ich vor allen die treffliche Volkszeitung,
dann die National- und Weserzeitung. Die Weltgeschichte ist heutzutage
interessant genug, um ein gut Stück Zeit auf deren Studium zu
verwenden. Was die Berliner Polizeiskandale hier, und wohl ebenso im
übrigen außerpreußischen Deutschland, für einen
schlechten Eindruck machen, lassen sich die Berliner Herren vielleicht
kaum träumen. Man hört von nichts, als von den
"moralischen Eroberungen" sprechen, mit denen
Preußen die Hegemonie erringen will. Man kann sich wahrhaftig
schämen, ein Preuße zu sein. Was ist bei uns elender und
jammervoller, der König (der vielleicht ein ganz leidlicher
absoluter Monarch, aber nichts weniger als konstitutionell ist), die
Minister, die dito ganz "unverantwortlich" sind, oder die
Zweite Kammer, welche, statt ordentlich das Maul aufzutun und die
Wahrheit zu sagen, um keinen Preis mit dem Ministerium brechen will,
oder endlich das Volk, aus dem doch die Kammer hervorgeht, und das
sich solche Skandale so ruhig gefallen läßt! Es ist wirklich
jammervoll! Der einzige Trost bleibt, daß es im Grunde keinem
Volke schlechter geht, als es selbst verdient. Bestände die
Majorität unseres Volkes aus braven Patrioten und nicht eben teils
aus jammervollen Philistern (vergleiche die Berliner Jeheimräte B.
usw.), teils aus eigennützigem adligem und bürgerlichem
Junkerpack, so wären solche traurigen Zustände
unmöglich. Ich beneide nachgerade alle, die in sächsischen
Herzogtümern oder anderen dergleichen Raubstaaten geboren
sind. So schofel, wie bei uns in Preußen, geht's hier denn doch nicht
zu, und der einzelne wird weniger gedrückt und gemaßregelt.
So zum Beispiel sind die Leute hier in vielen öffentlichen
Einrichtungen entschieden weiter als in Preußen. Zum wenigsten
herrschen hier viele von den Vorurteilen nicht, von denen es bei uns
allenthalben wimmelt. Daß Preußen nachgerade im
übrigen Deutschland auch den Rest der Sympathie verlieren
muß, ist ganz natürlich, zumal es sich jetzt durch
Österreich den Vorsprung einer liberalen Richtung ganz ruhig
nehmen läßt. In allen Ländern Europas geht es
vorwärts, sogar in Österreich, in Rußland geschehen
unerhörte Fortschritte. Nur bei uns steht alles hübsch fein
still, damit ja nicht das Volk zu gebildet und selbst regierungsfähig
werde. Es ist ein Jammer. Man möchte Schleiz- und Greiz- und
Lobensteiner werden!
Jena, 23.5 1861
Heute vormittag beendete ich den Abschnitt über die Lebensweise
der Radiolarien, der mich seit acht Tagen fast ganz ausschließlich
beschäftigte; von ein paar beabsichtigten Seiten hat er sich zu fast
vier Druckbogen ausgedehnt! Dann kam um zwölf Uhr eine neue
große Pfingstfreude, nämlich die längst erwartete Kiste
von Allmers, siebzig Pfund schwer! Das herrliche Weihnachtsgeschenk
ist ein überaus schönes und großes Gipsmodell vom
Vesuv, über drei Fuß im Quadrat, alle Bergströme ganz
genau angegeben, und die Farbe durch die Lava selbst, die Allmers mit
Gummi zu Farbe angerieben hat, wiedergegeben! Alle
Gestaltungseigentümlichkeiten sind ganz genau nachgeformt, so
daß das Kunstwerk, ganz abgesehen von dem außerordentlich
persönlichen Interesse, das es natürlich für uns beide
hat, auch einen sehr bedeutenden künstlerischen und
wissenschaftlichen Wert hat. Was es mir für Freude gemacht,
kannst Du denken, noch mehr aber fast noch der übrige Inhalt der
Kiste, nämlich ein ausgezeichnet schönes photographisches
großes Brustbild des lieben Freundes, welches ich schon lange
sehnlichst zu besitzen gewünscht hatte, ferner eine ebenfalls sehr
gelungene Visitenkarte und ein ganz prächtiger, herzerfreuender
Brief. Den Brief schicke ich Dir nächstens mit, heute nur die
photographische Visitenkarte, die Dir vollkommen naturgetreu die ganze
Gestalt und die von mir so lang geschauten und so innig liebgewonnenen
Gesichtszüge des prächtigen Freundes wiedergibt, die Deine
Neugier schon so lange gereizt haben. Kannst Du auch gleich daraus
sehen, daß Allmers nichts weniger als schön ist, so
errätst Du doch schwerlich, welch zarter und schöner, edler
und guter, freier und hochbegabter Geist in diesen groben, wenig
versprechenden Zügen verborgen ist.
Recht lebhaft hat mir diese große Pfingstfreude das Glück
wieder vor die Seele geführt, das mir der Besitz dieses geliebten
und trefflichsten aller Freunde gewährt. Wie mich das gütige
Schicksal in der liebsten, süßesten, herrlichsten Braut die
Liebe so innig, tief und wahr genießen gelehrt hat, wie sie nur
selten einem recht glücklichen Menschenpaare beschieden ist, so
hat sie mir in diesem edlen Menschen ein Stück wahrhaft idealer
Freundschaft zu frischem, beglückendem Leben verwirklicht. Ein
solches Mädchen und ein solcher Freund, wer sollte sich da nicht
beneidenswert glücklich fühlen? Ich bin es auch in der Tat,
mein liebster, süßester Schatz, und wenn dann und wann
trübe, düstere Wolken über meinen geistigen Himmel
ziehen, wie vorige Woche, so laß Dich das nicht betrüben und
denke, daß die Glückssonne sie bald wieder verscheucht, der
Besitz und das Verstehen der über alles geliebten Natur und ihrer
liebsten, besten Kinder, meiner süßesten Braut und meines
treuen Freundes. Was ich an letzterem, dem rein menschlichen Freunde,
besitze, der meine Individualität fast so wie Du kennt, versteht
und liebt, das wird mir erst jetzt recht klar und erfüllt mich mit
der innigsten Freude, jetzt, wo ich von Tag zu Tag mehr sehe, wie wenig
meine wissenschaftlichen Freunde, wie trefflich und edel sie auch an
sich sind, meine speziellen Freundschaftsbedürfnisse verstehen
und ausfüllen. Du hast in dieser Beziehung mich wieder
vollkommen richtig aufgefaßt, süße Anni. In der Tat
liegt es in meiner ganzen Individualität, daß mir die
Wissenschaft und das Verstandesleben und ihre getreuesten Diener,
meine trefflichen hiesigen Freunde, nicht genügen. Ich kann
einmal meine künstlerischen Schwärmereien und Neigungen
nicht ganz aufgeben, wie sehr ich sie auch zeitweise durch das
Verstandesleben in den Hintergrund drängen mag. Immer wieder
drängt es mich nach einiger Zeit wieder an den Busen der Natur
und an Deinen Busen, liebster Schatz, der Du mein bestes, liebstes
Stückchen Natur bist ...
Pfingstwoche. 19.5. bis 25.5. 1861
Pfingsten! -----is nich!! -----
Als ich am Sonntag früh aufwachte, um die beabsichtigte Tour ins
Schwarzatal und nach Paulinzella zu machen, war der graue Himmel
wieder dicht mit den düsteren Wolken bedeckt, die schon seit acht
Tagen herrschten. Der Gentzig und die anderen hohen Berge um Jena
hatten weißbeschneite Gipfel und die grünen Saatfelder
waren weiß bereift. Das Thermometer zeigte zwei Grad und die
Existenz in der ungeheizten Stube war ziemlich ungemütlich! Das
war der Pfingstsonntag.
Ebenso ging es nun die anderen Feiertage fort, den zweiten, dritten usw.
Abwechselnd Regen, Schnee, Hagel, Graupeln, Sturm und hier und da ein
scheuer Sonnenblick. Dabei immer vier bis sechs Grad mittlere
Temperatur, so daß das Prinzip, nicht mehr zu heizen, sich
bloß mittels äußerster Askese aufrechterhalten
ließ. Ich saß die acht Tage vom sechzehnten (wo ich mein
Kolleg geschlossen hatte) bis zum dreiundzwanzigsten elend frierend an
meinem Schreibtisch fest, angetan mit zwei Hemden, Wolljacke,
Schlafrock und Pelz darüber, an den Füßen zwei Paar
Strümpfe, Filzschuhe, doppelte Winter-Inexpressibles und den
ganzen Kadaver außerdem noch in Plaid und Wolldecke gewickelt.
Trotzdem sank ich ziemlich zu der Stimmung eines Frosches herab, der
aus den sonnigen Gefilden Neapels plötzlich in den Eiskeller eines
neapolitanischen Sorbettiers sich versetzt sieht und vergeblich durch
einige unbeholfene Sprünge seine Muskeln geschmeidig zu
erhalten sucht. Alle Stunden wurden verzweifelte Versuche gemacht,
durch energische Turn- und Freiübungen etwas warm zu werden,
doch mit durchaus negativem Erfolg. Ich habe also acht Tage auf einem
Flecke gesessen und Radiolarienwerk (vier Druckbogen) geschrieben und
gesehen, wie entsetzlich der Mensch eine ganze Woche hindurch frieren
und dennoch neue Gedanken produzieren kann. Von einem Tage zum
anderen dehnt sich die Hoffnung aus: "Morgen wird nun
gewiß schönes Wetter", indes immer vergebens, und
mit jedem Morgen des immer intensiveren Frierens wurde der Vorsatz
fester eingefroren, auf keinen Fall den "Wonnemonat" durch
tüchtiges Einheizen, wie er es verdiente, zu ehren. Heute,
Donnerstag, den 23. Mai, scheint denn endlich die eben erstandene
Sonne sich Bahn zu brechen und einen erfreulichen, freundlichen Tag zu
versprechen.
1.6.1861
DieWoche nach Pfingsten suchte durch ganz herrliches Wetter wieder
gutzumachen, was die ganze abscheuliche Pfingstwoche mit ihrem
Schnee und Hagel, Regen und Sturm verdorben hatte. Am Freitag, den
vierundzwanzigsten, früh schien die Sonne nach langer
Unterbrechung so klar vom heiteren Him mel, daß meine Freunde
sofort beschlossen, die unterlassene Pfingstwanderung in eine der
schönsten näheren Waldpartien anzutreten, nämlich
von hier nach Bürgel, dann durch schönen Buchenwald
über Waldeck und den berühmten Zeitzgrund nach Roda, am
zweiten Tage von da nach der "Fröhlichen
Wiederkunft" und über Kahla durch das Saaletal
zurück. Wir waren unserer vier: Professor Carus aus Leipzig und
Gegenbaur, die tags zuvor aus Leipzig angekommen waren, Bezold und
ich. Die Wanderung bis Bürgel durch das Tal zwischen dem
Fuchsturm (Hausberg) und dem Hohen Gentzig war sehr hübsch.
Dort aber bezog sich der Himmel, während wir
frühstückten, es fing all mählich an zu regnen und das
Wetter schien wieder, da es den ganzen Mittag und Nachmittag
fortregnete, gänzlich umzuschlagen, so daß wir gegen Abend
zwei kleine Einspänner nahmen und etwas enttäuscht nach
Hause fuhren. Diese Partie war also ebenso verunglückt wie die
Pfingstwoche.
Sonnabend, den fünfundzwanzigsten Mai, waren Carus und
Gegenbaur den ganzen Vormittag bei mir auf der Stube und musterten
die aus Italien heimgebrachten Schätze: die Radiolarien in
Kupfertafeln, Zeichnungen nach Präparaten, Aquarelle,
Skizzenbücher, Photographien, Stereoskopien, dann die in
Weingeist und Likör mitgebrachten Seetiere und Präparate,
das italienische Herbarium, die Mineralien, ethnographischen
Siebensachen usw. usw. Gegenbaur, der beim Anblick all der
Herrlichkeiten immer ganz begeistert wird, seine gewöhnliche
Kälte verliert und Italiano schwärmt, war wieder ganz
hingerissen, wogegen Carus, welcher den Winter vor mir in Messina war
und eigentlich so gut wie nichts gemacht hatte, etwas deprimiert wurde.
Er ist ein übrigens sehr netter Mensch, nur ein bißchen
"zu liebenswürdig", welche Liebenswürdigkeit
ihn auch in Messina bewogen hatte, weniger den Bestien, als den
Menschen zu leben; er war jenen Winter hindurch der maitre de plaisir
der ganzen deutschen Kolonie in Messina und hat einen ganz
vortrefflichen Ruf als erstes musikalisches und geselliges Talent
hinterlassen. Freilich scheint dabei aus dem Arbeiten nicht viel
geworden zu sein, aus den Fußreisen übrigens ebensowenig,
da Carus in bezug auf Fußwanderungen ziemlich italienische
Ansichten hat und den gestrigen Spaziergang nach Bürgel schon
für sehr strapaziös hält. Mit seinem Freunde
Gegenbaur zusammen, der ziemlich in allen Stücken sein
schnurgerades Widerspiel ist, gibt es herrliche Szenen!
Sonntag, den 26. Mai, war seit langem der erste dauernd schöne
Tag, mit ganz herrlichem Wetter. Wir benutzten denselben zu einem
weiteren Ausflug, den schönsten, den ich bisher gemacht (die
"große Horizontale" am Himmelfahrtstage vielleicht
ausgenommen). Ich habe dabei eine ganze Menge neuer Reize der Jenaer
Umgebung kennengelernt, vor allem, was mich ganz besonders freute, in
kaum zwei Stunden Entfernung einen ganz prächtigen Hochwald
mit wundervollen alten Buchenstämmen, wie ich ihn so nahe bei
Jena gar nicht vermutet hatte. Er heißt Tautenburger (nicht
Teutoburger) Forst und bedeckt ein hohes, steil abfallendes Plateau auf
dem rechten Saaleufer, Dornburg gegenüber. Mitten im Walde, der
einen Umkreis von ein paar Stunden hat, liegt in einem engen Talkessel
äußerst romantisch das Dorf Tautenburg, überragt von
einem alten hohen Burgturm (wie Saaleck) auf einem nahen Hügel.
Nachdem wir den ganzen Vormittag dort im Walde herumgeschlendert
waren, aßen wir vor dem Wirtshaus auf einem hübschen
freien Platz unter einer alten Linde von sechs Fuß Durchmesser zu
Mittag, Spiegeleier und Butterbrot, dazu Milch und Bier, was in der
herrlichen Umgebung ganz prächtig schmeckte.
Nachmittags wanderten wir durch den Wald nach Dornburg, saßen
lange auf der Terrasse vor dem Schlosse und genossen die von Goethe so
bevorzugte Aussicht. Den Beschluß des schönen Tages machte
ein etwas lukullisches Souper, aus einer großen Schüssel Aal
mit gebratenen Kartoffeln und Bier bestehend, an welchem wir uns
für den fabelhaften Preis von neun Silbergroschen völlig
sattaßen, was bei hungrigen Wandermägen gewiß viel
sagen will. Den Rückweg traten wir erst nach acht Uhr an; es war
ein köstlich kühler und klarer Abend im Saaletal.
Jena, 7.6.1861
Wie freut es mich, mein liebstes, kleines Herz, daß es Dir so gut
geht und Du so frisch und munter die schöne Natur in Heringsdorf
genießest. Ich tue hier desgleichen und suche mir durch die
Aussicht auf die glücklichste Zukunft die sehnsüchtigen
Gedanken zu beschwichtigen, welche die Abwesenheit meiner liebsten,
besten Seele doch immer noch erhellen und die in alle Wonnen des
hiesigen Naturlebens doch immer ein Tröpfchen Wermut
hineinmischen. Hätte ich Dich jetzt hier und wäre damit der
erste und letzte meiner Wünsche erfüllt, ich glaube, ich
wäre vollkommen glücklich. Denn fast alles übrige ist
hier so angelegt, daß ich endlich einmal zufrieden sein könnte
und, wenn Du erst bei mir bist und die wesentlichste Lücke
meiner Existenz ausfüllst, gewiß auch ganz zufrieden sein
werde.
Je länger ich mich hier einlebe, desto mehr gefällt es mir
und desto mehr finde ich das, was ich gehofft hatte, verwirklicht und
zum Teil selbst übertroffen. Was vor allem die herrliche
Gebirgsnatur betrifft, so wird sie mir täglich lieber. Ich
wünschte nur, ich könnte Dich hier haben, wenn am Abend
der Gentzig und die Kunitzburg in tiefem Purpurlicht erglühen
oder wenn morgens die Finken und Drosseln im Prinzessinnengarten
mich wecken und die beiden schönen, jungen, schlanken
Ahornbäume, welche meinem Sommersalon zunächst stehen,
mit ihren grünen Zweigen in das Fenster hineinschlagen und mich
herauslocken. Diese beiden jugendfrischen Stämme und ein dritter,
ebenso hoher und schlanker daneben sind meine ganz besonderen
Freunde, und jeden Morgen nach dem Aufstehen gucke ich eine
Viertelstunde wenigstens in ihr grünes, lieblich von Schlaglichtern
durchglänztes Blätterdach hinein. Der eine Ahorn in der
Mitte, der die beiden anderen Stämme etwas überragt, hat
breite, handförmige, oben frischgrüne, unten seegrüne
weiche Blätter in seiner dichten Krone. Daneben rechts, gegen
diesen Acer pseudoplatanus geneigt, steht der jüngere und
kleinere Ahorn, Acer platanoides, eine andere Art, welche sich durch
feinere, zartere Blätter von dunkelgrüner Farbe und mit
vielen spitzen Zähnchen (und Züngchen?) besetzt und durch
dünneren, schlankeren Stamm mit weniger dichter
Verästung auszeichnet. Dieser neigt sich gegen jenen in reizender
Biegung, als wollte er ihn hebend umfangen ("quasi adaptet se
adamplexum"), und ihre Zweige schlingen sich so innig
allenthalben durcheinander, daß eine Sonderung gar nicht mehr
möglich ist. Allenthalben schauen die zarten, dunkelgrünen
Spitzen der festen Zackenblättchen vom Ahorn platanoides aus
denen vom Ahorn pseudoplatanus hindurch, und ebenso verschlingen
sich die schlanken Zweige des letzteren so in der Krone und rings um
den Stamm des ersteren, daß es aussieht, als hätten beide
Stämme ihr Blätterkleid stellenweise vertauscht und
wären ganz ineinandergewachsen. Nicht minder reizend ist der
dritte Stamm, der auf der linken Seite vom Ahorn pseudoplatanus steht,
eine kräftige Esche (Fraxinus excelsior), deren reiche
Blätterkrone rings ihre schönen, hängenden, langen
Zweige auf den mittleren Ahorn und selbst auf den kleineren rechts
herabfallen läßt und sich ebenfalls mit dem Laub an jenen
anschmiegt. Bei diesem reichverzierten Dichterbaume muß ich
immer an meinen Freund Hermann Allmers denken, und an wen wohl
bei den anderen beiden Stämmen??
Je mehr ich hier bei energischer äußerer Tätigkeit und
physischer wie psychischer lebhafter Bewegung zu innerer Ruhe und
Klarheit gelange, je mehr hier der Friede der Natur in meine Seele
einzieht, desto klarer wird mir das hohe, unschätzbare,
beneidenswerte Glück, das mir in dem vollen Besitz der liebsten,
reinsten Mädchenseele und des edelsten, schönsten
Freundesherzens in den letzten Jahren erblüht ist und das zu
immer reicherer Blüte und beglückender Frucht für
mich heranreift. Liebe und Freundschaft Wie beglücken sie mich
und wie versprechen sie mir alles das zu geben, was die Wissenschaft,
der ich mich früher allein geweiht hatte, doch nicht geben
kann.
15.6.1861
Nun ich hier ordentlich eingelebt und mit allem Neuen vertraut
geworden bin, fließt der Strom des Alltagslebens so ruhig und glatt
dahin, daß selbst ein guter Beobachter schwerlich bemerkenswerte
Phänomene daran wahrnehmen wird. Es ist ja dies auch das Beste,
was ich Euch Lieben melden kann.
Meine Zuhörerzahl ist noch nachträglich um einen
gewachsen, so daß ich deren nun neun habe (dadurch hat sich auch
die Summe des Honorarerwerbs auf die enorme Höhe von
fünfunddreißig Talern erhoben!).
Von diesen kommen sechs sehr regelmäßig und scheinen
meine zoologische Weisheit mit ziemlich gutem Appetit zu verzehren.
Wenigstens schreiben sie meist eifrig nach. Den Abend nach dem Kolleg
(von sechs oder sieben Uhr an) habe ich gewöhnlich keine
besondere Arbeitslust mehr und verwende ihn teils zum Zeitunglesen,
teils zur körperlichen Ausbildung. Fast alle Tage, wenigstens einen
Tag um den anderen, turne ich eine Stunde, zweimal wöchentlich
mit den anderen Turnern des Professoren-Turnvereins (dessen
Vorstand ein sehr tüchtiger Gymnast, der bekannte Linguist
Professor Schleicher ist); die anderen Tage turne ich privatim mit einem
Dr. Wächter, Assistent an der medizinischen Klinik. Wie auch
sonst bisweilen (?), bewege ich mich auch im Turnen in Extremen; in den
eigentlich schweren Reck- und Barren-Übungen, zu denen
bedeutende Armkräfte nötig sind, bin ich einer der
schwächsten, dagegen einer der ersten in allen Übungen der
unteren Extremitäten, Laufen, Springen usw. Über das Pferd
setze ich mit einem Sprunge weg, nur einmal die Hände
aufsetzend. Mit großem Vergnügen treibe ich noch
privatissime die Freiübungen ohne Turngeräte, in denen
Professor Schleicher trefflich unterrichtet.
Eine zweite Wohltat und ein noch größeres Vergnügen
verschaffe ich meinem Kadaver durch die täglichen
Schwimmübungen in der Saale, welche ich am letzten Mai
begonnen und seitdem täglich fortgesetzt habe. Der Badeplatz liegt
ganz reizend am Fuß des Hausberges, der hier wie ein Pik spitz
emporsteigt, und ist rings von dichtem grünen Gebüsch
umgeben, so daß man gar nicht in der Nähe der Stadt zu sein
glaubt.
Nach dem Schwimmen, nach acht oder einhalb neun Uhr, gehe ich
häufig mit einem Privatdozenten der Geschichte und
Altertumskunde, Dr. Erdmannsdörfer, der über ein Jahr in
Rom war und meine italienischen Sympathien teilt, nach einem kaum
zehn Minuten entfernten Dorfe, Wenigenjena, wo wir in dem reizenden
Garten eines hübschen Bauerngutes, mit der schönsten
Aussicht auf den Hausberg, eine treffliche Schüssel saure Milch als
Abendbrot verzehren. Zu einem größeren Spaziergange bin
ich dagegen seit Pfingsten nicht gekommen, da ich Samstag und Sonntag,
wo meine Freunde Ausflüge machten, zu Hause sitze, um endlich
den allgemeinen Radiolarienteil zu vollenden.
Jena, 21.6.1861
Gestern zur gewohnten Stunde erhielt ich Deinen lieben Gruß, mein
bester Schatz! Wie freue ich mich, daß Du so munter und frisch bist
und Deine schöne Heringsdorfer Natur nach Kräften
genießt. Nur wegen Deiner Erkältung muß ich Dir wohl
ein kleines Kapitel lesen, da das unnütze kleine Ding gewiß
mal wieder etwas zu leichtsinnig gewesen ist und sich nicht
gehörig in acht genommen hat. Indes hoffe ich, daß der
Husten bald vorüber sein wird, damit Du auch zu baden anfangen
kannst. Nimm Dich aber künftig besser in acht und sei nicht so
leichtsinnig wie Dein Erni, welcher alle Nächte die sämtlichen
Zimmerfenster seines Palazzos, auch der Schlafstube, offenstehen und
die köstlich balsamische, kühle und frische Luft des
Saaletales hindurchströmen läßt.
Was das Arbeiten betrifft, so bin ich jetzt wohl fleißiger, als ich es
im Sommer noch je gewesen, was mir insofern leid tut, als ich die
schöne Natur nur wenig genießen kann, fast nur durch den
Blick aus meinem Fenster. Zum Spazierengehen bin ich seit Pfingsten
nicht mehr gekommen. Die vier Tage, an denen ich Kolleg lese (Montag
zwei Stunden), brauche ich fast ganz zur Präparation, die drei
anderen Tage wird an den Radiolarien gearbeitet (Mittwoch, Samstag
und Sonntag). Je weiter ich vorwärtskomme, desto weniger werde
ich fertig, da das Buch immer größere Ausdehnung annimmt.
Ich muß dabei viele Fragen allgemeiner Natur erörtern,
welche gerade jetzt zu den brennenden Tagesfragen unserer
Wissenschaft gehören. Ich werde sehr froh sein, wenn ich in den
nächsten zwei bis drei Wochen den allgemeinen Teil los sein
werde, den ich eigentlich schon kühnerweise in Berlin hatte
fertigbringen wollen und sollen!! Aber freilich, Hafenplatz! -
Die Vollendung des Werkes liegt mir übrigens jetzt so sehr am
Herzen, daß ich dadurch fast ganz des Mißvergnügens
überhoben werde, an der schönen Schweizerreise, die
Gegenbaur und Bezold mit mir zusammen hatten machen wollen, nicht
teilnehmen zu können. Freilich hätte ich noch lieber eine
andere Reise gemacht!! Allein, da ich jedenfalls die ganzen Ferien noch
vollauf werde zu tun haben, um den speziellen Teil zu vollenden, so
tröstet mich die Notwendigkeit, das Buch fertigmachen zu
müssen, über das Fehlschlagen meiner Hoffnungen
wenigstens einigermaßen. Ich werde nicht eher wieder frei
aufatmen und zu anderer Arbeit Lust haben, ehe nicht diese erste
große Arbeit endlich vom Stapel gelaufen ist.
Was Deinen schönen Plan betrifft, mein liebster Schatz, die Ferien
bei Dir in Heringsdorf zuzubringen und dort die Arbeit fertigzumachen,
so werde ich ihn jedenfalls nur teilweise erfüllen können.
Die Zeit des vierzehnten Septembers hat für mich allerdings so
unwiderstehliche Reize, daß ich dann jedenfalls die Ost ee
wiedersehen muß. Aber wie lange vorher ich hinkomme und wie
lange ich bleiben kann, wird sich ganz nach dem Verlaufe der Arbeit
richten und nach der Strecke des Arbeitsweges, den ich bis dahin
zurückgelegt habe.
Daß aus ordentlichem Arbeiten dort nichts wird, brauche ich Dir
nicht erst zu sagen. Du kennst mich so gut wie Dich und weißt,
daß, wenn die beiden warmen Herzen erst wieder
aneinanderschlagen, alle anderen Rücksichten schwinden und die
besten und ernstesten Arbeitsvorsätze rein in den Wind
geschlagen werden. Daß ich zum Beispiel mit den Radiolarien
längst fertig wäre, wenn Du vorigen Winter nicht in Berlin
gewesen wärst, ist mir sehr wahrscheinlich. Es soll das kein
Vorwurf für Dich sein, liebste Anni, wohl aber für mich, der
seine Neigungen und Gefühle leider noch weniger als sein kleiner
Herzenschatz bezwingen kann. Ich habe jetzt in der Tat schon oft
bedauert, nicht Gegenbaurs guten Rat befolgt und schon vorigen Winter
hergekommen zu sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre ich
dann jetzt mit den Radiolarien fertig und könnte im
nächsten Herbst mit meinem Frauchen eine Alpenreise machen,
während ich nun die frostige Aussicht habe, auch im
künftigen Winter noch hier mein kaltes Einsiedlerleben fort
zuführen. Ich denke, ich brauche Dir das wohl nicht länger
auseinanderzusetzen, liebster Schatz, und Du wirst selbst die
Notwendigkeit einsehen, daß die Arbeit in erster Linie
fertigzumachen ist und alle anderen Wünsche und Neigungen
danach zu modifizieren sind. Bei weiterem Nachdenken, und wenn Du
Dich erinnerst, wie ich auch beim ersten Aufenthalt in Heringsdorf trotz
aller mitgebrachten guten Vorsätze und Arbeitsmaterialien rein
gar nichts geleistet habe, wirst Du selbst einsehen, daß es viel
besser ist, kürzere Zeit nach Heringsdorf zu kommen, diese dann
aber ganz meiner Änni und der Natur zu widmen, als
längere Zeit dort zu sein und immer von dem bösen
Gewissen gequält zu werden, keinen einzigen der guten
Vorsätze ausgeführt zu haben...
Von der letzten Woche habe ich Dir absolut nichts zu berichten, mein
liebster Schatz, da kein einziges Ereignis den einförmigen Lauf des
alltäglichen Lebens unterbrochen hat, ausgenommen vielleicht,
daß ich einmal beim Turnen tüchtig gefallen bin, aber mit
einem blauen Auge, d. h. eigentlich einer tüchtigen Stirnbeule
über dem Auge, glücklich davongekommen bin (es war
übrigens allein schuld eigenen Ungeschicks); ferner daß ich
meine blonde Mähne, die wieder bis auf die Schultern
herabgewachsen war, durch einen Jenenser Haarkünstler auf ein
Minimum habe reduzieren lassen, und endlich, daß die
übermäßige Hitze ihren deprimierenden Einfluß
auch auf meine Kollegs geltend gemacht hat, indem ein paarmal nur die
Hälfte der Zuhörer erschien.
Sehr betrübt hat mich die Nachricht von dem Tode von Ernst
Braun, dem ältesten Sohn unseres trefflichen alten Freundes,
Professor Alexander Braun. Er war stud. nat. in Göttingen (Du
kennst ihn ja auch). Vater schreibt gar nichts Näheres. Die armen,
armen Eltern! Erst vor ein oder zwei Jahren verloren sie ihren zweiten
Sohn, ebenfalls ganz plötzlich an den Masern (eben 15 Jahre alt).
Nun ist bloß noch der kleine Johannes übrig. Da soll man noch
an eine "allgütige, liebende Vorsehung" glauben oder
das gar als Prüfung ansehen. Solche Anthropomorphismen
scheinen mir ein schlechter Trost.
Jena, 29.6.1861
Der herrliche Vollmond wird Dir in der letzten Woche wohl viel, viel
Grüße von Jena bestellt haben, wie er mir deren aus
Heringsdorf gebracht hat. Die letzten Tage der vorigen Woche waren
ganz herrlich, und ich habe immer bis gegen elf Uhr in dem
Prinzessinnengarten geschwelgt und geschwärmt, ganz solo und
ungestört; denn so reizend der Prinzessinnengarten ist, so wenig
ist er besucht; für die Jenenser ist er entweder zu nah oder zu weit
(eineinhalb Minuten von der Stadt); namentlich abends ist er ganz leer,
und ich habe da schon reizende Stunden solo verträumt, mit wem
wohl in Gedanken zusammen? - Ich denke immer, daß, wenn wir in
der Ziegelei zusammen wohnen bleiben können (wie ich hoffe),
dieser reizende Garten unmittelbar neben dem Hause eine reiche Quelle
des Vergnügens und der Freude werden wird. Für ein junges
Ehepaar sind so reizende feierliche Waldplätzchen dann, wie man
sie sich nur ausmalen kann. Du würdest jauchzen und in die
Hände klatschen, könnte ich sie Dir vor Augen zaubern. Da
ist vor allem mein Lieblingsplatz in einem kleinen, rings vom dichtesten
Grün verborgenen Rondell; prächtige alte Ahorn- und
Eschenstämme wiegen sich über dem stillen, waldeinsamen
Plätzchen, und durch das dichte Geäst der Zweige und die
Lücken der grünen Blätterdecke sieht man in den
lieben blauen Jenenser Himmel hinauf. Ein überaus schöner
Platz, der sich wirklich sehen lassen kann, ist unter einer alten Linde,
die ihr mächtiges Blätterdach weit über die
Bänke ausbreitet. Man sieht einen kleinen steilen Abhang hinunter
in einen kleinen Teich, meine zoologische Pflanzschule, in der es von
Infusorien, Hydren, Rädertierchen usw. wimmelt. Rings stehen
prächtige hohe und dichtbelaubte Bäume; stolze Pappeln und
Ahorn, gemischt mit Trauerweiden, Birken und Ulmen. Das ist ein
überaus reizendes Erdenfleckchen, das mich lebhaft an manche
Punkte in den Villen bei Rom und Neapel erinnert. Wenn dann die
silberne Vollmondscheibe hoch über den Kernbergen aufgestiegen
ist, durch das dichte Geäst und Laubdach mit ihren Strahlen
hindurchglitzert und in dem kleinen Teich sich widerspiegelt, wenn die
Leuchtkäferchen, die den Prinzessinnengarten in Massen
bevölkern, allenthalben zwischen dem Gebüsch
umherfunkeln und fliegend ihre flügellosen Weibchen aufsuchen,
die noch schöner leuchtenden größeren
Leuchtwürmchen, welche im Gras versteckt liegen, wenn der
balsamische Duft der Rosenhecken aus dem Garten ins Dickicht
herüber- dringt - dann, ja dann - was denke ich wohl?
Liebchen, wenn Du das alles erst mitgenießest! "Mond
beglänzte Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält,
wundervolle Märchenwelt steigt dann auf in aller Pracht...'
29.6.1861
Die Woche vor Johannis (16.-22.) war hier in Jena so heiß, daß
ich ganz in den Sommer vor zwei Jahren (in Neapel) versetzt wurde.
Seit länger als vierzehn Tage hatte es keinen Tropfen geregnet und
das Thermometer stieg am längsten Tage (21. Juni,
Sommeranfang), welcher zugleich der heißeste war, bis
dreißig Grad R. im Schatten. Die Hitze war besonders in meiner
Wohnung, die der Morgensonne frei ausgesetzt und unmittelbar unter
dem Dache ist, sehr fühlbar, trotzdem ich nachts alle Fenster
beständig aufließ. Auch in den Nächten kühlte
sich die heiße Luft, welche in dem runden Talkessel mit steilen
Wänden förmlich aufgehäuft wird, kaum ab. Aus den
heißen Spalten des geborstenen Kalkbodens quollen warme
Luftströme hervor, die mich ganz an Ischia erinnerten. Endlich am
22. Juni, als die Tage wieder abzunehmen begannen, bedeckte sich der
ganze Himmel mit schweren grauen Wolken; aber erst am Sonntag, den
23, früh, entlud sich der lang angesammelte Stoff in
mächtigen Güssen mit heftigem Gewitter. Wie ich aus der
Zeitung sehe, hat sich am nämlichen Tage durch fast ganz
Deutschland hin ein mächtiger Regenstrom ergossen.
Der Sonntagnachmittag war überaus schön, wie alle solche
Stunden, die dem ersten heftigen Regen nach langer Dürre folgen;
die Berge prächtig blau, wie ein Aquarell, die Luft herrlich
kühl, frisch, labend. Ebenso erquickend waren dann der
Johannistag (24. Juni) und die beiden folgenden Tage; früh immer
das heftigste Gewitter mit Regen, nachmittags das schönste Wetter,
die klarsten, herrlichsten Abende, Musterwetter, wie es in manchen
Tropengegenden konstant ist. Erst am Donnerstag wurde der Regen
permanent, so daß er seitdem keine Minute aufgehört hat.
Vielmehr fällt fortwährend ein sanfter, aber dichter
Wasserstaub hernieder, welcher die Luft ganz gründlich
abgekühlt hat. Alles prangt im ganzen Tal mit frischestem,
glänzendem Grün und duftet nach Regen.
Ich habe die ersten schönen Tage zu zwei größeren
Spaziergängen benutzt, da ich seit Pfingsten (vor vier Wochen)
eigentlich nicht aus dem engeren Stadtbezirk hinausgekommen bin und
die freien Stunden immer für die Radiolarien benutzt hatte. Die
Anregung zum Spazierenwandern, die die schöne Gegend
hervorlockt, wird immer dadurch gemindert, daß man eben
allenthalben schöne Blicke in die Natur hat, wo man auch geht,
und eine der schönsten Aussichten bleibt immer die aus meinem
Fenster. Wie schön es war, als sich nach der großen Hitze die
ersten Wolken um die Häupter der Berge, insbesondere des hohen
Gentzigs, sammelten, als dann morgens die Nebel in dichten
wechselnden Schichten den Fuß der Berge umlagerten und
allgemach aufwärts stiegen, läßt sich kaum
beschreiben. Man genießt hier eben alle Naturreize des hohen
Gebirges.
Sonntag, den 23. Juni, mittag verlebte ich einige sehr vergnügte
Stunden bei dem Oberbürgermeister von Jena, einem eifrigen
Turngenossen, bei dem ich zu einem sehr gemütlichen
Familiendiner (ohne besondere akademische Appendizes) eingeladen
war. Er hat eine allerliebste Frau, welche ich schon als netten Umgang
für meine kleine Professorin in spe ausgesucht habe. Es wurde
stark politisiert und ich freute mich wieder sehr, die energisch liberalen
Ansichten tüchtig vertreten zu finden, die hier allgemein die
herrschenden sind. Wie wohl tut einem diese frische, kräftige
Freiheitsluft, wenn man eben erst den öden, toten, ledernen und
hölzernen Ideen der Berliner Strohköpfe, die sich
Geheimräte nennen, entronnen ist. Männer wie Virchow sind
in Berlin eine Oase in der Wüste, während man sich hier in
dem grünen Freiheitswalde vergebens nach einer dürren
Stelle um sieht, auf der ein Berliner Kreuzzeitungsritter oder
Spenerscher Geheimratsphilister sein dünkelhaftes Haupt
behaglich niederlegen könnte. Die liebe, frische Natur muß
hier selbst dazu beitragen, daß die gesunden, naturmächtigen
Freiheitsideen in den Menschenköpfen sich allgemein Bahn
brechen, während sie in dem Sande der Mark noch vor ihrer
völligen Geburt an Wassermangel zugrundegehen.
Am Johannistag selbst (Montag, 24. Juni 1861) war ebenso reizendes,
wonniges, zugleich kühles und sonniges Sommerwetter, wie am
vorhergehenden Sonntagnachmittag. Der vierundzwanzigste Juni ist der
Geburtstag unseres erlauchten Landesfürsten, des
Großherzogs von Weimar-Eisenach, welcher denselben in Dornburg
(besucht von der Königin Augusta von Preußen) feierte und
sich dabei das Vergnügen machte, drei Jenenser Professoren zu
Hofräten zu ernennen: den berühmten Kuno Fischer
(Philosophen), den ruhmlosen E. Schmidt (Mineralogen) und - unseren
Freund Gegenbaur!! Der letztere war über diese Ehre, gegen die er
sich seit langem vergebens mit Händen und Füßen
gewehrt hatte, höchst ärgerlich. Mehr Freude und in
weiteren Kreisen (selbst bis zur Insel Usedom!) hätte der
Großherzog jedenfalls gemacht, wenn er statt der drei Hofräte
einen Professor ernannt hätte!! - Indes tritt die kaum bemerkbare
Feier des großherzoglichen Geburtstages (die höchstens durch
einige kunstbegeisterte Zeilen im "Moniteur von Jena", den
"Blättern von der Saale", sich Luft macht) ganz
zurück gegen die Bedeutung, welche der Johannistag hier noch seit
uralten Zeiten als heidnisches Sonnenwendfest genießt und welches
noch heutzutage alljährlich durch schöne Feuer auf allen
Bergspitzen rings in der ganzen Umgebung gefeiert wird. Vergebens
hatten sich die christlichen Professoren vor einigen Jahrzehnten gegen
diesen uralten heidnischen Brauch empört und einen Protest und
eine Petition um Aufhebung desselben an den Großherzog
gerichtet. Der herrliche Goethe, der damals noch Minister war, schlug
ihnen die fromme Bitte in einem hübschen kleinen Denkverse
rundweg ab. Das ist auch eine der vielen schweren Sünden, die
dieser unmoralische, heidnische Goethe auf dem Gewissen hat! Wie auch
sonst vielfach, so macht sich der verderbliche Einfluß dieses
gottlosen Mannes, der durch seine verführerischen Lieder so
manches junge Herz verdorben hat, auch noch in den flackernden
Feuerzeichen geltend, die in der Johannisnacht alljährlich (ebenso
wie in der Nacht des fünfzehnten Oktobers - Schlacht bei Leipzig -)
auf allen Bergspitzen rings um Jena weithin sichtbar sind und lustig
spottend auf die frommen Professoren in dem kleinen
Universitätsdorfe herabschauen, die übrigens seitdem ihren
Pietismus mit einem gründlichen Rationalismus vertauscht
haben.
Wie Ihr denken könnt, machte mir die Feier dieses heidnischen
Naturfestes ganz besondere Freude, und ich versäumte also nicht,
am Montag abend eine hohe Bergspitze zu erklimmen, um von da aus
alle die lustig flackernden Feuer von nah und fern zu
begrüßen. Nachmittags sechs Uhr wanderte ich mit
Gegenbaur und Schultze nach Lichtenhain, dem berühmten.
Bierdorf, in einem reizenden grünen Talwinkel gelegen. Wir
genossen als Abendbrot (wie jetzt alltäglich) eine köstliche
Schüssel bester saurer Milch im grünen Garten und
wanderten dann in der reizenden, mit gemischtem Grün
bestandenen Talrinne aufwärts bis zur Höhe, wo wir uns in
den Jenenser "Forst" hineinschlugen und nach
einstündiger Wanderung auf vielverschlungenen Waldwegen nach
demselben herrlichen Aussichtspunkt gelangten, wo ich abends vorher
ein paar Stunden allein gelegen hatte. Während unserer reizenden
Waldwanderung, die vom Gesange der vielen Waldvögel begleitet
war, war es ganz dunkel geworden, und als wir auf die freie Bergspitze
hervortraten, leuchteten bereits die feurigen Wahrzeichen der
"Sonnenwende" von allen Bergspitzen. Rechts zieht sich das
obere Saaletal nach Kahla hin, im hintersten Grunde von der
Leuchtenburg stolz überragt. Auf der hohen Trießnitz, auf
der Lobeda-Burg, auf den Kembergen, überall flackerten die
lustigen roten Feuer, noch schöner auf all den vorspringenden
Spitzen im unteren Saaletal, nach Dornburg hin, welches sich unter
stumpfem Winkel vom oberen abzweigt. Da glühte und flackerte
es allenthalben, auf dem rechten Saaleufer, auf dem Hausberg, dem
Hohen Gentzig, der Kunitzburg, am linken Ufer auf den hohen
Bergspitzen über Zwätzen, Löbstedt, auf der
Napoleonshöhe und auf dem Tatzend links neben uns. Die Knaben
der verschiedenen Jenenser Schulen, welche sich auf dies Feuerwerk, als
ihr Privileglum, das ganze Jahr hindurch freuen, und Holzscheite usw. zu
Fackeln sammeln, bildeten am Abhange der Berge lange, im Zickzack
gewundene Schlangen, indem sie sich in sehr langgedehnten Reihen, alle
einzeln mit Fackeln bewaffnet, in weiten Abständen
hintereinander herabsteigend, langsam bergab bewegten. Es war ein
reizender Anblick und der Jubel der springenden Knaben, das Johlen der
Bauern und der Gesang der Studenten, die in burschenschaftlichem
Verein auf mehreren Spitzen versammelt waren, belebte die heitere
kühle Sommernacht aufs munterste. Bald wurde nun auch der
mächtige Scheiterhaufen vor dem Forsthäuschen, neben dem
wir standen, angezündet, und der frische lustige Wind trieb mit
der Flamme ein so munteres Spiel, daß bald der ganze Stoß
eine riesige Feuersäule bildete, welche der übermütige
Wind vergeblich sich umzuwerfen bemühte. Höchstens
vermochte er sie nach dem Abhang zu stark herabzudrücken und
ihr ganze Flammenstücke aus ihrem Feuergewande
herauszureißen, welche dann von dem spielenden Windhauch noch
eine ganze Strecke isoliert mit fortgeführt wurden. Immer neue
Tannen und Föhren, Stamm und Nadelgezweige durcheinander,
wurden auf den sehr schnell verzehrten Scheiterhaufen geworfen, und
wir konnten uns an dem reizenden Schauspiel kaum satt sehen, das
insbesondere die nadelbedeckten Zweige gewährten. Kaum ergriff
sie die Flamme, so zuckten und züngelten allenthalben in dem
grünen Nadeldickicht die kleinen weißen Flämmchen,
welche mit ihrem violetten, fast bläulichen Glanze den magischen
Schein des elektrischen Lichtes nachahmten. Erst oben vereinten sich
alle zu der mächtigen gelben und roten Flamme, die wirbelnd gen
Himmel prasselte und mit dem Winde kämpfte.
Die ganze Situation war eigentümlich wild und romantisch und
für heidnische Naturbegeisterung wie geschaffen, so daß wir
das Schauspiel gar nicht satt werden konnten. Erst spät brachen
wir auf, und als ich um elf Uhr abends noch allein in meinem Garten
hinter der Ziegelei saß und den blutroten Vollmond, als Schluß
des Feuerwerks, prächtig über den Kernbergen aufsteigen
sah, zuckten und flimmerten noch die letzten Reste der heiligen
Freiheitsfeuer auf allen Bergspitzen.
Sonntag, 30. 6.1861
Die Professoren der drei thüringisch-sächsischen
Universitäten Jena, Halle, Leipzig haben seit vielen Jahren die
löbliche Gewohnheit, sich einmal im Jahre auf der Rudelsburg und
in Kösen ein Rendezvous zu geben. Diesmal war der
dreißigste Juni dazu bestimmt und schon drei Wochen vorher die
Einladung dazu von dem Leipziger Senat an das Hallesche und das
hiesige Corpus academicum, die Professoren und Dozenten, ergangen. Ich
war nicht mit unter den Unterzeichnern, die ihre Teilnahme zugesagt
hatten, da ich erst sehen wollte, ob mich die Radiolarien fortlassen
würden. Da ich nun aber am letzten Sonntag nach einer
fleißigen Woche just nicht viel Arbeitslust hatte, und da das
Wetter, welches die ganze Woche hindurch regnerisch gewesen war, sich
am Sonntag morgen sehr sonnig und klar anließ, so entschloß
ich mich rasch, an der Partie teilzunehmen und wanderte Sonntag
morgen in zwei Stunden beim schönsten Sonnenschein nach
Apolda hinüber. Dort traf ich auf dem Bahnhof von den Jenensern
nur Professor Kuno Fischer (den berühmten Philosophen, der hier
die meisten Zuhörer hat), welcher sich ebenfalls vorher als
Teilnehmer nicht angemeldet hatte. Er sagte mir, daß die anderen
bereits mit einem großen Omnibus direkt nach Kösen
gefahren seien.
Ich fuhr nun mit ihm zusammen per Eisenbahn nach Kösen, wobei
ich wieder Gelegenheit hatte, meine alte Behauptung bestätigt zu
sehen, daß man in zweiter Klasse viel schlechter fährt und
viel schlechtere und widerwärtigere Gesellschaft antrifft, als in der
dritten Klasse. In dem Kupee nämlich, in das Professor Fischer
und ich in Apolda einstiegen, saß außer einem alten
Schuldirektor aus Posen noch ein ziemlich junger Mann in Zivilkleidern,
welcher aber durch die ganz junkerliche Haltung seines elegant
angezogenen Kadavers, wie durch den aristokratischen Ausdruck seines
blasierten Gesichtes sofort unverkennbar den preußischen
Gardeleutnant verriet. Ohne uns weiter an ihn zu kehren, setzten
Professor Fischer und ich ein vorher begonnenes Gespräch
über das Unwesen der preußischen Junker- und
Militärwirtschaft fort, wobei ich von einem eben gelesenen
trefflichen Schreiben des Baron von Prudelwitz im Kladderadatsch
über die Vorzüge der französischen Militärzucht
(mit Bezugnahme auf die Broschüre des Prinzen F. C. usw.)
erzählte. Wir stimmten vollkommen überein und ich
schimpfte nach Herzenskräften auf unsere preußischen
Junker und Kreuzritter.
Im besten Gespräch wurden wir plötzlich durch den
erwähnten Herrn unterbrochen, welcher sich ver anlaßt
fühlte, seinen beleidigten Gardegefühlen Genugtuung zu
verschaffen und meine Behauptungen in ziemlich gereiztem Ton zu
widerlegen. Das war nun eine herrliche Gelegenheit, meiner seit lange
angesammelten Galle Luft zu machen; ich blieb ihm keine Antwort
schuldig, und der unglückliche Edle hat in den dreiviertel Stunden
zwischen Apolda und Kösen vielleicht mehr Schlechtes über
die preußischen Junker hören müssen, als in seinem
ganzen übrigen Leben zusammengenommen. Der Eifer und die
Hitze des Wortgefechts wurden so lebhaft, daß Professor Fischer
neben mir in die größte Seelenangst geriet und mich immer
am Ellenbogen stieß. Ich meinerseits kochte innerlich und hatte alle
Mühe, die vom Vater ererbte "Berserkerwut" zu
bemeistern und gar zu extreme Äußerungen zu
vermeiden.
Endlich war Station Kösen erreicht. Ich verabschiedete mich von
dem Edlen mit einem sehr bitteren "Leben Sie wohl",
zwischen dem er recht gut "Hol diese Junkers alle der
Henker" heraushören konnte. Professor Fischer atmete auf
und sagte mir, er habe lange nicht solche Angst ausgestanden, da er
jeden Augenblick gedacht habe, ich würde den Ritter mit meinem
Hammerstock aufspießen, oder sonst unschädlich machen.
Dabei konnte er mir aber die Anerkennung nicht versagen, mit seltener
Offenheit dem Edlen die Wahrheit gesagt zu haben. - Was nun die
Kösener Partie betrifft, so wurde sie seltsam verstümpert,
fiel aber vielleicht gerade des halb sehr nett aus. Die Leipziger hatten
nämlich tags zuvor wegen des andauernden schlechten Wetters
nach Kösen abgeschrieben und dies auch nach Halle und Jena
gemeldet, wo es allen Unterzeichnern der Teilnahme gemeldet worden
war (mir und Fischer natürlich nicht). Von Jena war also
außer uns niemand da, von Leipzig überhaupt niemand,
dagegen waren von Halle vier Professoren gekommen: Erdmann, der
bekannte Philosoph, Welker, der Anatom, Herberg, der Historiker, und
Hartmann, der Jurist. Die ganze Gesellschaft bestand also nur aus sechs
Mann. Vielleicht war aber gerade diese geringe Anzahl die Ursache,
daß wir uns trefflich amüsierten und sehr gut unterhielten.
Die beiden geistreichen Philosophen (Fischer und Erdmann) suchten in
edlem Wettstreite an liebenswürdiger Unterhaltung und geselliger
Tugend einander zu überbieten, und das Gespräch blieb den
ganzen Tag über sehr animiert. Mittag dinierten wir zusammen im
Kursaal. Nachmittag führte ich die Herren auf die Rudelsburg und
von da über die Saale und Saaleck nach dem
gegenübergelegenen reizenden Aussichtspunkt
"Himmelreich", wo jetzt eine Restauration gebaut wird. Dann
über die Katze, wo wir jeder einen der berühmten Spritz-
Pfannkuchen genossen, zurück. Den Abend kneipten wir noch bis
neun Uhr zusammen auf dem Bahnhof, wo nach freundlichem Abschied
die Hallenser nach Halle, wir nach Jena zurückfuhren. Diesmal
hatten Fischer und ich im Kupee zweiter Klasse bessere Gesellschaft als
am Morgen, nämlich den berühmten Komponisten und
Klaviervirtuosen Franz Liszt, der jetzt in Weimar wohnt. Er gefiel mir
besser, als ich gedacht, unterhielt uns sehr liebenswürdig und
äußerte sehr vernünftige Ansichten. Nur wenn er auf
Musik zu sprechen kommt, soll er ganz verdreht sein.
- Jena, 12.7.1861
Wie sehr freut es mich, zu hören, daß es Dir so gut geht und
daß Dir Deine liebe Heringsdorfer Natur ebenso viel Freude und
Genuß gewährt, wie mir hier meine Jenenser. Könnten
wir sie nur zuweilen vereinigen, das heißt könnte ich Dich
manchmal her-zaubern oder zu Dir hinüberfliegen. Nun, in zwei
Monaten wird ja unsere Sehnsucht wieder befriedigt wer-den. Ich
werde bis dahin möglichst fleißig sein, um dann am
vierzehnten September mich frei und ungehindert ganz meinem lieben
Schatzchen widmen zu können - falls sie mich wirklich haben
will?? - Von mir kann ich Dir wenig Neues melden. Das Kolleg war in
dieser Woche, wie viele andere, sehr schwach besucht, da der
größte Teil meiner Zuhörer zu dem großen
deutschen Schützen- und Tumfest nach Gotha
hinübergewandert war. Ich habe jetzt die Reihe der Gliedertiere
beendet und fange nun mit den Wirbeltieren an, zu denen ich die vier
bis fünf noch übrigen Wochen des Semesters sehr
nötig brauchen werde.
Zweimal war ich in dieser Woche abends aus, und zwar bei den beiden
Spitzen unserer theologischen Fakultät, wo ich mich jedoch aus
vielen Gründen nicht besonders amüsiert habe. Gestern
abend beim Kirchenhistoriker, Kirchenrat Hase, einem sehr feinen,
vielseitig gebildeten Manne, der in Italien viele Reisen gemacht hat. Er
ist nichts weniger als ein asketischer Geistlicher, und sucht sich
vernünftigerweise das Leben so angenehm als möglich zu
machen. So hat er vielleicht die schönste und elegantest
ausstaffierte Wohnung in Jena, einen wahren Palazzo mit einem
prächtigen Garten daran. Montag abend gab sein Kollege,
Kirchenrat Schwarz (der hiesige Hauptprediger), ein großes
Gartenfest, durch hübsche musikalische Produktionen des hiesigen
Liederkranzes verherrlicht. Die mir fast ganz unbekannte Herren- und
Damengesellschaft war so groß, daß ich mich ziemlich
unbemerkt in den weiten Grenzen des reizenden Gartens verlieren und
ein paar Stunden solo in einer allerliebsten Laube in einer versteckten
Ecke des Gartens schwärmen und die reizende Aussicht an dem
prächtigen Sommerabend nach meiner Weise genießen
konnte. Woran mag ich da wohl gedacht haben??...
In dieser Woche muß ja auch Deiner Mutter Geburtstag sein.
Schreibe mir doch wann, damit ich ihr schreiben kann. Danke ihr auch
für das eingelegte Zettelchen mit der mütterlichen
Ermahnung in betreff der Eisenbahn-Junker-Affäre. Es ist herzlich
wohlgemeint. Nur bin ich leider in allen Punkten entgegengesetzter
Ansicht. Erstens glaube ich gerade da am unverhohlensten die Wahrheit
frei heraussagen zu müssen, wo sie am wenigsten gern
gehört wird, und wo die Masse der entgegenstehenden Vorurteile
und unnatürlichen verdrehten Ansichten am abschreckendsten ist.
Wie soll es besser in der Welt werden, wenn das Gute sich feig und
träg in der Dunkelheit verborgen hält? Es dürfte doch
besser sein, unseren übermütigen und unverträglichen
Junkern beizeiten die Wahrheit zu sagen und jede günstige
Gelegenheit zu ergreifen, ihnen ihren bevorzugten Standpunkt
klarzumachen, als zu warten, bis der allgemeine Unwille des
verhöhnten und in seinen Grundrechten gekränkten Volkes
wieder zu einer Revolution anschwillt, die einige Hundert dieser Edlen
einen Kopf kürzer macht.
Der Hauptgrund von Mutters Empörung über meine
Offenheit scheint aber in der Furcht zu liegen, daß einmal aus
einem solchen hitzigen Wortgefecht ein Duell entstehen könnte.
Als ich an diese Stelle ihres Briefes kam, konnte ich mich eines
herzlichen Lachens nicht mehr enthalten. In betreff dieses Punktes
kannst Du sie vollkommen beruhigen. Es wird mir ebensowenig als
irgendeinem anderen Privatdozenten oder Professor und in specie einem
Naturforscher, der noch seine fünf gesunden Natursinne besitzt,
einfallen, mich dem "Gottesurteil" eines Duells zu
unterwerfen; ich kenne keinen Grund, der mich bewegen könnte,
einen eben so sinnlosen, als rohen Zweikampf mit Waffen einzugehen.
Mutter scheint da zu glauben, daß wir noch in den Vorurteilen des
verflossenen Jahrhunderts befangen sind, die - Gott sei Dank - jetzt nur
noch in den Köpfen von Junkern, Leutnants, Bürokraten und
Korpsstudenten vegetieren. Wenn sie sich überzeugen will, wie die
Majorität unserer wirklich Gebildeten über die Unsitte und
die unsinnige Roheit des DuelIs denkt, so empfehle ich ihr die Leitartikel
der Volks-, National- oder anderer vernünftiger Zeitungen, welche
noch jüngst gelegentlich des Twesten-Manteuffeischen Duells
geschrieben wurden. Das wäre wirklich traurig, wenn wir uns
nicht einmal über diese jämmerlichen Vorurteile der
"ritterlichen" Raufbolde und über ihren falschen
Begriff von "Ehre" hinwegsetzen könnten. Was kann
ein Waffenkampf für oder gegen eine Meinung sagen? Um
Ansichten zu verfechten, sind Worte und Gedanken da, und diese
gebrauche man so scharf und eindringlich, als man überhaupt
kann. Dies zur Verständigung!
Jena, 19.7,1861
Das Angenehme meiner jetzigen Existenz ist, daß ein Tag so
gleichmäßig wie der andere verfließt und man in dem
vollkommensten Stilleben einmal Gelegenheit hat, gründlich bei
sich selbst ein- und auszukehren. Nach dem unruhigen und unsteten
Wanderleben der letzten Jahre behagt mir dieses insularische isolierte
Stilleben sehr; ob das aber sehr lange vorhalten wird, bezweifle ich, und
es scheint mir vielmehr sehr nötig, daß bald dasjenige
Element zu diesem reizenden, isolierten ländlichen Naturleben
hinzukommt, welches einerseits als mein wahres Komplement die
wesentlichen Lücken meiner Existenz ausfüllt und
andererseits durch ihre feine spitze Zunge einen spielenden Kampf, das
heißt einen ebenso anziehenden, als fördernden Wettstreit
zweier trotz aller Gleichheit doch polar entgegengesetzter Organismen
hervorruft.
Wie gerne möchte ich oftmals abends auf ein Stündchen zu
Dir fliegen und Dir so vieles erzählen, was ich dem
häßlichen, kalten Papier gar nicht an vertrauen mag.
Besonders jetzt, wo der nahende Vollmond wieder die herrlichsten
Nächte mit wahrhaft balsamischem Dufte in die frische, liebliche
Gebirgsnatur hineinzaubert, da gewinnen wieder ganz gewisse
eigentümliche Gedanken in meinem Kopfe die Oberhand, welche
der strenge Ernst der Wissenschaft vergeblich ganz daraus zu
verdrängen strebt. So verträumte ich gestern abend beim
reizendsten Mondschein ein paar wonnige Nachtstunden an meinem
Lieblingsplatz im Prinzessinnengarten, der gerade abends so einsam und
menschenleer ist, als wartete er allein auf ein gewisses
glückseliges junges Professorpaar. Es war ein wahrer
Sommernachtstraum und der liebe Mond, der mit strahlenden
Silberschiffchen durch den schwarzblauen Ozean des wolkenlosen
Himmels segelte, wird gewiß an der fernen Ostseeküste die
Grüße und Küsse eines schwärmenden deutschen
Burschen getreulich abgeliefert haben. Mir wenigstens sandte er durch
das dichte Geäst der Nußbäume und die schlanken
Hängezweige der Birken so neckische Streiflichter ins Gesicht,
daß ich sie für Kußhändchen meines allerliebsten,
kleinen Schatzes hielt, und dabei säuselte der laue Abendwind so
lose und leise durch die rauschenden Blätter, daß ich gar viel
da herausgehört habe.
Am Sonntag habe ich seit langer Zeit mal wieder mit meinen Freunden
einen Spaziergang gemacht, und zwar über Ziegenhein auf den
Hausberg, einem reizenden Aussichtspunkt, von dem aus die Lage des
Universitätsdorfes in dem grünen Talkessel ganz besonders
lieblich erscheint. Auch das Dörfchen Ziegenhein, ganz in einer
grünen Schlucht zwischen Nußbäumen, Kastanien und
Ulmen versteckt, erscheint von hier aus allerliebst. Der Abend war
köstlich und ich hätte gar zu gern mein süßes
Mädchen hergezaubert, um mit ihm zu genießen...
21.7. 1861
Meine zoologische Aufgabe in dieser Woche war die Schilderung der
Fischklasse, die ich in sechs Stunden vollendet habe und die mir viel
Vergnügen gemacht hat. Im Turnen mußte ich mich, da ich
beide Hände beim Klettern wund geturnt und an beiden
Handtellern verschiedene Blasen acquiriert hatte, auf das Springen
beschränken, in welchem ich im Weitsprung (neunzehn Fuß,
zugleich zwei Fuß hoch) ebenso wie im Hochsprung (meine eigene
Kopfhöhe) allen anderen Genossen den Rang abgelaufen oder
vielmehr abgesprungen habe Übrigens haben sich auch schon
Arme und Brust, mit denen ich früher rein gar nichts leisten
konnte, sehr entwickelt, so daß ich schon ganz gut klettern
kann.
Sehr ergötzt hat mich in dieser Woche die edle Kreuzzeitung, die
ich jetzt eifrig studiere, um zu sehen, welche Wege man nie betreten soll.
Ein solches Truggewebe von infamster Heuchelei und
allerniederträchtigster Frömmelei hat die giftige
Kreuzspinne doch noch nie zusammengebracht.
Jena, 24.7.1861
Diesmal habe ich Deinen Brief mit besonderer Sehnsucht erwartet, mein
liebster, bester Herzensschatz, da ich in den letzten Tagen, trotz vieler
Arbeit, besonders viel an Dich denken mußte, ja eigentlich mehr,
als einem fleißigen Privatdozenten erlaubt ist. Ich schiebe die
Schuld auf den lieben, herrlichen Vollmond, der in den letzten Tagen gar
zu prächtig über die Berge her in mein einsames
Zimmerchen schien und mir so viel Grüße und Küsse
von meinem süßen Liebchen brachte, daß alle kalte
Vernunft nicht ausreichte, das brennende Feuer heißester
Sehnsucht zu löschen. Was hätte ich darum gegeben,
hätte ich abends ein Stündchen bei Dir sein
dürfen!...
Besonders reizend war der Sonntag (21.) abend, wo ich die schöne
stolze Napoleonshöhe erkletterte, auf der Napoleon seine
Schlachtpläne entwarf; eine sehr ansehnliche Erhebung,
unmittelbar hinter der Ziegelei steil emporsteigend, von der man das
ganze Tal nach Nord und Süd weithin überschaut. Ich
entwarf andere Pläne und habe sie dem lieben Mond anvertraut,
dem ich auch viele, viele Grüße nach Heringsdorf mit-
schickte. Hätte ich sie nicht bestellt, so würden's gewiß
die eilenden Wolken getan haben, welche in den phantastischsten
Formen von Segelschiffchen über den Kernbergen aufstiegen und
nach Heringsdorf flogen.
Die Beleuchtung der schroffen, schön geformten Gipfel der
gewaltigen Berge, an deren Fuße dichte Nebelschleier Strom und
Auen überdeckten, war entzückend schön, und dazu
arrangierten die munteren, kleinen Federwolken so reizende Spiele am
dunkeln Himmel, daß ich Allmers lebhaft um seinen Mond schein -
Landschafts - Pinsel beneidete. Liebchen, wie göttlich wird es sein,
wenn wir dies alles erst zusammen genießen!
Je länger ich mich hier einlebe, je mehr ich alles kennenlerne,
desto mehr drängt sich mir die Überzeugung auf, daß
wir hier ganz, ganz glücklich werden müssen, seliger, als
wir's uns je haben träumen lassen! Ja, lieber Schatz, ich wollte nur,
ich könnte Dir die Wonne, die stille Seligkeit ins Herz gießen,
die mich immer bei diesem Gedanken an unsere vereinte Zukunft hier
ergreift. Wird je in meinem Leben ein Ideal verwirklicht, so wird es dies
schönste sein.
Besonders lebhaft mußte ich wieder heute daran denken, als ich
aus Deinem lieben, lieben Brief ersah, wie die liebe Verwandtschaft nach
Kräften bemüht ist, Dir vor mir bange zu machen und Dir
Schreckgespenster von der unglücklichen Zukunft mit mir
vorzumalen! Du armes, armes Kind! Wie dauerst Du mich, so einen Erni
zu bekommen!!! Ich weiß zwar, liebster Schatz, daß Du auf
diese tugendsamen Ermahnungen ziemlich soviel gibst wie ich selbst,
das heißt - jar nischt!!! - In einem indes scheint Dich dies vereinte
Anstürmen der philiströsen Geister doch etwas erschreckt zu
haben. Ich kann Dich aber mit gutem Ge wissen beruhigen, liebste
Änni, so schlimm ist der wilde Erni wirklich noch nicht. Wild,
gottlos, rücksichtslos, einseitig mag er sein, aber trotz alledem
wird Dir's schon ein bißchen bei ihm behagen!
Du klagst mir, wie unangenehm Dich die Angst berührt, die man
Dir vor dem Zusammenleben mit mir machen will! Das begreife ich von
meiner Änni nicht recht! Mich berührt sie nur im
höchsten Grade komisch! Denn sie zeigt mir, daß die
betreffenden tugendsamen Leute, wären es auch unsere
nächststehenden Blutsverwandten, uns gar nicht kennen! Daß
sie keine Ahnung von dem haben, was uns zusammengebracht hat und
zusammenhält, von unserem durch und durch natürlichen
und naturstrebenden und naturfreudigen Denken und Sein! Laß Dir
nur dies nicht nehmen, liebster Schatz, und halte stets die eine Wahrheit
fest, daß nur in der Natur Wahrheit und der Grund aller Freude
und alles Friedens ist, und daß sämtliche Menschen summa
summarum zehnmal mehr Dummes und Unwahres sich einbilden und
ausposaunen, als sie je in ihrem Leben Wahres und Natürliches
zusammen gebracht haben. Du steckst jetzt noch zu sehr unter den
antagonistischen Einflüssen unserer
autoritätsgläubigen Verwandtschaft, welche das Beste an Dir
so wenig wie an mir zu schätzen weiß. Habe aber nur Geduld,
liebster Schatz, bis ich Dich aus Deinen Fesseln löse, dann soll das
alles schon ganz anders werden! Bis dahin bewahre Dir die Natur, aber
schweige! Schweigen ist überhaupt eine köstliche Sache,
liebster Schatz! Reden ist Silber, aber Schweigen ist Gold, sagt der alte
Weise. Wenn Dich also die Leute mit guten Ratschlägen
quälen, wie Du Deinen schlimmen Erni - vor dem Du gewaltige
Furcht haben mußt - bessern, behandeln und erziehen sollst, so
nimm sie freundlich an und stecke sie schweigend in die Tasche, mit
dem festen Vorsatz, keinen Gebrauch davon zu machen. Wie Du mit
diesem argen, gottlosen Bösewicht auskommen wirst, wird sich
bald aus der Praxis unseres Zusammenlebens ergeben, vor dem mir gar
nicht so bange ist, wie Dir!
Nichts kann mich mehr ärgern, als die Torheit der Leute, alles
über einen Kamm scheren und alle Menschen nach einer
Schablone beurteilen und modeln zu wollen! "Sehe jeder, wie er's
treibe, sehe jeder, wo er bleibe!" Das ist eine der trefflichsten
Wahrheiten, die unser göttlicher Goethe uns hinterlassen hat. Ich
kann daher beim besten Willen und so schlecht ich mich auch beurteilen
mag, Dich, armer Schatz, nicht, wie die lieben Verwandten, bedauern,
daß Du den schweren opferfreudigen Entschluß gefaßt
hast, Deinen Lebenspfad gemeinsam mit einem Professor der Zoologie in
Jena zu wandeln! Ich bilde mir im Gegenteil schon manchmal ein, das
Jauchzen und Jubeln meiner kleinen lieben Änni zu hören,
wenn sie erst hier ist und nach und nach alle die Reize und
Hochgenüsse kennenlernt, die das Leben eines akademischen
Lehrers mit sich bringt, vor allem die allerfreieste, ungebundenste,
unbeschränkteste Freiheit in jeder Beziehung, ein Gut, welches
höher als alle anderen stebt, und welches kaum in einer anderen
Sphäre so zu finden sein dürfte; dann eine
unerschöpfliche Fülle geistigen Genusses und lebendiger
Anregung von allen Seiten, kurz, wenn mir jemals das Leben
lebenswert erschienen ist, so ist es jetzt, wo ich hoffe, einmal mit einer
Professorin zu leben!
Jena, 25. 7.1861
Lieber Vater!
Du wünschest eine nähere Darstellung der
Eisenbahnaffäre, die ich in Gesellschaft von Professor Kuno Fischer
zwischen Kösen und Apolda mit dem preußischen Junker
(früheren Leutnant) gehabt habe. Ich werde sie Dir ganz genau
mündlich erzählen, da ich mir wegen der lebhaften Erregung
alle einzelnen Momente sehr genau eingeprägt habe .Jetzt will ich
nur noch einige ergänzende Umstände hinzufügen.
Zunächst ist zu bemerken, daß der edle Junker sich erst in
unser Gespräch mischte, nachdem ich mich mit Pro essor Fischer
einige Zeit über die Vorzüge des französischen
Militärs vor unseren zopfigen Bleisoldaten unterhalten und ihm
den Esprit du corps der französischen Armee geschildert hatte, wie
ich ihn in Paris kennengelernt hatte, insbesondere das zwanglose
kordiale Verhältnis zwischen Offizieren und Gemeinen. Als ich dies
besonders gebührend hervorgehoben und den Gegensatz zu
unserem Linienmilitär geschildert hatte, wo der Gemeine
gewöhnt wird, sich als Vieh und den Leutnant als Halbgott zu
fühlen, mischte sich der Herr Junker in das Gespräch, indem
er behauptete, daß dieser persönliche Abstand durchaus
fühlbar sein und der Gemeine sich nur als Maschine fühlen
müsse. Ich entgegnete, daß in Frankreich der Gehorsam der
Gemeinen im Dienst ebenso gut wie bei uns sei, trotzdem die
Kordialität zwischen ihm und seinen Offizieren so weit gehe.
daß sie auf der Straße Arm in Arm gingen und im Café
zusammen spielten, wie ich das selbst vielfach gesehen habe, was ein
preußisches Leutnantsherz allerdings nur mit Entsetzen sehen
könne. Der Junker erwiderte, daß sich diese Zustände
eben gar nicht vergleichen ließen, da das französische
Militär in jeder Beziehung tief unter dem preußischen stehe;
er selbst habe ein paar Jahre in Paris gelebt und die ganz liederlichen
Paraden niemals ohne Entsetzen ansehen können. Ich meinte, der
Wertunterschied beider Heere würde sich erst im Kriege zeigen,
wo wir trotz unserer feinen Gardeleutnants von den
"schlappen" Franzosen zunächst wohl tüchtige
Kloppe kriegen würden. Dort schlügen sich Gemeine und
Offiziere füreinander wie ein Mann, während bei uns der
Gemeine unmöglich seinen Offizier, der sich so
übermütig über ihn erhebt, lieben lernen könne
und im Kriege vielleicht eher als der Feind ihn von hinten
erschießen würde, wenn er so brutal behandelt worden sei,
wie dies vielfach bei uns vorkomme. Bei uns regiere noch allenthalben
der Kastengeist und ganz besonders in der Armee, wo derselbe auf alle
Weise gehegt werde, aber um so unnatürlicher sei, als die
bürgerlichen Gemeinen ihren adligen Offizieren zum Teil vielfach
an Bildung überlegen seien. Erst als ich hierfür verschiedene
Beweise angeführt, wurde der edle Junker, der sich bis dahin noch
ziemlich ruhig verhalten, obwohl mit sehr beredter Zunge und sehr
verranntem Gehirn verteidigt hatte, ziemlich wild und behauptete, er
müsse das alles besser wissen, da er selbst viele Jahre
höherer Gardeoffizier gewesen sei; die Bildung unserer Offiziere
sei besser als die aller anderen und stehe der Bildung keiner anderen
Klasse im Volke nach; der Kastengeist sei vollkommen in der Ordnung,
und der Adel, in specie das Offizierkorps als dessen Kern, müsse
seine Privilegien behalten, damit der Staat nicht untergehe. Nun wurde
ich meinerseits auch etwas warm, wobei ich jedoch durch verschiedene
Rippenstöße und andere Winke des neben mir sitzenden
Professors Fischer, der in Todesangst wegen des möglichen
Ausgangs geriet, von Zeit zu Zeit etwas zur Mäßigung
gemahnt wurde. Zunächst versicherte ich dem entlarvten Herrn
Gardeleutnant vom x. Regiment, daß ich gegen ihn persönlich
nicht das geringste sagen, sondern mich bloß im allgemeinen
über die Art und Weise des preußischen Adels und der
Offiziere in specie aussprechen wollte, wie ich sie vielfach kennengelernt
habe und wie ich sie objektiv betrachte. Daß es darunter einige
treffliche, ja unter dem zahlreichen Gros des Offizierskorps selbst einige
ganz vorzügliche Offiziere gebe, wolle ich gar nicht leugnen. Als
Beispiel führte ich Wilhelm Rüstan an, welcher zwar leider
nicht adlig sei, aber sich doch als Garibaldischer General vor Capua
trefflich bewährt habe. Daß es aber unter der Masse der
preußischen Offiziere einige tüchtige und ehrenwerte Leute
gebe, sei so wenig wunderbar, als daß es auch im Mittelalter unter
den Raubrittern einige ganz vorzügliche gegeben habe, man
könne selbst Götz von Berlichingen dazu rechnen. Dies
könne aber leider nichts an der traurigen Tatsache ändern,
daß sich das preußische Offizierskorps im ganzen durch
Übermut, Herrschsucht, Hoffart usw. vor allen anderen
Staatsbürgern auszeichne, während es doch dem
größeren Teil des bürgerlichen Mittelstandes an
wirklicher Bildung bei weitem nachstehe; die Bildung unseres Adels sei
eine bloß äußerliche und erstrecke sich wesentlich auf
elegante und feine höfische Sitte, welche den faulen Kern nur
übertünchen sollte.
Einen freien Moment, in dem ich Luft zu weiteren Expositionen
schnappte, benutzte nun der ergrimmte Leutnant zu einer Apologie oder
vielmehr Apotheose des preußischen Heeres und seines
"Kernes"!!, des Adels, die gerade nicht geeignet war, eine
Versöhnung zwischen uns herbeizuführen. Er behauptete,
daß die preußische Armee nicht nur der Kern Preußens,
sondern auch der Stamm Deutschlands und die Spitze Europas sei;
während ringsum Revolution einträte, sei Preußen
allein unberührt, und hier allein erhebe der König von Gottes
Gnaden - obgleich leider noch auf kurze Zeit von der Verfassung
eingeengt - unangetastet sein gesalbtes Haupt. Von Preußen allein
als sicherem Mittelpunkt der von Gott eingesetzten Ordnung könne
die Umkehr zum alten guten Recht und zur natürlichen Gliederung
der Stände erfolgen!! Daß ich nun die Antwort in nicht allzu
gemäßigten Sätzen nicht schuldig blieb, kannst Du Dir
denken! Ich hob mit energischem Protest gegen den Absolutismus den
Wert unserer Verfassung als des Reichspalladiums hervor, mittels
dessen man allein hoffen könne, vorwärtszukommen, die
Notwendigkeit, Preußen Deutschland, den Teil dem Ganzen
unterzuordnen, und meine subjektive Hoffnung, daß es auch bei
uns endlich so wie in Italien kommen werde, sobald nur erst der
deutsche Garibaldi oder deutsche Cavour und der deutsche Viktor
Emanuel gefunden seien! Da erscholl glücklicherweise ein lauter
Pfiff, Station Kösen! Professor Fischer vermittelte einen
rührenden Abschied damit, daß er bemerkte, wie gewiß
jeder von uns recht habe; im übrigen sei die Natur um Kösen
im allgemeinen doch recht schön.
Was Du über die persönlichen Folgen bemerkst, die der
etwas leidenschaftliche Auftritt für mich hätte haben
können, nämlich ein etwaiges Duell, so ist diese
Rücksicht, die auch die Heringsdorfer in Angst gesetzt zu haben
scheint, vollkommen grundlos. Ich würde niemals aus irgendeinem
Grund die Aufforderung zu einem Duell erlassen oder annehmen. Das
Duell ist meiner Meinung nach etwas so Sinnloses, so rein Unsinniges,
daß es mir gerade in dieser Beziehung großes
Vergnügen machen würde, einem noch sehr allgemein
verbreiteten und leider auch unter unseren Gebildeten noch sehr
herrschenden Vorurteil einmal kräftig ins Gesicht zu schlagen. Das
Duell ist ein ebenso sinnloses "Gottesurteil" - respektive
Zufallsurteil wie andere derartige Gottesurteile. Ich finde es nicht um ein
Haar unsinniger, wenn zwei Wilde, die sich gezankt haben, wie es z. B.
auf Madagaskar der Fall ist, beide Gift verschlucken und nun aus der
Wirkung dieses Giftes auf ihre Nerven beurteilen wollen, wer von ihnen
recht gehabt hat. Gerade so sinnlos und verrückt ist es, einem
Kampfe mit Waffen die Entscheidung über die Wahrheit oder
Unwahrheit einer aufgestellten Behauptung zu überlassen,
Künftige Jahrhunderte werden sich nicht genug wundern
können, wie noch im neunzehnten Jahrhundert, in dem Jahr
hundert der allgemeinen Aufklärung und Volksbildung, der
Eisenbahnen und Telegraphen, der Naturwissenschaften und der
Freiheitsentwicklung, wie da noch derartige mittelalterliche Roheiten
selbst im Kreise der Gebildeten sich haben erhalten können. Sehr
gefreut hat es mich nur, bei Gelegenheit des Twesten-Manteuffelschen
Duells zu sehen, wie die gesamte liberale Presse ohne Ausnahme das
Duell verdammt und Twesten streng tadelt, daß er nicht den Mut
gehabt hat, das Duell auszuschlagen. Ich sage. "den Mut!",
denn offenbar gehört mehr Mut dazu, zu leben und allgemein
verbreiteten Vorurteilen rücksichtslos entgegenzutreten, als einen
anderen totzuschießen, oder sich totschießen zu lassen! Oder
wird dadurch etwa die sogenannte Ehre gewahrt? Das kommt mir
gerade so sinnreich vor, wie wenn Fritzchen einen Hamsterknochen in
sein Lotterielos wickelt, damit er gewönne, oder wie die
Grundsätze der Homöopathie, welche sagen, daß ein
Mittel um so stärker wirkt, je schwächer es angewandt wird!
d. h. je dunkler das Schwarze ist, desto mehr nähert es sich dem
Weißen! Die geistreichen Menschenl
Jena, Donnerstag, 25.7. 1861
Unser Turnverein, der, wie Ihr wißt, vorzugsweise aus
akademischen Lehrern besteht, feierte am letzten Donnerstag sein
einjähriges Bestehen. Durch eine solenne Kneiperei auf
"Streits Terrasse", einem sehr hübsch am Abhange des
Hausberges frei und hoch gelegenen Biergarten, wo in einer Laube die
sämtlichen Turner sich um sieben Uhr abends versammelten,
begleitet von ihren resp. Turnfrauen, Turnmüttern,
Turnschwestern, Die Turnbräute, auf die besonders gerechnet war,
waren leider gar nicht vertreten; selbst der Dr. Klopfleisch, der einzige
Bräutigam in dem Verein, der seine Braut hier am Ort hat, hatte
sie zu Hause gelassen. Sie mußten also in absentia hochleben, und
nach einem donnernden Vivat mußten ihre resp. Liebsten auf ihr
Wohl ein ganzes Seidel Bayrisch leeren! Ich hoffe, daß es meinem
liebsten Schatz gut bekommen ist. Die Laube war mit einer reizenden
Gruppe schöner Treibhauspflanzen, Palmen usw. geziert, welche
wir unserem aufopfernd tätigen und unermüdlichen
Turnvorstand und Lehrer, dem berühmten Linguisten Professor
August Schleicher, einem großen Blumenfreunde, in dankbarer
Anerkennung darbrach ten. Die Unterhaltung wurde bald sehr lebendig.
Natürlich fehlten nicht verschiedene komische und ernste,
gerührte und ungerührte Tischreden, Evvivas, Toaste usw.
Die materielle Beköstigung war übrigens höchst
einfach, für Jena ganz bezeichnend; sowohl die Turner selbst als
ihre verehrten Damengäste erquickten sich lediglich am Genusse
trockenen Brotes mit Schinken, dazu Bier Quantum satis superque! Auch
für deutsche Kanonenboote wurde gesammelt und dafür
fünf Taler zusammengebracht. Höchst fidel und munter
schwärmten wir bis nach Mitternacht. Es war der köstlichste
Mondschein, und nachdem wir in die Stadt zurückgezogen,
wanderten mehrere Privatdozenten und verliebte Bräutigame,
darunter auch ich, in den Prinzessinnengarten, wo es ganz zauberisch
schön war und wir uns noch mehrere Stunden belustigten und
unterhielten,
Jena, 2.8.1861
Eben besuchte mich Ernst Reimer, welcher von seiner Tour nach
Salzungen zurückgekommen ist und mir nun Näheres
über den höchst traurigen Tod des jungen Bädeckers
erzählte. Du kannst Dir denken, liebste Änni, wie bei solchen
Fällen (ebenso wie bei Lachmanns Tod gerade vor einem Jahr)
immer die entsetzliche Möglichkeit vor die Seele tritt, auch einmal
sein Liebstes, Bestes zu verlieren. Ich wage diesen Gedanken
ebensowenig wie Du oder noch weniger auszudenken, weil ein solcher
Fall mich noch unglücklicher als Dich machen würde. Du
hättest, wenn Du allein bliebst, immer noch den Trost Deines
sicheren Gottvertrauens und Deiner Glaubenshoffnung, die Dir Dein Erni
nie nehmen wird, auch wenn er sie nicht teilt! Ich würde ohne
Dich ganz alleinstehen, und alles, alles auf der Welt würde mich
mit schalem Ekel und Widerwillen erfüllen, weil nur durch die
Beziehung auf Dich, in dem Gedanken an Dich und Deine Teilnahme alles
mir auf dieser Erdenwelt erst lieb, wert und teuer wird.
Jena, 10,8.1861
Lieber Vater!
Gestern, Freitag, habe ich nun mein erstes Kolleg glücklich
geschlossen, mit dessen Gelingen ich sehr zufrieden sein kann. Im
ganzen habe ich etwa siebzig Stunden gelesen, wöchentlich
fünf-, oft auch sechsmal. Ich hatte eigentlich nur vier Stunden
wöchentlich Vorlesung angekündigt, habe aber diese Anzahl
schon ziemlich früh um die Hälfte vermehren müssen,
da das Material, je weiter ich vorrückte, mir desto mehr
über den Kopf wuchs. Ich habe von unten bei den niedersten
Tieren angefangen und bin so stufenweise zu den höheren und
vollkommneren vorgeschritten. Dieser Weg ist nach meiner Meinung der
einzig richtige und befriedigende, und die allmähliche Entwicklung
vom Einfachsten zum Komplizierten, welche man selbst dabei mit
durchmacht, ist im hohen Grade belehrend und anziehend. Ich selbst
habe außerordentlich viel dabei gelernt und kann jetzt erst recht
das Glück würdigen, das mir hier geworden ist, indem ich
sogleich mit einem ordentlichen, vollständigen Kolleg meine
Lehrvorträge beginnen und mich selbst dadurch sogleich zu der
Höhe emporschwingen konnte, von der ich das ganze
zugehörige Gebiet wie aus der Vogelperspektive mit einem Blick
überschaue. Ich habe mir sogleich im ersten Beginn einen
vollständigen Überblick über das ganze Gebiet erobert,
dessen Kultur meine Lebensaufgabe sein und mich wirklich
beglücken wird. Die ganz unschätzbaren Einwirkungen der
akademischen Lehrvorträge auf den Lehrer selbst habe ich mir nie
auch nur annähernd so wichtig und wesentlich vorgestellt, wie ich
sie jetzt schon in diesem Semester an mir selbst empfunden habe. Erst
jetzt kann ich begreifen, warum alle unsere großen Denker und
Forscher fast ohne Ausnahme zugleich Lehrer gewesen sind und warum
sie ihren Lehrerberuf stets mit einer Liebe und Treue pflegten, die mir
früher nicht recht erklärlich war. Ich meinte früher,
die viele Mühe, Arbeit und Zeit, die die Vorträge kosten,
könnten nur den übrigen Arbeiten desselben schaden, oder
sie wenigstens mehr in den Hintergrund drängen. Jetzt habe ich
mich überzeugt, wie sehr gerade diese allgemeinere Arbeit den
übrigen mehr speziellen Produktionen zum Vorteil gereicht. Erst
durch das freie lebendige Wort wird der empfundene Gedanke wahrhaft
bedeutend und wirksam. Viele vorher nicht gekannte, ja ein Teil der
allerbesten Gedanken kommen einem erst im Vortrage selbst oder
kommen einem wenigstens erst hier zum vollen Bewußtsein. Ich
glaube, daß der Dozent mindestens so viel Vorteil von seinem
Vortrag hat als die Studenten.
Daß es nun gerade die Zoologie war, mit der ich beginne und in die
ich mich so vollständig hineinarbeiten konnte, ist ein anderer
Vorteil, den ich nicht hoch genug schätzen kann. War dieser Teil
meiner naturwissenschaftlichen Bestrebungen schon vorher mein
besonderer Liebling, so ist er es jetzt ganz geworden, und ich
wünsche nichts mehr, als daß ich mein ganzes Leben
hindurch der Zoologie und vergleichenden Anatomie, d. h. der
allgemeinen Zoologie! allein dienstbar und treu bleiben dürfte. Auf
die Behandlung der speziellen menschlichen Anatomie will ich dann
gern verzichten, zumal diese mit ihren umfangreichen Vorträgen
und insbesondere den praktischen Sezierübungen usw., die sehr
viel Zeit kosten, der ersteren doch wohl ein bedeutendes Quantum von
Zeit und Arbeit entziehen würde.
Abgesehen vom Stoff glaube ich aber auch, daß die Form der freien
ganz ungebundenen Lehrvorträge nicht minder vorteilhaft und
anregend auf den Lehrer, als auf den Schüler wirkt. Ich glaube
auch diese Wirkung kräftig in mir zu verspüren;
insbesondere habe ich an männlicher Selbständigkeit und an
selbstbewußter Kraft, die doch früher gar zu wenig
entwickelt waren, wesentlich zugenommen, wozu das tröstende
Bewußtsein nicht wenig beiträgt, daß ich in der Tat
leistungsfähig bin, was ich früher immer bezweifelte. Alles
in allem genommen ist also der Rückblick auf das verflossene
erste Lehrsemester ein sehr befriedigender, und ich hoffe nur, daß
auch der nächste Winter so verläuft.
Jena, 10.8.1861
Diesmal kommt der Brief einen Tag später, liebster Schatz, da ich
die letzten Tage mit Schluß der Vorlesungen alle Hände voll
zu tun hatte, so daß ich an Schreiben nicht denken konnte. Gestern
abend habe ich denn das Kolleg wirklich geschlossen, nachdem ich in der
letzten Woche die ganze Klasse der Säugetiere durchgenommen
habe. Ich hatte zwar die Stunden mehr als verdoppelt und las
täglich von fünf bis halb acht Uhr, doch ging es immerhin
sehr parforce und ich hatte mich sehr zusammenzunehmen, um bis
gestern abend fertig zu werden. In bezug auf die Verteilung des
Materials bin ich allerdings in diesem ersten Semester nicht sehr
gleichmäßig verfahren und die höheren Tiere sind
verhältnismäßig schlecht weggekommen. Indes ist dies
für das erstemal wohl sehr begreiflich, da ich ja noch gar keinen
Überblick über das ganze Gebiet des Vortrags und den
Anspruch der einzelnen Teile besaß, zumal ich selbst nie Zoologie
gehört habe und also mir selbst erst den Plan bilden mußte.
Dabei war ich denn allerdings zu sehr zugunsten meiner Lieblinge, der
niederen Seetiere, verfahren und hatte den Wirbeltieren von Anfang an
zu wenig eingeräumt. Indes soll das nun besser werden und auch
ihre Ansprüche sollen befriedigt werden. Ich werde
überhaupt das nächste Semester das Kolleg mit viel mehr
Sorgfalt im einzelnen und besserer Ausarbeitung des Ganzen behandeln;
diesmal hatte ich vollauf zu tun, um nur des reichen Stoffes Herr zu
werden, den ich nun vollkommen in seinen Grundzügen mir zu
eigen gemacht habe. Ich habe erst jetzt den vollen Überblick
über das ganze reiche Gebiet gewonnen, dessen immer bessere
Erforschung und immer voll ständigere Beherrschung die Aufgabe
und Freude meines Lebens sein soll. Erst jetzt habe ich recht den ganzen
Schatz kennengelernt, der hier noch zu heben ist, und nie war mir meine
herrliche Zoologie so lieb wie jetzt. Wie mich dieses Gefühl
beglückt, in der Wahl meines Berufes zugleich die mir
interessanteste und am meisten zusagende Beschäftigung, meinen
liebsten Zeitvertreib und das eigentliche Steckenpferd gewählt zu
haben, wirst Du begreifen. Es soll aber nun auch immer mehr gepflegt
und angebaut werden, und die längere Zeit des Wintersemesters
und der größere Fleiß der Studenten in demselben gibt
dazu die beste Gelegenheit.
Die Nachmittagsstunde des Semesters von fünf bis sechs Uhr war
eigentlich eine sehr unglückliche Kollegienzeit, und ich habe mich
oft gewundert, daß die Studenten nicht noch mehr
schwänzten und, statt im Hörsaal über Tiere zu
denken, sich die schöne Natur des Jenenser Tales ansahen. Im
ganzen waren sie fleißiger, als ich erwartet hatte, namentlich die
drei Burschenschafter der Germania, die ziemlich regelmäßig
erschienen. Dagegen habe ich zwei Korpsstudenten nur ein paarmal
gesehen.
Jena, 16.8. 1861
Der Brief soll diesmal kurz werden, liebste Änni, denn ich kann Dir
diesmal wirklich nicht viel Löbliches und Gutes von Deinem Erni
erzählen. Statt nun jetzt, wo er Zeit in Hülle und Fülle
hat, mit aller Energie die Radiolarien fertigzumachen, sitzt der verkehrte
Mensch unruhig an seinem Schreibtisch und denkt nach der Ostsee hin,
springt manchmal auf und schaut aus dem Fenster nach dem Gentzig
und der Kunitzburg, die gar zu reizend vor ihm liegen, seufzt und sehnt
sich nach seinem kleinen blonden Strickchen, kurz, er ist gar nicht, wie
er sein sollte, und ich bin wirklich unzufriedener mit ihm als den ganzen
Sommer. Zur Entschuldigung kann ich nur anführen, daß
diese verkehrte Wirtschaft bei dem herrlichen Ferienwetter und der
köstlichen Ferienfreiheit, die alle andere Welt zum Reisen benutzt,
wirklich ziemlich natürlich und erklärlich ist, zumal bei
einem so unruhigen Geist, den die Reiselust in den köstlichen
Herbstferien nicht weniger quält als die Zugvögel, die dann,
von innerer Notwendigkeit getrieben, nach dem Süden ziehen.
Mich treibt's diesmal freilich mehr nach dem Norden! Ich lerne jetzt
gründlich, wie unnatürlich es ist, die Ferien zu Hause bleiben
zu wollen! Eigentlich habe ich ja alles, was ich mir zu meiner Arbeit
wünsche, Zeit, Muße, Ruhe, Einsamkeit in Hülle und
Fülle, und dennoch bin ich dabei nicht so ruhig und
glücklich, wie ich es sein sollte. Überblicke ich, was ich in
dieser Woche, wo ich mir doch ganz selbst überlassen war, an den
Radiolarien gemacht habe, so ist's wirklich blutwenig und ich kann
nichts weniger als zufrieden damit sein, und doch muß das Werk
durchaus fertig werden. Geht es in den nächsten Wochen nicht
besser, so bin ich schon auf den verzweifelten Gedanken gekommen, die
Heringsdorfer Septembertour, auf die ich mich den ganzen Sommer so
innig gefreut habe, ganz aufzugeben und mich dadurch zu bestrafen,
daß ich den ganzen September hier arbeite und nur im Oktober auf
ein paar Wochen nach Berlin komme.
Eine besondere Freude hatte ich gestern, als ich durch ein Klagelied der
Kreuzzeitung den plötzlichen Tod von Stahl erfuhr, diesem
Erzschuft und elendestem, mir vor allem verhaßten Schurken, der
unserem unglücklichen Vaterland in den letzten zehn Jahren mehr
geschadet hat, als sich in den folgenden zehn wieder gutmachen
läßt. Ist doch wieder ein Krebsschaden des Landes
weggeräumt..,
Jena, 18.8.1861
In der Woche vom 11. bis 17. August erfolgte in Jena allgemein der
Schluß der Vorlesungen, den einzigen alten Kirchenrat
Rückert ausgenommen, welcher alle mal, natürlich nur mit
zwei bis drei Zuhörern, bis in den September hinein liest. Alle
übrigen Kollegien schließen sich in der zweiten und dritten
Augustwoche von selbst, d. h. werden von den Studenten geschlossen,
wenn die Professoren selber nicht so schlau waren, dies vorher zu tun,
wie z. B. ich meine Zoologie schon am neunten August beendigte. Ich
hatte dabei das Vergnügen, meine Zuhörer noch
vollzählig um meine Säugetiere versammelt zu sehen,
während bei Bezold und Gebenbaur, die drei Tage später
schlossen, die Zahl sich auf wenige Getreue reduzierte. Das Signal zum
allgemeinen Schluß gab ein hübscher Fackelzug, welcher am
vierten abends dem scheidenden Professor Michelsen (Juristen)
gebracht wurde.
In den folgenden Tagen leerten sich die Wohnungen und Straßen
von Jena; Dozenten und Studenten beeilten sich um die Wette im
Abreisen, und komme ich jetzt in die Stadt, so glaube ich einen von
seinen Einwohnern verlassenen Ort zu betreten, wie etwa die Stadt Ninfa
in Etrurien. Das Gras wächst mächtig in den Straßen
und auf den Plätzen, und als Beweis des völligen
Ferienschlafes des guten kleinen Universitätsdorfes kann die
bekannte Anekdote von dem vereinsamten, in den Ferien
zurückgebliebenen Privatdozenten dienen, der sich zur
abendlichen Stillung seines Hungers etwas Schinken holen wollte, aber
nirgends welchen bekommen konnte, weil die angeschnittenen Schinken
mit Schluß des Semesters aufgebraucht waren und die Fleischer
während der Ferien keinen neuen Schinken anschneiden wollten! -
Wie nun so einer nach dem anderen von meinen Freunden abreiste und
wie die Studenten jubelnd und frohlockend ins Gebirge zogen, da regte
sich auch in dem wilden Zugvogel, der hier Privatdozent der Zoologie ist,
die Sehnsucht ganz unbändig, hinaus ins Freie zu ziehen, und das
Bleiben in der Stube wurde mir doppelt schwer, da das allerherrlichste,
zugleich sonnige und frische Sommerwetter mit unwiderstehlicher
Gewalt in die Natur lockt. Da ich aber nun durch die Vollendung meines
Manuskripts an die Stubenarbeit gefesselt war und diesmal der
Wandersehnsucht nicht nachgeben durfte, so beschloß ich,
wenigstens durch eine gründlich abgelaufene viertägige
Ferienreise mir wieder etwas Sitzfleisch zur Arbeit zu verschaffen. Ich
wollte eine tüchtige Fußwanderung nach meiner alten Manier
ausführen, und dies geschah denn auch am Sonntag, den
achtzehnten August, in höchst befriedigender Weise.
Es war ein überaus herrlicher Tag, wie ich ihn mir nicht besser zu
dieser Tour hätte wünschen können. Tags vorher hatte
ein heftiges Gewitter die in den letzten Tagen sehr heiß gewordene
Luft abgekühlt. Sonntag morgen lagerte infolge der starken
Regengüsse starker Nebel in allen Tälern und Gründen,
es war herrlich kühl und frisch. Um neun Uhr brach aber die
Sonne strahlend durch den sinkenden Nebel, und nun blieb den ganzen
Tag der herrlichste Sonnenschein, die kühlste Luft dabei, von
stetem kühlen Windhauch erfrischt, der reizende Wolkengruppen
über den dunkelblauen Himmel jagte. Das Ziel meiner Wanderung
war das Gebiet des bunten Sandsteins bei Jena: Stadt Roda, Zeitzgrund,
Fröhliche Wiederkunft, Rothenstein.
Die überaus herrliche Gegend, die ich da kennengelernt habe, hat
meine Liebe zu meiner neuen Heimat aufs neue gesteigert und einen
neuen überraschenden Blick in die Fülle von
Naturschönheiten geöffnet, mit denen Mutter Natur dieses
reizende Erdenfleckchen im Nordosten des Thüringer Waldes so
verschwenderisch ausgestattet hat. Die Natur dieses Gebietes ist im
ganzen von der nächsten Umgebung Jenas sehr verschieden. Es
tritt allenthalben der rote Sandstein mit seinen roten Felsmassen zum
Vorschein, in der reichsten üppigen Fruchtbarkeit, mit den
schönsten grünen Waldtälern, wasserreichen
Talgründen und blumenreichen Wiesen, mit denen er sich
auffallend vor dem Muschelkalk in Jenas nächster Nähe
auszeichnet. Hier fehlt der Reichtum des all bedeckenden Grüns
und der reichen Wasserbäche, dafür treten die herrlichen
Bergformen des hellgelben Muschelkalkes prächtig hervor.
Als ich Sonntag früh um sechs Uhr Jena verließ, lagerte so
dichter Nebel über Berg und Tal, daß ich keine zehn Schritt
vor mir etwas erkennen konnte, und so kam's, daß ich mich gleich
im Anfang tüchtig verlief. Ich hatte hinter Wöllnitz auf die
Lobedaburg am rechten Saaleufer steigen wollen, verlor aber im dichten
Nebel gründlich den Weg, so daß ich statt dessen auf das
hohe Plateau hoch über der Lobedaburg gelangte, das mir ganz
unbekannt war und auf dem ich fast eine Stunde in rein östlicher
Richtung fortlief, meist über steinige nackte Heide, zum Teil durch
dichten schönen Wald. Endlich gelangte ich nach langem
Umherirren in eine einsame Schäferhütte, wo mich ein
Hirtenknabe nach dem im Tale gelegenen Drakendorf hinunterwies. Hier
wurde ich durch den Anblick eines reizenden Parkes überrascht,
welcher einer gewissen Frau von Häseler gehört. Über
Feld und Wiese wanderte ich nun in südlicher Richtung nach der
Chaussee hinüber, die von Lobeda nach Roda führt, fast zwei
Stunden entfernt, die ich aber in eineinviertel Stunden in der
nebelkühlen Morgenfrische zurücklegte oder eigentlich
sprang.
Als ich um neun Uhr am Eingang des Zeitzgrundes bei Roda angelangt
war, brach die Sonne durch, schlug die Reste des Nebels völlig
nieder und enthüllte mir die herrlichen Reize der nächsten
Umgebung von Roda und des eben durchwanderten Tales. Scharf und
wild springen die roten Sandsteinbänke aus den
Bergwänden vor, von rieselnden Quellen benetzt und aufs
hernichste mit frischem Grün, Waldreben (Klematis), Epheu,
Brombeeren überwuchert und mit reizenden Gräsern und
Blüten geziert.
Der Zeitzgrund, den ich nun zunächst durchwanderte, bildete den
Glanzpunkt der Exkursion und genießt seinen besonderen Ruf
wegen seiner hohen Schönheit mit Recht. Es ist ein sehr enges,
wildes und einsames Felsental, welches sich in fast östlicher
Richtung von Roda aufwärts zieht, bis zum Waldecker Forst und
bis Schleifreisen hin. Die steilen, hohen Wände sind mit den
schönsten gemischten Waldungen bekleidet, meist Nadelholz,
Tannen, Fichten, Föhren und Lärchen in wechselndem
bunten Gemisch, zuweilen prächtige hohe und alte Stämme.
In dem mit üppigen grünen Wiesen bedeckten Talgrunde
springt ein lustiger wilder Bergbach herab, der eine Menge kleiner
Seitenbächlein aufnimmt, viele kleine Stürze bildet und an
ein paar weiteren Talstellen sich zu ein paar freundlichen, von
Gebüsch bekränzten spiegeiklaren Teichen ausbreitet, die
wie der Bach selbst von Forellen wimmeln. Die reizenden Blumen der
Gebirgsflora schmücken die Steine und Felsblöcke, die im
Bette des Waldbaches ausgestreut sind; zum ersten Male fand ich hier
eines der schönsten Farnkräuter, den Straußenfarn
(Struthiopteris Germanica), mit einer großen Krone von herrlichen
Wedeln oder Fiederblättern, die wie ein Vogelnest oder eine
Federkrone trichterförmig zusammengestellt sind und in deren
Mitte die braunen Fruchtstöcke, die samentragenden Wedel,
hervorsprießen. Zwischen den Steinen wuchs überall eine
Menge anderer Farnkräuter, und blaue Gentianen, rote Geranien
und gelbe Hieracien bildeten schöne Buketts. Ein paar sehr
malerische Partien bieten sich in der Nähe von einigen
Schneidemühlen, die unfern der Teiche in den Talerweiterungen
liegen. Bei jeder neuen Biegung und Wendung des Tales zeigt sich ein
neuer überraschender Blick.
Der herrliche Sonnenschein und die frische köstliche Luft machten
die Wanderung den Zeitzgrund hinauf und herab doppelt reizend, und
ich konnte mich an dem herrlichen Waldtal nicht satt genug sehen. Es
hat im ganzen viel Ähnlichkeit mit den Tälern bei
Ziegenrück, besonders dem Sornitz- und Otter-Grund, und
versetzte mich teils in die Vergangenheit, wo ich die Ziegenrücker
Natur genoß, teils in die Zukunft, wo ich den Zeitzgrund nicht mehr
solo genießen werde. Ich stieg und kletterte soviel in den
Seitenschluchten herum, daß ich erst um zwölf Uhr wieder in
Roda anlangte, wo ich meinen hungrigen Magen durch ein ordentliches
Mittagbrot befriedigte.
Roda selbst liegt reizend in einer engen Schlucht, beiderseits von roten
Sandsteinklippen eingeschlossen, deren hohe Kuppen vom
schönsten Nadelwald bekränzt sind.
Nach einer Stunde Siesta wanderte ich von hier in anderthalb Stunden
durch den Rodagrund längs des Rothenhofbaches nach der
"Fröhlichen Wiederkunft". So heißt ein
Jagdschloß des Herzogs von Altenburg, welches kaum eine Stunde
von Neustadt an der Orla entfernt liegt, in einem ganz reizenden
kesselförmigen Grunde, in dem vier Täler sich kreuzen. Das
kleine nette Jagdschloß selbst mit seinen Türmen und Zinnen
liegt mitten in einem kleinen See, der von den üppigsten Wiesen
umgeben ist. Die Berge rings sind mit den dichtesten dunkeln
Wäldern bedeckt und verschiedene, im Zickzack aufsteigende
Wege führen zu Aussichtspunkten, von denen man hübsche
Blicke in Täler hat. Auch der Weg von Roda nach der
"Fröhlichen Wiederkunft" ist überaus lieblich, im
Grunde eines vielfach gewundenen Wiesentais, dessen steile
Seitenwände ganz mit Tannen und Lärchen bekleidet sind;
hie und da eine Mühle, ein Teich, ein Forsthaus oder ein
Köhlermeiler. An den Bergseiten erfreuen das Auge die
schönsten Thüringer Gebirgsblumen, das blütenreiche
rote Weidenröschen (Epilobium angustifolium), der gelbe
Wachtelweizen (Melampyrum silvaticum), herrlich blaue Gentianen und
weiße Dolden blumen.
Nachdem ich ein paar Stunden in der Umgebung der
"Fröhlichen Wiederkunft" umhergeschlendert, trat ich
um fünf Uhr meinen Rückweg an, der in der ersten
Hälfte fast noch schöner und reizender als der Hinweg war.
Hinter dem Dorfe Trockenborn gelangte ich, immer in
nordöstlicher Richtung fortschreitend, in dichten bemoosten
Hochwald mit den schönsten alten Tannen und Fichten, zwischen
denen ich auf einsamem Fußpfad über eine Stunde
fortwanderte nach den Dörfern Ober- und Unter-Bodnitz. Bei
letzterem sah ich große schöne Steinbrüche in rotem
Sandstein. Von Unter-Bodnitz wanderte ich dann in westlicher Richtung
durch den lieblichen Bodnitzgrund, der mich wieder lebhaft an die
Ziegenrücker Gründe erinnerte, über duftende Wiesen
und zwischen dunklen Nadelwald hin, nach dem Dorfe Pürschitz,
welches bereits am Saaletal liegt, nur eine halbe Stunde von Kahla und
der Leuchtenburg entfernt. Die letztere erschien mir bald in
nächster Nähe, eine wahre Zierde der Gegend.
Das Saaletal selbst, in dem ich nun auf dem rechten Ufer über
Jägersdorf und Ölknitz abwärts wanderte, behält
den bunten Sandstein mit seinem eigentümlichen Charakter noch
bei bis Rothenstein, hinter welchem dann bald der hellgelbe
Muschelkalk beginnt, der die schönen Bergformen bei Jena bildet.
Bei Rothenstein trat ich auf das linke Ufer über, auf dem ich
abends beim herrlichsten Vollmondschein über Maua,
Göschwitz und Winzerla zurückwanderte. Vor Rothenstein
hatte ich noch die schönste Abendbeleuchtung der ganzen Gebirge
das Tal hinauf und hinunter zu genießen. Rothenstein selbst liegt
sehr hübsch an der vorspringenden Ecke einer schroffen
Felskante; die Häuser steigen staffelweise an der Bergkante auf.
Die kleine Kirche präsentiert sich hoch oben über allem sehr
stattlich. Ich stieg noch über eine Stunde in der köstlichen
Abenddämmerung an dem Berg umher.
Der Rückweg im Saaletal war herrlich. Der schönste, klarste
Schein des Vollmondes, dessen silberne Scheibe hoch an dem dunklen
Himmel stand, tauchte das ganze Tal mit seinen Bergen und Felsen,
Wiesen und Wäldern in magisches Licht und spiegelte sich aufs
anmutigste in dem klaren Saalestrom. Längs der Ufer entwickelten
sich bereits Nebelstreifen, die sich zwischen den alten Weiden und Erlen
über dem Wiesengrund ausbreiteten und mich lebhaft an Goethes
"Erlkönig" erinnerten, der an dieser selben
Lokalität entstanden ist. Auch nach der Ostsee lenkte der herrliche
Mondschein meine Gedanken immer und immer wieder.
Jena, 30.8.1861
Gestern, Donnerstag, müssen Dir notwendig die Ohren geklungen
haben, süßes, bestes Herz, so viel war von Dir in meinem
Zimmerchen die Rede und so viel wurde das reizende Porträt
meines herzigen Liebchens bewundert, dem ich allerdings durch einige
erläuternde (natürlich ganz kühle und objektive!!)
Schilderungen, wenigstens etwas von den eigentümlichen Reizen
einzuhauchen suchte, die ich mündlich und gründlich kenne
und die auch die Photographie nicht wiedergeben kann. Dein Lob
tönte aber von schönen Lippen wieder, denke Dir! Und die
Gesellschaft, die auf meinem Zimmerchen Dich bewunderte und mich
beehrte, waren, denke Dir - junge Damen! Erschrick nicht, liebster
Schatz, noch bin ich Dir nicht untreu, wie Du gewiß denkst. Um Dir
gleich jede Furcht zu benehmen, setze ich hinzu, daß es vornehme
junge Damen waren, die mich besuchten und meinen, bisher nur von
Studenten, Privatdozenten, Professoren und Hofräten und anderen
dergleichen Nagetieren besuchten Palast, dem kein weibliches Wesen
von Rechts wegen nahen darf, mit der Erscheinung der Krinoline
beglückten (oder entweihten). Du hättest Dich über
mein Zimmerchen gefreut, denn so hübsch hat es den ganzen
Sommer noch nicht ausgesehen, alles prangte im höchsten
Schmuck - an den Wänden Bilder und Photographien, auf dem
großen Tisch, den eine überaus reizende grüne Decke (-
ein Eichenzweig von Efeu umschlungen! -), eigentlich für die viel
zu schlechte Erde bestimmt, schon seit langer Zeit herrlich
schmückt, auf diesem großen Tisch prangte mein
schönes Vesuvmodell. Auf den anderen Tischen lagerten die
verschiedenen Mappen mit italienischen Reiseschätzen, mit
Photographien, Zeichnungen, Aquarellen, Stereoskopen, kurz der ganze
große Apparatus Italicus, über dessen Reichtum ich gestern
selbst wieder erstaunte und die Jungfrau glücklich pries, die einst
den Besitzer aller dieser Schätze unter das eiserne Joch ihres
unbezwinglichen Willens beugen wird! Dann war die Stube noch mit
anderen Herrlichkeiten geschmückt, mit den riesigen
Stierhörnern von Messina, dem Bambus aus Palermo, auf dem Pult
prangte eine Auswahl der schönen Glastierchen von Messina, und
am Fenster standen zwei Mikroskope, unter denen man die zierlichsten
Radiolarienformen schauen konnte. In den Ecken des Zimmers krochen
die großen Seespinnen und Seesterne von Messina, und der
Sommerpalast (nämlich das kleine traute Zimmerchen nach dem
Prinzessinnengarten, in dem ich jetzt immer meinen reizenden Schatz
auf den Knien, Mokka genieße) war mit den schönsten
Blumen Capris geschmückt. Kurz, ich hatte zum ersten und letzten
Male in diesem Sommer meinem lieblichen Palaste Feierkleider angelegt
und dazu schien die Sonne, die acht Tage verborgen gewesen war, so
prächtig hell und warm vom wolkenlosen Himmel, als wollte sie
ein besonderes Fest mitfeiern. Es sah wirklich alles, die lockende
Aussicht aus den Fenstern nicht ausgenommen, so lachend und festlich
aus, daß mein herziger Schatz über dem Schreibtisch, trotz
seiner photographischen Starrheit, ein süßes, liebes
Lächeln nicht unterdrücken konnte, als ob seinem Empfange
all diese Herrlichkeit gelte, und als sollte die kleine Professorin in Jena
ihren Einzug halten.
Und doch galt das alles in Wahrheit nur anderen Mädchen! Aber
ich muß Deinem gewiß aufs höchste gestiegenen bangen
Herzklopfen nun ein Ende machen, Du armes Mädchen! und Dir
sagen, daß dieses Mädchen, welches ich den ganzen Morgen
sehnlichst erwartete, auch eine Braut war, nämlich niemand
anders, als meine Leidensgefährtin (insofern nämlich auch
sie wohl nächste Ostern in den bitteren Apfel des sorgenvollen
Ehestandes wird beißen müssen!) - Fräulein Seebeck,
welche mit ihren beiden EItern und mit einigen Bremenser Jungfrauen,
die bei ihnen zum Besuch sind, gestern meine niedere (oder vielmehr
hohe) Hütte mit ihrem Besuch beehrten, den sie schon lange
versprochen hatten, und die Herrlichkeiten bewunderten, die Du ja auch
kennst. Über zwei Stunden saßen sie auf meinem Sofa und es
gab ein beständiges "Oh! Nein! Ach! Herrlich! Reizend! Nein,
was sind Sie in Italien fleißig gewesen! Ach, was sind das für
reizende Tierchen und Pflänzchen! Oh, die glückliche Braut,
der dies alles zugehört! (Sie dachten dabei jedenfalls nicht an den
schlimmen Mann, den sie mit in den Kauf nehmen muß!) Ach, was
sind das für herrliche Bilder und welche Masse!" kurz alle
die Ausrufe, die Du auch würdest haben hören lassen. So
sind meine Schätze noch selten bewundert worden! Du kannst
denken, wie mich das freute, und was ich dabei noch für ganz
besondere Gedanken hatte.
Hast Du denn in der letzten Woche eine der Jenenser Personen gesehen,
die jetzt in Heringsdorf Sommerfrische genießen? Herrn Professor
Nipperdey habe ich noch besonders gebeten, "Bezolds Braut"
zu grüßen und ihr zu berichten, daß ihr Liebster, trotz
seines Feriengefängnislebens, sich ganz wohl befinde. Auch
Fräulein Droysen muß jetzt mit ihren Eltern dort sein.
Schwärme diesen Leuten nur nicht zu viel von der herrlichen
Jenenser Natur vor; sie kennen sie nämlich gar nicht. Droysen hat,
so lange er hier war, immer nur über das elende Nest geschimpft,
ohne auch nur ein einziges Mal seine Herrlichkeiten geschaut, ohne ein
einziges Mal einen Berg bestiegen zu haben! Dasselbe gilt übrigens
von den allermeisten anderen Professoren ebenso, welche gar nicht
wissen, in was für herrlicher Natur sie leben, und von den hiesigen
köstlichen Bergen und Wäldern gerade so viel
genießen, als ob sie in Leipzig oder Greifswald säßen.
Was hilft ihnen diese Prachtnatur:
"Die Geisterwelt ist nicht vers ch1ossen!
Dein Sinn ist zu, Dein Herz ist tot!"
Gegenbaur, der in der Tat gerade so viel und ebenso leidenschaftliche
Liebe zur Natur und zu dieser allein besitzt, wie ich, ist nebst mir der
einzige, der die herrlichen Berge und Wälder, Täler und
Quellen so genießt, wie sie es verdienen. Er hat in den sechs Jahren
seines Hierseins alles mit jedem Jahre lieber gewonnen und teilt ganz
meine enthusiastische Naturverehrung, wenn wir zusammen wandern.
Er versichert mir, daß ich, trotzdem wir eigentlich nur Sonntags
(und auch dann nicht immer) einen ordentlichen Spaziergang gemacht
haben, schon viel mehr von der Gegend kenne, als die übrigen
Akademiker zusammengenommen. Auf dem Gentzig zum Beispiel ist
kein einziger gewesen. Seebecks, die nun über zehn Jahre hier
sind, kennen weder den Gentzig noch die Kunitzburg, noch das
Schwarzatal, noch irgendeinen anderen der herrlichen Punkte, an denen
die Gegend so reich ist. Also wundere Dich nicht, wenn die Jenenser,
denen Du begegnest, nichts von Jena wissen wollen, weil sie nichts
davon kennen! So werden wir's nicht machen, gelt, liebster Schatz?!
Jena, 5.9.1861
Ich denke, Montag, den 9. September, abzureisen und drei Tage in Berlin
bei den Alten zu bleiben. Wegen der Radiolarien habe ich noch
verschiedene Laufereien. Jedenfalls werde ich erst Freitag, 13.
September, aus Berlin fahren und abends!!! Ja dann!!!
Berlin, 2.10., abends 6 Uhr
Vergebens, liebster Schatz, daß ich bald dies, bald jenes Buch in die
Hand nehme, um mich zu zerstreuen und den dummen Sinn auf andere
Gedanken zu bringen. Er weilt trotz alledem nur bei Dir, meinem
Liebsten, Besten, dem Einzigen, um dessentwillen ich leben will und
kann. Du glaubst nicht, wie schwer es mir wird, von Dir getrennt zu sein.
Und da uns die grausame Tyrannei das Zusammenleben verbietet, suche
ich mir in dem trockenen Papier und der lahmen Feder einen schwachen
Trost für die Trennungszeit:
"Wo ich Dich nicht hab', ist mir das Grab,
Die ganze Welt ist mir vergällt,
Mein armer Kopf ist wie verrückt,
Mein ganzer Sinn ist mir zerstückt!"
Ich bin wirklich zu gar nichts tauglich, liebste Änni, und auf mich
so böse, daß ich mich gern ganz vergessen und nur in Dich,
liebstes Wesen, vertiefen möchte. Vergeblich habe ich gestern und
heute versucht zu arbeiten. Die Arbeit erscheint mir so schal, so trocken,
die ganze Wissenschaft, die mir früher alles war, so nichtig und
leer, daß ich mich selbst nicht wiedererkenne. Ich erschrecke vor
diesem heruntergekommenen Jünger der Wissenschaft, der ihrer
wirklich nicht mehr wert ist und kann doch bei aller Anstrengung des
Willens seinen Sinn nicht abwenden von dem reizenden Magnet, der ihn
unwiderstehlich fesselt. Wenn ich nicht hoffen dürfte, daß die
heißersehnte Vereinigung und das Zusammenleben mit Dir mir die
alte Tatenlust und Arbeitskraft, die alte Naturliebe und Spannkraft
wiedergeben würden, so wäre es wirklich das beste, diesem
unnützen jämmerlichen Leben ein rasches Ende zu machen.
Warum mußte gerade mir, einem so zum Naturforscher geborenen
Kinde, die Natur eine solche Fülle tiefsten und innigsten
Gefühls mitgeben, daß darunter der Naturforscher zugrunde
geht?
So wie jetzt kann übrigens die Lage nicht bleiben. Der Gedanke, so
nahe bei Dir zu sein, nur so wenig entfernt, daß mittels eines
Sprunges über die Gartenmauer die flüchtigen
Turnerfüße in kaum fünfzehn Minuten mich zu Dir
bringen können, und dann doch nicht zu Dir kommen zu
dürfen, ist mir unerträglich. Entweder Du oder ich
müssen das Feld räumen. Entweder gehst Du nach
Freienwalde oder ich nach Jena. Bin ich so weit von Dir entfernt,
daß ich Dich nicht erreichen kann, so ist's gut. Dann füge ich
mich der harten Notwendigkeit und kann arbeiten. So aber halte ich's
absolut nicht aus.
Heute früh habe ich einen ganzen Haufen alter Bekannter
zusammen getroffen, die ich lange nicht gesehen: Doktor Kunde aus Rom,
Kühne aus Paris, Schenk aus Würzburg, Bezold, Schneider,
Peters usw. Wie schwach ist aber doch alle Intensität der
Freundschaft gegenüber dem verzehrenden Feuer der innigsten
Liebe! Dürft ich nicht hoffen, liebster Schatz, bald mit Dir vereint
zu sein, ganz in Dir aufzugehen und ein glückseliges Leben mit Dir
zusammen führen zu dürfen, ich müßte rein
verzweifeln! Selbst das sonst so liebe Elternhaus kommt mir so fremd
vor, wenn Du nicht da bist, bester Schatz, daß mir oft ganz bange
und beklommen ist.
Jena, 4. 11. 1861
Denke Dir, Gegenbaur und Bezold haben mir gestern
übereinstimmend versichert, daß sie mit Seebeck über
mich gesprochen haben, und daß er versichert habe, er warte nur
das Erscheinen des Buches ab, um mich zum Professor zu machen, er
müsse aber erst dieses Dokument haben, um damit
gegenüber der übrigen neidischen Welt sich und seinen
Schritt zu rechtfertigen und zu motivieren! Was sagst Du dazu, meine
süße kleine Herzensprofessorin? Daß ich jetzt das
äußerste Maximum der Kräfte anspanne, um die
Radiolarien möglichst bald ganz zu vollenden, kannst Du denken,
liebster Schatz, und ich werde alles aufbieten, um bis Weihnachten
völlig mit dem Werk, das heißt mit dem Manuskript, fertig zu
sein.
Um die Freude nicht übermäßig werden zu lassen,
wurde ich auch mit einer Trauerbotschaft empfangen! Der gute Doktor
von Bartels ist in Messina an einem Blutsturz gestorben, ehe er noch
nach Ägypten gehen konnte! Für ihn ist es so jedenfalls das
beste! Bei seinen ultra-idealen Bestrebungen wäre er nie
glücklich geworden, da er sich nie in die Unvollkommenheiten des
Menschenlebens finden konnte! Ich selbst verliere viel an der treuen
Seele, die mich liebte wie wenige und für mich ins Feuer und in
die Hölle gegangen wäre. Wie viel besser würde es in
der Welt aussehen, wenn es nur ein Prozent, ja nur ein Promille solcher
edler, trefflicher, uneigennütziger, egoismusloser Charakter
gäbe! Jetzt hat das arme ungestüme Herz, das so heiß
nach dem Guten und Wahren strebte, und es nie so erlangte, wie es
wollte, Frieden und Ruhe! Sanft ruhe die Asche des edlen, treiflichen
Jünglings!
Nun willst Du wohl was von der Herfahrt hören, liebster Schatz. Es
ist wenig zu berichten: Ich war in Darwin vertieft...
Jena, 8.11.1861
Einen solchen sonnigen, wonnigen Sonntagmorgen hast Du gewiß
noch nie gehabt, mein süßer, bester, einziger Schatz, als der
heutige Dir sein soll, wenn es auch draußen noch so sehr tobt und
stürmt und das wilde Novemberwetter sich abmüht, den
holden Frühlingsmorgen, der uns beide beseligt, zu
bekämpfen. Wie soll ich Dir mein Glück, meine Wonne sagen,
liebster Schatz! Denke Dir, alles, was ich Dir im vorigen Briefe noch halb
mißtrauisch und zweifelnd mitteilte, ist süßeste,
holdeste Gewißheit! Gestern morgen ist Gegenbaur noch einmal bei
Seebeck gewesen und gestern nachmittag hat er mir auf dem
Spaziergange mein ganzes Glück mitgeteilt! Was ich im vorigen
Briefe noch nicht glauben konnte, ist die herrlichste Gewißheit!
Seebeck hat gesagt: "Daß der Vollendung des Buches, das
heißt dem Erscheinen, die Ernennung auf dem Fuße folgen
werde, er bedaure nur, daß das Buch noch nicht erschienen sei; was
mich beträfe, so sei er längst darüber im reinen und
ernenne mich lieber heute als morgen, er bedürfe aber bei seiner
Verantwortlichkeit durchaus das Buch als Handhabe, um seinen Schritt
zu rechtfertigen."
Die Sache ist also jetzt ganz gewiß. Gegenbaur hat auch die
Operationen auseinandergesetzt, die dabei noch ausgeführt
werden müssen; eins ist aber dringend nötig: die
größte Verschwiegenheit, aus Gründen, die ich Dir
schriftlich nicht auseinandersetzen kann. Kommt die ganze Sache vor der
Zeit an den Tag und wird sie allgemein bekannt, so gibt es Personen, in
deren Macht es steht, die ganze Sache zu zerstören. Also nochmals
die dringendste Bitte, das strengste Stillschweigen zu bewahren.
Gegenbaur war schon böse, daß ich Dir überhaupt
davon geschrieben hatte. Es ist nötiger, als Du denken kannst. Vor
allem Sorge also, daß Deine Mutter und die beiden Alten, mit denen
Du schon davon gesprochen haben wirst, nicht plaudern, namentlich
nicht im Kreise der lieben Verwandten. Sollte etwa schon ein Wort
entflohen sein, oder solltest Du gefragt werden, so sprich vom
nächsten Winter, deute lieber dunkel auf eine andere Aussicht hin,
die ich hätte oder was sonst das beste ist, um die berufene
Neugierde auf falsche Fährte zu lenken. Denke, daß ein
unvorsichtiges Wort das ganze Glück, das uns jetzt selig macht,
verderben kann! Im stillen aber rüste und bereite alles zur
Hochzeit! zur Hochzeit!!!
Die schönste Zeit habe ich jetzt zum Arbeiten, da ich mein
Publicum, welches ich heute anfangen wollte, aufgesteckt habe, um
mehr Zeit zu sparen; es tat mir insofern leid, als über zwanzig
Zuhörer erschienen waren. Die Zoologie kostet nur sehr wenig Zeit,
dank der Sorgfalt, mit der ich sie vorigen Sommer durchgenommen
habe. Die Vorbereitung dazu erfordert täglich nur ein bis zwei
Stunden. Das Kolleg lese ich von zwölf bis ein Uhr. Von ein bis drei
Uhr sitzen wir beiTisch zusammen. Von vier bis fünf Uhr turne ich
dreimal wöchentlich! Sonst sitze ich von früh sieben bis
nachts ein Uhr in meinem höchst behaglichen, gemütlichen
und warmen kleinen Arbeitskämmerchen und schreibe
Radiolarien, so lange es der Arm aushalten will. Könnte nur alles
gleich so gedruckt werden!
Eben bringt mir der Bote Deinen Brief, liebstes Herz, den ich den ganzen
Tag sehnlichst und längst erwartet habe. Mir ist, als könnte
ich jetzt gar nicht genug von Dir hören. Leider ersehe ich daraus,
daß Du immer noch nicht ganz munter bist und heraus darfst. Was
macht denn das Ohr? und der Hals? und die sonstigen rappligen Stellen
des kleinen jammerlappigen Kadaverchens? Änni, Änni, das
mußt Du alles fix fortjagen, sonst holt Dich am Ende Dein Doktor gar
nicht zum Frühjahr ab!! Oder er holt sich eine andere, was meinst
Du??
Ach, Liebchen, so lieb, so innig lieb, so über alles lieb, wie ich Dich,
mein Leben, mein Glück, meine Wonne habe, könnte ich
doch nie eine andere haben! Wie lebhaft trat mir dies wieder gestern
vor die Seele, wo wir den armen Professor Ule begraben haben. Dienstag
ist er seinem Leiden (Schwindsucht) erlegen, vierzehn Tage nach seinem
Vorgänger Leubuscher! Die unselige kleine Frau! Denke Dir,
neunzehn Jahre alt, elf Monate verheiratet! Dabei erwartet sie in
wenigen Wochen ihre Niederkunft! Wie wir ihn gestern einsenkten, trat
mir recht lebhaft wieder der Fall von der armen Lachmann vor die
Seele! Liebchen, was würde ich ohne Dich sein?! Ich wage den
Gedanken nicht auszudenken, Dich je zu verlieren! Mit Dir ginge mein
Bestes, mein Alles, mein Leben, mein Glück hin; es bliebe mir
nichts übrig, als Dir sogleich zu folgen! - Du bleibst aber bei mir,
gelt, mein bestes Herz?!
Jena, 14. 11.1861
Wie hat's mich gefreut, aus Deinem Briefe zu sehen, süßes
Herz, daß Du wieder wohler bist und ausgehen darfst. Nun halte
Dich frisch und munter und nimm Dein liebes, süßes
Körperchen recht in acht! Denn zur Hochzeit muß das ganz
frisch und blühend sein, das versteht sich. Ich schaffe mir dann
auch rote Backen an, die jetzt bei dem Nachtarbeiten ziemlich verblichen
sind. Von mir kann ich Dir wenig berichten, liebster Schatz, was
über den Kreis unserer Wonnegedanken hinausginge. Mein
einziges Streben ist, bis Weihnachten mit dem Buche fertig zu werden
und diesem ordne ich alles andere unter! Ich lebe wie ein Einsiedler und
arbeite wie ein Galeerensklave - oder wie ein Tagelöhner, sagen
meine Freunde! - Wenn Du mal um eins oder halb zwei Uhr noch wach
liegen solltest, liebster Schatz, dann denk an Deinen Erni, der sich dann
auch müd und matt ins Nest legt, mit den seligsten Gedanken vom
kommenden Frühling! Ich leiste natürlich alles
mögliche, damit ich Dich Ostern holen kann; sonst müssen
wir noch bis Pfingsten Geduld haben. Das ist aber jedenfalls der
äußerste Termin! Mit wahrhaft fiebernder Unruhe setze ich
mich immer abends an die Arbeit und verwünsche die Feder,
daß sie so langsam hinter den Gedanken herkriecht!
Jena, 20.11. 1861
Mit welcher Hast ich jetzt abends an die Arbeit gehe und schreibe und
schreibe, bis es absolut nicht mehr geht, kannst Du denken,
süßes Herz! An mir soll es gewiß nicht liegen, wenn
nicht zu Ostern Frau Professorin Haeckel-Sethe hier einzieht. Manchen
Abend habe ich jetzt so lange geschrieben, bis mir die Hand ganz lahm
wurde oder bis mir, im eigentlichen Sinn des Wortes, die Gedanken
ausgingen und ich mich zuletzt besinnen mußte, daß jeder
Satz ein Subjekt und ein Prädikat haben will. Solche schwachen
Momente kommen zum Glück selten und gewöhnlich erst
nach Mitternacht. Dann kriecht der Erni ins Nest und verwünscht
den müden Kadaver, der nicht will wie er. Könnte ich Dich
nur manchmal so ein Stündchen hier haben, Du süßes
Herz, da wollte ich mir wohl Kraft und Ausdauer holen, um die ganze
Nacht durchzuarbeiten! Schicke mir doch manchmal um ein Uhr oder
zwei Uhr nachts ein paar muntere liebe Gedanken von Dir herüber.
Du beste Änni, könnte ich Dich doch für mich mit
schlafen lassen, dann sollte zu Weihnachten gewiß alles ganz fertig
sein!
Im übrigen fleckt die Arbeit wirklich so gut, als ich nur
wünschen kann, was ich größtenteils meiner reizenden
Wintereinsamkeit auf meinem stillen Wartturm verdanke. Denn wie auf
einem Wartturm lebe ich wirklich; der Telegraphengucker auf dem
Monte Solare in Capri kann nicht stiller und einsamer leben. Auch
muß mein kleines Lämpchen wie ein Leuchtturm für
das ganze Saaletal dienen. Denn wenn ganz Jena in Finsternis und Schlaf
liegt, leuchtet das kleine Erkerstübchen hoch oben in der
Böhmeschen Ziegelei noch bis ein oder zwei Uhr auf die
Saalewiesen herab und grüßt den Gentzig und die Kunitzburg,
die in ihren weißen Schneemänteln ihm in das eine Fenster
lugen. Da die Jenenser die Entfernung von hier bis zur Stadt im Winter
ganz unerreichbar finden, so verschont mich alles mit seinem Besuche,
und die kleinen Meisen und Finken aus dem Prinzessinnengarten, die
die Brotkrumen von der Fensterbank picken, sind die einzigen
Gäste, die mich tagsüber besuchen. Abends kommen
dafür die Mäuschen aus den Ecken! Für heute genug,
süßes Herz, die Radiolarien rufen wieder!
Jena, 6. 12.1861
Wie ich dieseWoche gearbeitet habe, kannst Du daraus entnehmen,
daß ich noch drei Arbeitsstunden täglich (von ein bis drei
Uhr nachts und von zwei bis drei Uhr nachmittags, wo ich sonst mit
meinen Freunden Kaffee trank) zugesetzt habe. Früh habe ich also
jetzt vier Stunden zum Zeichnen der Tafeln (von denen ich heute die
vorletzte vollendet habe), von acht bis zwölf, von zwölf bis
eins Kolleg. Mit diesem geht's jetzt vortrefflich. Trotzdem ich mich fast
gar nicht, oder höchstens eine Stunde täglich
präpariere, geht's viel besser, als im vorigen Sommer. Auch die
Zuhörer (sieben) sind sehr fleißig, kommen sehr
regelmäßig (fast täglich sechs oder alle sieben) und
haben sich alle ein großes Heft angelegt, in dem sie nachschreiben,
als diktierte ihnen der Heilige Geist! Dies macht mir, wie Du denken
kannst, viel Freude, besonders auch, daß einer das Kolleg noch
einmal hört, der es schon vorigen Sommer sehr fleißig
hörte. Außerdem habe ich fast einen Tag um den anderen ein
paar Hospitanten. Das sind also schon ganz gute Ansätze zu einem
ordentlichen Professor! - Nach Tisch arbeite ich gewöhnlich von
zwei bis vier Uhr, gehe dann eine Stunde turnen, welches mich, glaube
ich, allein noch gesund und frisch erhält, und lese dann von
fünf bis sechs Uhr Zeitungen. Fast immer wird eine volle Stunde
daraus, da ich mit dem leidenschaftlichsten Interesse unsere Wahlen
und den ganzen herrlichen Freiheitsaufschwung unseres Volkes
verfolge, der uns hoffentlich diesmal ein gut Stück weiter bringen
wird. Wenn nur der König nicht so entsetzlich dumm
wäre!
Von sechs bis zwei Uhr ist die eigentliche Arbeitszeit, und da bringe ich
allerdings jetzt täglich mehr fertig als früher in Berlin in
einer Woche. Wäre da nicht immer ein kleiner verderblicher
Magnet am Hafenplatz (in einem kleinen reizenden grünen
Tempel) gar zu wirksam gewesen, so wäre ich wohl längst
fertig! Hätte ich Gegenbaurs Rat befolgt, schon im Winter 60/61
hier zu sein, dann säße vermutlich schon jetzt eine kleine
Professorin hier neben mir!
Hier ist jetzt "grande saison" - fast einen Tag um den
anderen Souper oder Diner oder Ball oder Tee usw. usw. Ich habe fast
siebenmal die Woche das Vergnügen, eine derartige Einladung
abzuschlagen und hoffe, bald gänzlich verschollen zu sein.
Dafür habe ich mir diese Woche zweimal das Vergnügen
eines größeren Spazierganges mit meinen Freunden
gegönnt. Beide Male war das herrlichste Winterwetter - ich sah
aber nur die Landschaft des nächsten Sommers vor mir!!
Jena, 13.12.1861
Das wäre also wieder der letzte schriftliche Gruß, mein
süßer Schatz, den ich Dir in diesem verhängnisvollen
Jahre sende; in acht Tagen bin ich wieder selbst bei Dir, um das liebe
Weihnachtsfest mit Dir zu feiern und das noch viel
verhängnisvollere Jahr 1862 anzutreten. Wie ich mich diesmal auf
Weihnachten freue, brauche ich Dir nicht erst zu sagen; Du brauchst
bloß in Dein eigenes liebes kleines Herz zu sehen, um zu wissen,
wie unbändig sich meines schon wieder freut! Und was wird's da
noch alles zu besprechen und zu beraten geben! Handelt es sich ja doch
darum, daß Du liebes, liebes Herz den größten und
wichtigsten Schritt nun bald tun sollst, der Dir Deine Freiheit raubt und
Dich zur Sklavin eines gar schlimmen Herrn und Gebieters macht! Du
armes Kind!! Ist Dir nicht ganz bange bei dem Gedanken? Schaffe Dir nur
ja die "anstandsmäßige" Ruhe und Würde
an, um mit der erforderlichen Gravität und dem nötigen
Ernst Dich Deinem Ernste, dem Ernst Deines Lebens, in die Arme zu
werfen!
Was mir jetzt immer alles durch den Kopf geht, ist wirklich schlimm und
ich hoffe, daß Du nicht so zerstreut und geistesabwesend bist, wie
Dein unnützer Erni, der deshalb in der letzten Woche viel
Neckereien hat aushalten müssen; ich glaube sogar, daß die
Studenten im Kolleg etwas davon empfunden haben! Im ganzen war die
Existenz der letzten Woche nicht gerade sehr reizend, da die
Anstrengungen der Wochen vorher, die denn doch alles vorher
Geleistete übertrafen, erst jetzt ihre schlimmen Nachwirkungen zu
äußern scheinen. Summa summarum: ich bin in den letzten
Tagen so kaputt gewesen, daß wirklich nichts Gescheites mit mir
anzufangen war, und daß auch die abendliche Arbeit nicht so, wie
sonst, vorwärtsging. Der ganze Kadaver war so herunter, der Kopf
so wüst und schwer, daß ich mich selber tausendmal
verwünschte und was darum gegeben hätte, wenn ich ein
bißchen bei Dir hätte ausruhen und neue Kräfte
sammeln können. Ein paar Abende habe ich vor der Arbeit
gesessen und so gut wie nichts zustande gebracht; seit vorgestern geht's
schon wieder besser und ich hoffe bald wieder ganz in Zug zu
kommen.
Das Schlimmste, was mich am meisten geärgert und
gekränkt hat, ist, daß nun doch, trotz aller möglichen
Anstrengungen, das Buch nicht bis Weihnachten fertig geworden und
daß ich also doch noch einen leidigen Rest in das neue Jahr mit
hinüberschleppe. Insofern kann ich mich allerdings trösten,
als es für den weiteren Druck zunächst gleichgültig ist.
Wann der eigentlich fertig werden soll, wird mir immer
rätselhafter und wenn ich mir die Aussichten für den
Sommer nach der jetzigen Sachlage zurechtlege, wird es mir immer
wahrscheinlicher, daß wir erst im Herbst das Ziel unserer
Wünsche erreichen werden. Werde mir deshalb nicht gram,
liebster Schatz, und werde nicht so unartig und ärgerlich, wie Dein
unnützer Erni, den diese Verzögerung so grämt,
daß er lieber gar nicht die eitle Hoffnungsfreude vor ein paar
Wochen genossen hätte. Indes, was hilft alles Ärgern und
Kränken!? Pazienza, pazienza, molte pazienza! Vielleicht ist es
für uns beide heißblütige Naturen ganz gut, liebstes
Herz, daß wir noch bis zuletzt ein bißchen gequält und
zahm gemacht werden!
Nun also noch einen letzten schriftlichen Gruß im Jahre 1861,
liebstes Herz, von Deinem müden, müden Erni, dem die
Augen zufallen und die Finger, die schon sieben Stunden geschrieben
haben, lahm werden. Drei Uhr ist fast wieder da und ich wünsche
Dir einen so guten Schlaf, als ich hoffentlich heute haben werde.
Jena, 7. 1. 1862
Glück auf! soll das erste Wort sein, mein süßer, lieb er
Schatz, das ich Dir von hier aus im Jahre 1862 zurufe. 1862! In diesem
für uns wichtigsten und bedeutungsvollsten aller unserer
Lebensjahre, welches unsere süßesten Hoffnungen
erfüllen und unsere kühnsten Wünsche verwirklichen
soll! Daß diesmal in der Tat unsere holden Träume nicht
wieder in Schaum zerfließen, sondern zur liebsten Wirklichkeit
werden sollen, ist sicher, und alles, was ich bis jetzt mit Gegenbaur
über die wirkliche Vollendung des Planes gesprochen,
bestätigen nur das, was Du schon weißt, und geben uns also
die vollste beglückendste Sicherheit!
Die Ermattung der letzten Tage, die wirklich so arg war, wie seit langer
Zeit nicht, ist nach einem kräftigen zehnstündigen Schlafe
der früheren Kraft gewichen und besonders, seitdem ich gestern
das Turnen wieder begonnen, fühle ich mich wieder ganz wohl.
Das alte Einsiedlerleben in der lieben kleinen Klause hat wieder
begonnen und die vierzehn Tage Weihnachtsferien kommen mir kaum
wie ein vierzehnstündiger Traum vor! Dafür sollen die sechs
Wochen Osterferien um so besser werden! Gelt, mein Herz!
Jena, 20.1. 1862
Wie reizend es übrigens auch im Winter hier in der
Böhmeschen Ziegelei ist, kannst Du daraus ermessen, daß ich
auch jetzt, wo ich sonst den ganzen Tag friere und mich lebhaft in den
Winter von Messina zurück versetze, noch nicht ein einziges Mal
bereut habe, hier wohnen geblieben zu sein. Die Berge mit dem
Schneemantel sind gar zu prächtig. Besonders imposant ist wieder
der herrliche Gentzig, an dem ich mich nicht genug erfreuen kann. Die
von keiner Menschenseele gestörte Natureinsamkeit ist so reizend,
daß hier auch im Winter der wonnigste Aufenthalt für ein
glückliches, junges Ehepaar sein muß. Allein, daß man
schon von der anderen Menschheit so entfernt ist, ist gar zu wertvoll!
Gern will ich für diesen Preis wochenlang frieren!
Jena, 4.2.1862
Noch sechs Briefe bekommst Du aus Jena, mein liebster, bester Schatz,
und dann hat hoffentlich die Korrespondenz mit Jena für immer,
oder wenigstens für lange Zeit Ruh, und statt der lieben Briefe hast
Du dann stets einen Mann bei Dir, - eine schwere, schwere, ernste
Lebensaufgabe, um die ich Dich armes kleines Ding aufrichtig bedauern
würde, wenn ich's imstande wäre! Bereite Dich nur ja zu
dem schweren Schritt, der Deinem Leben eine so ernste Wendung gibt,
gehörig vor, liebste Änni, und stelle Dir nur das Leben als
Prüfstein ja recht traurig und öde vor; denn in Wirklichkeit
wird's ja nachher noch viel schlimmer! So ein Professor ist eine gar
kuriose Pflanze, und ich könnte gar nicht mit ihm auskommen.
Und Du willst ganz bei ihm bleiben? Dummes Kind. Wie dauerst Du
mich!!
Nachdem ich solchermaßen meinen christlichen Pflichten als
zukünftiger Ehemann genügt und Dir einen ernsten Blick in
die düstere Zukunft, der Du entgegengehst, eröffnet habe,
mein liebster, bester Schatz, mußt Du mir wohl erlauben, Dir zu
sagen, wie ich leider von dieser ernsten Besorgnis, die Dich jetzt
erfüllen wird, auch nicht die Spur in mir selbst fühle, wie im
Gegenteil mein ganzes Herz lacht und jubelt und springt, wenn ich ihm
erzähle, daß ich in ein paar Monaten nicht mehr mein eigener
Herr bin, sondern ein gar liebes, süßes Ding überall und
immer bei mir habe, das mir vielmal so lieb ist, wie mein eigenes Leben!
Welche Veränderung muß das in allem und jedem geben!
Vielleicht freust Du Dich auch ein bißchen auf unsere gemeinsame
Zukunft, so aber wie ich, glaube ich doch nicht; beginnt ja doch für
mich ein ganz neues Leben, ein Leben, nach welchem wohl wenige
Männer solche Sehnsucht haben, wie gerade ich, von dem seine
Freunde behaupten, daß er viel zu viel Gefühlsmensch sei,
und daß er mehr, als recht ist, in Gefühle lebe und denke!
Mit welcher Spannung ich nun der Entscheidung der nächsten
sechs Wochen entgegensehe, kannst Du denken; je näher der
verhängnisvolle Termin rückt, desto mehr freue und sehne
ich mich; desto mehr wird mir aber auch bange, daß doch am Ende
diesmal wieder ein Querstrich durch die Rechnung gemacht wird. Die
Verhältnisse hier bieten so eigentümliche Schwierigkeiten,
daß mir minutenweise die Erfüllung meiner
süßesten Hoffnung eine Unmöglichkeit dünkt;
dann aber wieder bricht eine solche holde Hoffnungssonne durch den
grauen Himmel der trüben Bangigkeit, daß ich vor Wonne
laut aufjubele, und daß das ganze reizende Tal von Jena im
schönsten Frühlingsschimmer mich anlacht! Es würde
mir gar zu schwer werden, sollte ich noch einen Sommer ohne Dich hier
zubringen. Wird aber wirklich etwas aus unserer Hoffnung, so will ich
wirklich glauben, daß ich ein rechter, ganzer Glückspilz und
ein rechtes ausgesuchtes Sonntagskind bin, was ich bisher immer nicht
habe glauben wollen. Es wäre doch gar zu reizend, wenn wirklich
das in Erfüllung ginge, was wir uns vor vier Jahren als ein kleines
Ideal hinstellten, in dem wir alle unsere Wünsche
zusammenfaßten. Nun, in acht Wochen wissen wir's
gewiß!
Vorgestern, Sonntag, habe ich mich einmal ordentlich ins Freie gemacht,
um Luft zu schnappen, und habe mit Gegenbaur und Gerhardt einen
herrlichen vierstündigen Spaziergang durch den Forst gemacht, wo
ich allen Bäumen und Felsen und allen Gräsern und Moosen
erzählt habe, was für ein reizendes kleines Frauchen ich
ihnen im Frühjahr zuführen würde. Du glaubst nicht,
wie lustig sie mich ansahen, und vor Freude sah ich schon in Gedanken
alles ringsherum grün und neben mir meinen herzallerliebsten
Schatz! Den Rückweg machten wir durch einen neuen reizenden
Waldgrund, den ich noch gar nicht kannte, ein Nebental des lieblichen
Ammerbacher (Amor! bacher) Grundes, der mich ganz in das
Hochgebirge versetzte.
Jena, 16.2.1862
Um Dir die Trennung am heutigen Tage zu erleichtern, schicke ich Dir ein
paar von meinen Lieblingsliedern, den reizenden Schnaderhüpfeln
von der Alm mit; studiere sie ja recht eifrig, um sie im Herbst, wenn Du
sie in natura hören wirst, ordentlich verstehen zu können.
Ein paar Strophen, die Du Dir besonders einprägen mußt,
habe ich Dir noch nebenbei mit abgeschrieben! Zu meinem großen
Bedauern hat sich auch mein dienstbarer Geist auf dem blauen
Umschlage des Liederbuches verewigt, indem er Dir einen getreuen
Abdruck seiner schmierigen Fettfinger mitschickt! Du kannst Dir danach
einen Begriff machen von der Reinlichkeit, mit welcher dieser
Schmierbesen, Minna geheißen, die Stubenpolizei in meinem Hotel
ausübt! Offenbar fühlte sich der edle Besen von den Bildern
und Liedern so angezogen, daß er, ohne erst das abgewischte
Öl von den Fingern zu waschen, sich in ihr Studium vertiefte und
so dem blauen Deckel die Schandflecke beibrachte, die ich nicht lebhaft
genug bedauern kann!
Jedenfalls siehst Du daraus, liebster Schatz, wie nötig es ist,
daß Du recht, recht bald herkommst und der traurigen
Junggesellenwirtschaft ein Ende machst! Wenn Du sähest, wie
schwer mir täglich das Waschen der Teekannen, das Abwischen
der Tische, das Putzen des Trinkglases wird, würdest Du schon aus
reinem Mitleid oder vielmehr aus christlich-platonischer Liebe zu
diesem unglücklichen Privatdozenten hereilen und ihm als
hilfsreichen Engel diese kleinen weiblichen Beschäftigungen
abnehmen! Vielleicht zieht Dich auch sonst noch etwas her! Wenigstens
glaube ich, daß es Dir doch nicht ganz so schlimm bei mir gefallen
würde! Freilich halten mich die Leute für ein ganz
unmenschliches Wesen, und selbst meine Freunde behaupten manchmal,
ich müßte "menschlicher" werden!
"Ä frischer Bu' bin i', bei de Leute veracht't,
Und jetzt bin i's schon gewöhnt, daß ma's gar nix mehr
macht!"
Aber ein Mensch versteht mich doch. Und das ist mein lieber, lieber,
einziger Schatz, meine herzige, beste Änni, die in wenigen Wochen
ihrem achtundzwanzigjährigen Erni ganz und gar angehören
wird; in dieser süßen Hoffnung, die diesmal gewiß nicht
zuschanden wird, laß Dich herzen und küssen von Deinem
lieben, treuen Erni' hoffentlich bald Dein Mann und Professor!
Jena, 17.2. 1862
Fast der ganze Vormittag meines Geburtstages ging gestern mit
süßer Änni-Träumerei hin. Wenn Du Dich
erinnerst, liebster Schatz, mit welcher Bangigkeit wir noch heute vor
einem Jahre der fernen Zukunft ins Gesicht sahen, wie schwer der
Beginn der akademischen Laufbahn (sicher der schwerste von allen
Anfängen), wie dunkel und unsicher die ganze nächste
Zukunft vor uns lag, so wirst Du ganz mit mir Dich darüber freuen,
wie glücklich alle diese Schwierigkeiten überwunden sind.
Recht inniges, stilles Dankgefühl durchzog heute und gestern all
mein Denken, wenn ich mir klarmachte, wie schön jetzt alles
für mich zum herrlichsten, glücklichsten Leben vor bereitet
ist! Um meine Änni-Wonne zu erhöhen, holte ich mir ihre
lieben, lieben Lieder und die herzigen Briefe heran, die sie mir in die
italienische Verbannung geschrieben, dann sah ich ihr liebes, kleines
Bild an, das wieder viel Küsse hat aushalten müssen! So
verging denn der ganze Vormittag des neuen Jahres in den
süßesten Glücks- und Liebesgedanken, und nachmittag
hatte ich auch noch recht Zeit, dieselben weiter auszuspinnen.
Schon am Samstag hatte ich mit Gegenbaur und Gerhardt einen
größeren Spaziergang verabredet; und beim frischesten,
schönsten Winterwetter führten wir ihn dann gestern
nachmittags aus. Wir machten die große und mir noch unbekannte
Tour, welche wir schon im Sommer projektiert hatten, ohne sie jemals
auszuführen: das sogenannte Hufeisen, ein überaus
herrlicher Waldweg, welcher auf dem Gipfel des Gentzigs beginnt und in
einem großen hufeisenförmigen Bogen nach der Kunitzburg
hinüberführt. Trotzdem wir starken Schritt gingen, hatten
wir zur ganzen Tour doch vier volle Stunden nötig. Der ganze Weg
bis zur Kunitzburg führt auf der Höhe der Berge hin und
bietet eine Fülle der schönsten Aussichten in verschiedene
Täler, die im Sommer ganz reizend sein müssen. Fast den
ganzen Weg ging ich so gut wie allein, da meine Freunde, in medizinische
Gespräche vertieft, ein gut Stück zurückblieben, und so
hatte ich den ganzen Weg in Gedanken die reizendste, liebste Begleiterin,
ein gewisses kleines Frauchen mit blauen, treuen Augen und blondem
Haar, das immer neben mir hersprang und mich frug, ob es wohl ein
glückseligeres junges Ehepaar geben könnte, was ich denn
trotz meiner Zweifelsucht aufs entschiedenste verneinen mußte. So
hast Du mir denn durch Dich selbst wieder gestern das glücklichste
Gefühl beschert, Dich zu besitzen, Du liebe, kleine Seele, die Du
immer so lieb, wahr und natürlich bleiben mußt, um Deinen
treuen Erni zum glücklichsten Manne zu machen.
Je länger ich hier noch allein existiere, desto lebhafter wird die
Sehnsucht nach der Vereinigung mit Dir lieben Seele, welche mir die
Ruhe und den Frieden bleibend bringen muß, den ich ohne Dich
nicht finden kann. Wie anders wird mir meine ganze Existenz
erscheinen, darf ich erst immer und ganz mit Dir zusammen sein, mit
Dir, die mich ganz kennt und versteht, während ich von den
anderen Leuten fast nur nach einer oder der anderen Seite hin
mißverstanden werde. Diese Gedanken sind mir besonders in der
letzten Zeit täglich wieder mit besonderer Lebhaftig keit vor die
Seele getreten. Einen rechten Gemütsumgang habe ich unter
meinen hiesigen Freunden doch gar nicht. Am nächsten stehe ich
immer noch Bezold, der aber wieder zu verschiedene Interessen hat. Mit
Gegenbaur werde ich bei seiner furchtbaren Schroffheit und
Einseitigkeit wohl nie auf einen warmen Fuß (der bei ihm
überhaupt nicht möglich ist) gelangen. In den letzten
Wochen sind wir mehrere Male hart an einandergeraten, da er nicht nur
entschiedener Großdeutscher ist und für ein
österreichisches oder bayrisches Deutschland schwärmt,
sondern auch - zu meiner wirklichen Überraschung - in politischer
Beziehung entschieden illiberale, um nicht zu sagen reaktionäre
Ansichten hat, bei seiner sonstigen Freisinnigkeit mir unbegreiflich.
Gerhardt ist nun vollends ganz in diesen Ansichten verrannt, haßt
Preußen, wie alles Norddeutsche, aufs grimmigste (natürlich
ohne es zu kennen!), und da Bezold, der sonst auf meiner Seite steht, in
den letzten vierzehn Tagen im Bett lag, so haben die unvermeidlichen
politischen Tischgespräche unsere gegenseitigen Beziehungen nicht
gerade wärmer gemacht. Für mich haben diese
unangenehmen Situationen wenigstens das eine Gute, Schweigen und
Selbstbeherrschung zu lernen, was auch wohl sehr nötig war!
Jena, 24.2. 1862
Ich habe die gute Geduldsermahnung, die Du mir im Geburtstagsbriefe
gabst, nicht außer acht gelassen und mich schon in stiller
Resignation darauf eingerichtet, am Ende doch noch bis zum Herbst
warten zu müssen, was freilich für unsere Geduld eine sehr
bittere und gar zu harte Probe wäre! Aber was hilft's?
Das Buch muß jedenfalls erst die Rundreise an den vier Höfen
machen, deren offizieller Titel "Nutritores (Ammen) der
Universität Jena" ist, und erst, wenn die vier Kultusminister
dieser vier Vaterländchen nichts Staatsgefährliches und
einiges Wissenschaftliche darin gefunden haben, ist an eine
Möglichkeit der Erfüllung unserer Wünsche zu denken.
Jedenfalls scheint es mir sehr unwahrscheinlich, daß daraus noch
im März etwas wird, und also würden wir höchstens
im April heiraten können. Daß es nicht in Berlin geschieht,
darüber würden wir uns wohl trösten; denn ich glaube
nicht, daß der Lärm und die große dramatische
Verwandtschaftsbeteiligung, die in Berlin wohl nicht zu vermeiden
wäre, uns besonders behagen würde. Ich meinerseits
entführte Dich am liebsten ganz still und zöge Dich hier in
das reizende, stille Tal, wo wir nur uns leben können und um die
andere Welt uns nicht zu kümmern brauchen.
Von meiner ersten Neujahrswoche im achtundzwanzigsten Lebensjahr
kann ich nichts Besonderes berichten, außer, daß ich sie in
erwünschter Kraft und Frische verlebt und mir durch
tüchtiges Turnen die Stubenphysiognomie etwas ausgetrieben
habe. Ich habe es durch die fortdauernde Übung jetzt dahin
gebracht, daß ich einer der Stärksten und sicher der
Gewandtesten bin, während ich im vorigen Frühjahr, als ich
eintrat, einer der Schwächsten war.
Einen wundervollen Frühlingstag hatten wir am Donnerstag, wo
ich den ganzen Nachmittag auf der Eule gelegen habe, der Spitze des
Berges, der nur eine halbe Stunde von der Ziegelei entfernt ist und die
prächtigste Aussicht gewährt. Es war wonnig warm, wie im
Mai, der schönste Sonnenschein, mit etwa achtzehn Grad
Wärme. Ich hatte Deine lieben, herzigen Briefe mitgenommen und
las sie einmal über das andere mit immer erneutem
Vergnügen durch. Was ich da alles dachte, brauche ich Dir wohl
nicht erst zu sagen...
Jena, 2., 1862
Am Dienstag abend sind die vier Schicksalsexemplare des Buches
glücklich einpassiert. Das Opus sieht wirklich recht stattlich aus,
wiegt fünf Pfund und ist ein mehr als zolldicker starker Folioband.
Das Äußere ist dabei so elegant und einladend, daß ich
die ersten Vaterfreuden eines jungen Autors dabei aufs lebhafteste
empfand. Ich trug noch selbigen Abend ein Exemplar zu Gegenbaur, der
auch über das endliche Gelingen und über Umfang und
Ausstattung sehr erfreut war, am folgenden Morgen ein zweites zu Kuno
Fischer, der jetzt Prorektor ist.
Er wird es, nach Verabredung mit Seebeck, unter den Professoren
zirkulieren lassen, damit Jena erkenne, was für einen
Radiolarienvater es in seinen Mauern habe (sonst gilt der Prophet nichts
in seinem Vaterland!), und besonders, damit sie sich nicht allzu sehr
wundern, wenn aus dem Doktor Haeckel nächstens plötzlich
ein Professor wird.
Das dritte und wichtigste Exemplar trug ich Mittwoch morgen (auf
besonders feinem Velinpapier gedruckt) zu Seebeck. Meine Spannung
war, wie Du denken kannst, groß, wurde aber noch durch die
Freundlichkeit des Empfanges übertroffen. Er war
äußerst herzlich und versicherte mir: "daß er
darüber eine Freude habe, als ob ihm ein Enkelchen geboren
wäre!" - Das Exemplar zirkuliert jetzt, nebst den
verschiedenen Schreiben Seebecks und Fischers, die mich zum Professor
empfehlen, an den vier Höfen, und hier blüht also jetzt unser
Leben seiner Auferstehung entgegen.
Jena, 16.3. 1862
Die Politik interessiert mich, wie Du denken kannst, auf das lebhafteste.
Die ebenso erbärmliche und gemeine, als dumme und verkehrte
Politik des Königs und der traurigen Minister bei Auflösung
der Zweiten Kammer hat mich außerordentlich gefreut; denn
wirklich konnten sie der Volkssache keinen größeren Dienst
leisten, als sie so mit Füßen treten, wo das Recht so
sonnenklar am Tage liegt. Die Regierung wird auch einstimmig von allen
ausländischen Blättern verurteilt. Ich freue mich schon auf
die nächste Kammer, die natürlich viel demokratischer
wird.
Du fragst, was ich dazu sage, daß Du am Sonntag getanzt hast? Ich
finde das ganz in der Ordnung und würde es töricht finden,
Dir ein solches Vergnügen etwa zu untersagen. Wie Du weißt,
beruht unser ganzer "Vertrag" (sozusagen - sit venia verbo!)
auf gegenseitiger Duldung, und ich werde Dir stets die vollste Freiheit
lassen, alles zu tun, was nicht gerade zu unrecht ist, wie ich auch von Dir
diese Toleranz fordere. Also tanze soviel Du Lust hast!
Jena, 2.5. 1862
Der dritte Mai, unser größter Festtag, muß Dir doch wohl
den ersten Gruß aus Jena bringen, nicht wahr, mein liebster, bester
Schatz? Hoffentlich trittst Du ihn so wohl und munter und voller
Hoffnung an wie Dein Erni, dem eben die schönste
Frühlingssonne so lachend ins Fenster scheint, als brächte sie
ihm den frischesten Gruß von seinem süßen Liebchen.
Daß ich schon wieder rechte Sehnsucht nach Dir habe, und daß
Du mir heute besonders fehlen wirst, brauche ich Dir wohl nicht erst zu
sagen. Aber doch wird alle Traurigkeit der Trennung bei weitem
überwogen durch die rosigen Aussichten der seligsten Zukunft, der
wir jetzt mit raschen und sicheren Schritten entgegeneilen. Das eine
Vierteljahr, das uns noch trennt, wird rasch genug verschwunden sein,
und dann soll uns kein Hindernis je wieder voneinander nehmen! Nicht
wahr, mein liebstes, bestes Herz?
Aber mit der Ernennung scheint es immer noch mehrere Wochen, wenn
nicht Monate, dauern zu sollen; keinesfalls kommt sie jetzt noch so zeitig,
daß ich Dich schon zu Pfingsten herüberholen könnte,
und diese harte Notwendigkeit tröstet mich als solche über
den bitteren Entschluß, noch bis zum August die heiße
Sehnsucht und Ungeduld zu zügeln. Andererseits wird es
übrigens auch so viel Arbeit geben, daß ich doch nicht die
nötige Zeit erübrigen würde, um mit meinem kleinen
Frauchen die reizende Natur nach Wunsch zu genießen, und auch
insofern werden uns die Herbstferien ungleich schönere und
freiere Flitterwochen versprechen. Vorläufig werde ich mein
kleines Herzenstierchen möglichst aus dem Kopfe verjagen, - das
heißt, soweit sich's eben verjagen läßt! -, um darin Platz
für die drei neuen Vorlesungen zu gewinnen, die mich den
Sommer über wohl ganz in Anspruch nehmen werden. Als ich
gestern abend zum erstenmal wieder die Nase ins Buch steckte,
überfiel mich ein gelinder Schreck ob alles dessen, was ich wieder
verschwitzt und vergessen habe; indes bin ich glücklicherweise
schon so weit vorgeschritten, daß ich mit einem frischen
Fortschrittsmute und mit einem, meines kleinen Strickchens
vollkommen würdigen Leichtsinne über diese Verlegenheit
hinweg springe.
Auf der Herfahrt bis Halle unterhielt ich mich bloß mit mir selbst.
Sehr komisch war ein Hallescher Student, welcher einen Hund (Bulldogg)
in einem Reisesack auf dem Schoße, als Konterbande, mit sich
führte und während der Fahrt seinen Kopf frei
herausstecken ließ, beim Halten auf den Stationen aber ihn
vollständig im Sack versteckte und abschloß, damit es der
Schaffner nicht sähe! Ich dachte lebhaft daran, wie gerne ich ein
gewisses anderes Tierchen auf dem Schoße hätte! Das
dürfte aber immer seinen Kopf frei herausstecken und brauchte
nicht zu fürchten, zeitweilig im Reisesack abgeschlossen zu
werden! In Halle hatte ich die Freude, mit August Merkel
zusammenzutreffen, welcher mich in ein Kupee zweiter Klasse mit
hinübernahm und bis Apolda mit mir zusammen fuhr. Wir
schütteten unseren Fortschrittsjubel gegenseitig aus und
ärgerten damit bitter zwei merseburgische Junker, welche in der
entgegengesetzten Wagenecke ihrem tiefen Ingrimm über
"diese demokratische Kanaille" Luft zu machen suchten! Es
half ihnen aber nichts.
Die Herüberfahrt von Apolda nach Jena war reizend. Die Pracht
der grünenden Wälder und der blühenden
Obstbäume übertraf noch alle Erwartungen; ich saß auf
dem Bock und sog mit Wonne die kostbare Frühlingsluft ein, die
denn doch ein ganz anderes Aroma als die Berliner hat. Alles ist schon
sehr weit fortgeschritten; doch haben mehrere Nachtfröste von
vier Grad der Baumblüte sehr geschadet.
Auch hier fand ich alles im reizendsten grünen Schmuck, den
reizenden Prinzessinnengarten voll Blütenduft und Vogelsang, der
mich beständig erfreut. Nur der Gedanke, Dich nicht hier zu haben,
verbittert mir diesen prächtigen Naturgenuß.
Gestern (Donnerstag) habe ich den ganzen Vormittag
gekramt und geräumt und mein kleines, prächtiges
Sommerpalais ebenso wie vorm Jahre hergestellt. Das Bett steht wieder
in der kleinen Stube; die große ist wieder stattliches
Studierzimmer, und über dem Schreibtische, den ich mit diesem
Briefe neu wieder einweihe, hängen in neuer Anordnung ein
Dutzend Photographien. In der Mitte, zwischen Allmers, den Alten, Karl
und Hermine, hängt das neu eingerahmte Bild eines ganz
allerliebsten Geschöpfes, eines wirklichen, kleinen "Natur-
und Meisterstückes", von dessen Aussehen Du Dir eine
Vorstellung verschaffen kannst, wenn Du plötzlich einen recht
schalkhaften Einfall bekommst und dann sogleich in den Spiegel siehst.
Das Bild wird mich noch oft im Sommer in der Arbeit stören!
Gestern war ich eine Stunde bei Seebecks, die sehr freundlich waren und
Dich herzlich grüßen lassen. Er erzählte mir, daß
der Großherzog die Radiolarien sich noch ausdrücklich auf
sein Zimmer habe kommen lassen und ihm über die Kupfertafeln,
welche wirklich Kunstblätter seien, seine lebhafte Bewunderung
ausgedrückt habe. Seebeck meinte, ich habe mir damit einen sehr
ansehnlichen Stein im Brett gewonnen. Auch das Ministerium in Weimar
hat sich sehr günstig geäußert. Hoffen wir, daß es
bei den anderen drei Höfen ebenso geht!
Abends las ich noch ausführlich verschiedene Zeitungen und
konnte mich nicht genug über den wirklich fabelhaften Sieg der
Deutschen Fortschrittspartei freuen! Selbst die gemäßigten
liberalen Blätter (natürlich mit Ausnahme der Berliner
Allgemeinen Zeitung!) sind über diesen mannhaften Protest der
ganzen Nation gegen den Feudalismus hoch erfreut und schlagen die
mächtige Bewegung, die sich in diesem begeisternden Fortschritt
kundgibt, sehr hoch an. Ist denn der Alte noch nicht von der Bedeutung
dieser wirklichen Großtat überzeugt und erfreut? Tante
Bertha bitte ich mein inniges Beileid über diese Niederlage der
feudalen und vereinigt konstitutionell-konservativ-monarchisch-
verfassungstreuen Partei mündlich zu bezeugen!! Was wird aber
mein armer Bruder Karl zu dieser Entschiedenheit und Festigkeit der
überwiegend großen Majorität des Volkes sagen? Ist es
nicht schrecklich, daß schon so viele Leute wissen, was sie wollen,
und es wirklich durchsetzen!!
Du aber, mein lieber, süßer Herzensschatz, juble mit mir
über dieses schöne Morgenrot einer großen Zukunft
unseres niedergetretenen, mißhandelten Vaterlandes, und bleibe
immer so frisch, munter und jugendfroh, wie Du jetzt bist. Laß Dir
die kurze Trennungszeit von drei Monaten nicht zu lang werden, und
denke immer an die reizendsten Herbstferien und die nahende
Erfüllung unserer heißesten Wünsche. Laß Dich's
nicht grämen, daß ich morgen nicht bei Dir sein kann, und
nimm in Gedanken den herzlichsten Kuß und die innigste
Umarmung von Deinem lieben, treuen Bräutigam, der es -
fabelhaft, aber wahr - "wirklich ernst lich mit Dir meint!?" -
"Noch nach vier Jahren!" ...
Jena, 9.5.1862
Heute bekommst Du doppelten Gruß und Dank, mein herziger
Schatz, für die beiden lieben Briefe, mit denen Du mir meine
Jenenser Einsamkeit bereits versüßt hast. Ich würde
Dir auch schon wieder geschrieben haben, wenn es nicht in dieser Woche
so viel zu tun gegeben hätte, daß ich eigentlich gar nicht zur
Besinnung kam. Nun, jetzt ist die erste - immer zugleich die schwerste -
Woche des Semesters glücklich vorüber und ich werde nun
bald wieder in den gewohnten Gang der regelmäßigen
Tagesarbeit kommen.
In der Knochen- und Bänderlehre, die ich dreimal
wöchentlich von elf bis zwölf Uhr lese, habe ich über
Erwarten viel, nämlich ein Dutzend Zuhörer. Da diese
Vorlesung als Grundlage der ganzen Anatomie von großer
Wichtigkeit ist, so freut mich dieser Erfolg sehr und ich gebe mir alle
mögliche Mühe, den Gegenstand so sorgfältig und
genau als möglich zu behandeln, ob wohl er an sich nicht gerade
der interessanteste ist. Dabei unterstützt mich die sehr
schöne anatomische Sammlung, die mir Gegenbaur völlig
unumschränkt zur Verfügung gestellt hat. Da überdies
das Kolleg alle Semester gelesen werden muß, so hoffe ich mir mit
diesem guten Anfang eine Grundlage für die ganze Dauer meines
Hierseins gelegt zu haben. Ein anderer Privatdozent (ein alter
preußischer Medizinalrat, Dr. Sackow) hatte ebenfalls Osteologie
angekündigt, hat sie aber gar nicht zustande gebracht. Arbeit
kostet mich die Vorbereitung zu dieser Vorlesung übrigens genug.
Denn seit dem Kursus, wo ich zum letztenmal Anatomie durchnahm -
besonders seit dem 3. Mai 1858 -, habe ich mich zwar sehr viel und sehr
gründlich mit gewissen anderen Teilen des menschlichen
Körpers, besonders mit dem Studium der Augen und Lippen (!)
befaßt, aber an den alterstrockenen Knochen wieder sehr viel
vergessen.
Mein Lebenslauf ist nun wieder in die gewöhnliche
Sommerordnung eingetreten. Früh um vier oder halb fünf
Uhr stehe ich regelmäßig auf, arbeite bis acht Uhr zu Haus,
dann von acht bis elf Uhr auf der Anatomie, wo mir Gegenbaur den
prächtigen, großen, vergleichend anatomischen Hörsaal
als Arbeitszimmer eingeräumt hat. Elf bis zwölf Uhr
Vorlesung, dann zwölf bis ein Uhr Zeitungen im Museum, welches
jetzt sehr bequemerweise in das Anatomiegebäude verlegt ist. Ein
bis zwei Uhr Mittag im "Bären", wo dann unsere alte
Bärengesellschaft, die sich wieder in derselben Zusammensetzung
konstituiert hat, bis drei Uhr beim Kaffee zusammenbleibt. Von vier bis
fünf Uhr höre ich viermal wöchentlich die sehr
interessante Vorlesung Kuno Fischers über die Kantische
Philosophie, die mir so sehr gefällt, daß ich sie vielleicht das
ganze Semester hindurch hören werde. Unsere Turnstunde ist jetzt
Dienstags und Freitags von sieben bis acht Uhr. An den anderen
Abenden mache ich gewöhnlich mit meinen Bärengenossen
einen längeren oder kürzeren Spaziergang, lese dann noch
bis zehn Uhr und lege mich dann mit sehr lieben Änni-Gedanken
ins Nest.
Jena, 17.5. 1862
Eine hohe Stufe zu dem Gipfel unseres Glückes ist wieder
glücklich erklommen, liebster, bester Herzensschatz! Die
Bestätigung respektive Ernennung zum Professor ist vorgestern
glücklich hier angekommen, wie mir Kuno Fischer gestern
mitteilte. Alle vier Höfe sind dem guten Beispiele des
Weimarischen gefolgt, und von seiten der vier Regierungen, die die
Ernährer der alma Universitas sind, liegt kein Hindernis weiter
vor. Du kannst denken, mit welchem Herzensjubel ich mich Dir heute als
"Großherzoglich-Herzoglich-Sächsisch -Weimarisch-
Koburgisch-Altenburgisch-Meiningscher außerordentlicher
Professor" vorstelle!! Juble und jauchze mit mir,
süßestes, bestes Liebchen, Du liebste, treueste Seele, die doch
eigentlich der einzige Grund ist. weshalb ich mit solcher Ungeduld und
Sehnsucht dieser Ernennung entgegengehofft habe!
Leider ist nun - dank unserem gründlich-deutschen
Formalitätenkram - damit immer noch nicht alles erledigt; der
Professor muß noch ein paar Wochen ganz geheim bleiben, bis auch
Senat und Fakultät ihr Gutachten über den jungen Professor
designatus abgegeben und erklärt haben, daß sie nichts
gegen die Ernennung einzuwenden haben.
Im ganzen kann ich nicht leugnen, daß mir diese langsame und
schleppende Entwicklung des Professors aus seiner Puppenhülle
die reine Freude an demselben nicht wenig stört, und daß
mir besonders der eine Gedanke höchst ärgerlich und bitter
ist -: Wie viel weiter könnten wir sein, wenn die ganze lange
Geschichte nur vier Wochen früher abgelaufen wäre! Freilich
trifft da in letzter Instanz die Hauptschuld wieder Georg Reimer, mit
seiner entsetzlichen Druck- Bummelei; hat er doch bald vierzehn Tage
allein gebraucht, um jene vier Exemplare heften zu lassen!! Um einen
ganzen Sommer hat uns diese entsetzliche Langsamkeit und
Nachlässigkeit betrogen und statt daß wir nun in diesem
reizenden Frühjahr unser kleines Nestchen hätten bauen
können, müssen wir jetzt bis zum Herbst warten!
Im übrigen geht es mir gut, da meine Zuhörer die Osteologie
und Syndesmologie mit der größten Aufmerksamkeit
hören, so daß es mir selbst Freude macht, und ich mir die
möglichste Mühe gebe. Infolgedessen ist auch die Zahl von
zwölf auf siebzehn gestiegen, worauf ich ganz stolz bin und meine
Freunde mich tüchtig necken, daß ich sie schon aussteche
(Gegenbaur hat in der vergleichenden Anatomie zwölf, in der
Entwicklungsgeschichte nur fünf). Wenn alle das Kolleg bezahlen
(je vier Taler), so kommt schon die hübsche Summe von
achtundsechzig Taler heraus, für die drei Sommermonate (drei
Stunden wöchentlich) ganz anständig.
Jena, 30.5.1862
Von meinem Leben in den letzten Wochen ist nicht viel Besonderes zu
berichten; es ist ja doch immer nur ein halbes, so lange noch die bessere
Hälfte fehlt, die erst im August dazukommt. Im ganzen habe ich
ziemlich viel Muße, was mir nach den angestrengten Tagen der
letzten Jahre sehr fremdartig vorkommt, aber doch auch gut tut. Wenn
ich bedenke, daß ich die letzten zwei Jahre eigentlich keinen freien
Tag hatte, an dem mich nicht die Radiolarien in irgendeiner Weise
beschäftigten, so kommt mir die jetzige Arbeit wie Ferienzeit vor!
Das Kolleg kostet mich etwa nur die Hälfte der Woche. Es macht
mir übrigens viel Freude, da meine achtzehn Zuhörer sehr
fleißig sind. Bis jetzt habe ich Wirbelsäule und Arme
durchgenommen und fange Montag mit den Beinen an.
Von unserer reizenden Gegend habe ich bisher noch relativ wenig
genossen, da wir meist Regenwetter hatten. Doch habe ich mit
Gegenbaur zwei überaus schöne größere
Spaziergänge gemacht, die mich mit zwei neuen, mir noch ganz
unbekannten, wundervoll schönen Partien bekannt gemacht
haben. Den ersten machten wir letzten Samstag (24. Mai) beim
schönsten Wetter nach Vollradisroda, einem reizenden kleinen
Dorf, das mitten im Walde liegt. Der ganze Weg da hin geht
beständig im Forst; das blumenreiche Gehölz mit Orchideen
usw. war prächtig. Die zweite Exkursion machten wir gestern, am
Himmelfahrtstage, ebenfalls bei schönem Wetter. Wir stiegen
zunächst nach Ziegenhein und gingen dann, immer durch
schönen Wald, nach dem "Luftschiff", einem
großen, höchst sonderbar gebauten Vorwerk mit
großem Wirtschaftsgut, das höchst wild und einsam auf der
Höhe auf einem Plateau halb im Walde drin liegt und uns lebhaft
an die einsamen romantischen Schlösser erinnerte, denen man in
Walter Scott so oft begegnet. Von dem Rande des Plateaus, an dem wir
längs des Waldhauses hingingen, hatten wir beständig die
schönsten Blicke auf die blauen Bergzüge des
Thüringer Waldes. Von da stiegen wir zur Lobeda-Burg, einer sehr
stattlichen, in schönem romantischen Stil gebauten, sehr alten
Burgruine, auf einer Bergecke prächtig gelegen. Obgleich Lobeda
nur eine Stunde von Jena entfernt ist, war ich doch noch nicht
hingekommen und also aufs angenehmste über diese neue
Bereicherung unseres Exkursions-Programms überrascht. Von der
Lobeda-Burg stiegen wir in das Städtchen Lobeda hinunter und
gingen von da, längs der Saale hin, immer durch Wiesen und
Gebüsch, nach Jena zurück.
Jena, 5.6. 1862
Endlich ist die Geburt des Professors vonstatten gegangen. So langsam
die Vorbereitungsperiode dazu verstrich und so träge der Lauf des
Radiolarienbuches und des Ernennungsgesuches von Seebeck an den
vier Höfen war, so außerordentlich rasch ist die Sache hier
durch den Senat und die Fakultät gegangen Nachdem die
Ernennung übereinstimmend von allen vier Höfen
eingegangen, wie ich Dir neulich mitgeteilt, hat sie sofort Bernhard
Schultze (der Geburtshelfer, Bruder von Max), der jetzt Dekan der
medizinischen Fakultät ist, dieser vorgelegt und die Fakultät
(aus meinen Freunden Gegenbaur, Bezold, Gerhard, Schultze, ferner aus
Ried, Schleiden und Kieser zusammengesetzt) hat über mich einen
Bericht verfaßt, der äußerst günstig,
rühmlich und ehrenvoll gefaßt sein soll. Dieser ging dann an
den Akademischen Senat (aus den ordentlichen Professoren aller vier
Fakultäten zusammen gesetzt), und hier habe ich es nun
vorzüglich Kuno Fischer (unserem berühmten Philosophen),
der sehr günstig für mich eingenommen ist und mir sehr
wohl will, zu danken, daß die Sache mit einer in dieser ehrbaren
Körperschaft noch nicht dagewesenen Geschwindigkeit expediert
wurde! Er berief sofort eine Sitzung (worüber sonst
gewöhnlich vier Wochen vergehen) und in dieser wurde
einstimmig dem Fakultätsbericht zugestimmt und nun die Sache
wieder nach Weimar expediert, um den endgültigen Beschluß
und die Fassung der Ernennung zu veranlassen. Du siehst also, was die
Leute mit Deinem Erni für Umstände gemacht haben! Die
Ausfertigung der Ernennung, welche vorher lithographiert an alle vier
Höfe verschickt werden muß, ist nun gestern hier angelangt,
was mir Seebeck und Fischer sogleich mitteilten. Ehe ich sie nun zu
Gesicht bekomme, muß sie noch bei allen Mitgliedern des Senats
zirkulieren, worüber wohl wieder ein paar Tage vergehen werden!
Indes, das alles ist ja jetzt vollkommen Nebensache! Hauptsache ist,
daß bereits morgen in dem Jenenser "Moniteur", das
heißt in den "Blättern von der Saale" - der Herr Dr
med. Ernst Haeckel als Professor extraordinarius und Direktor des
Zoologischen Museums feierlichst publiziert wird, und daß ich
bereits heute um zwölf Uhr durch Seebeck im
Großherzoglichen Schloß auf die "Treue dem
Großherzog (!) und der Verfassung" - als Weimarischer
Staatsbürger feierlichst eidlich verpflichtet werde.
Nun denke Dir aber meine Überraschung, liebster Schatz, als mir
Seebeck gestern mitteilt, daß ich bereits seit Ostern Direktor des
Zoologischen Museums bin und als solcher schon für dieses Jahr
einen Gehalt von 100 Talern beziehe! Es sollte aber nicht eher bekannt
werden, als bis die Professur da wäre, weil ein bloßer
Privatdozent doch nicht Direktor einer großen
Großherzoglichen Sammlung sein kann!
Hätten wir das gewußt, dann hätten wir schon zu
Ostern heiraten können! Wieviel Gehalt ich als Professor
bekomme, ist noch ungewiß; doch scheint die Wahrscheinlichkeit
zwischen 0 und 50 Taler zu schwanken!! Übrigens habe ich
jährlich über 100 Taler Kollegiengelder! Also sind die
Finanzen nicht glänzend. aber wir wollen uns schon nett
einrichten; auch wird Dein Erni wohl nicht lebenslang Extraordinarius
bleiben. Hauptsache bleibt, daß ich im August mein liebes, einziges
Herzensmädel heimführen und mir damit die irdische
Glückseligkeit und den Herzensfrieden erringe, den mir doch kein
Geld und Gut ohne sie bringen könnte!
Grüße Mutter aufs herzlichste und lasse Dir in Gedanken die
innigsten Küsse geben, deren ein deutscher Professor (Faust!)
fähig ist. Ein fröhliches Pfingstfest brauche ich Dir wohl nicht
erst zu wünschen. Es herzt und küßt Dich aufs innigste
Dein treuer, glückseliger Bräutigam - in zehn (10) Wochen
Ehemann -, der GroßherzoglichWeimarisch und Herzoglich
Sächsische außerordentliche Professor der Zoologie und
Dfrektor des Zoologischen Museums an der Universität Jena
- Ernst Haeckel -
- Hochwohlgeboren!!
- Jena, 24.6.1862
Lieber Vater!
Während Regen und Sturm, die nun schon seit acht Tagen bei acht
bis zehn Grad Kälte hier ununterbrochen anhalten, draußen
um die Wette heulen, und während ich eben wieder, heute am
Johannistage, am 24. Juni! tüchtig habe einheizen lassen, ist es
doch inwendig bei mir so lichter, lustiger und sonniger Frühling,
als ob draußen das schönste Wetter wäre! Du kannst
denken, wie mein großes Glück, und das Bewußtsein,
nun endlich nach so langem Harren am Ziele aller Hoffnungen zu sein,
meine ganze Stimmung jetzt beherrschen und mich in ein wahres
Traumleben von Wonne und Glückseligkeit versetzen. Summa
summarum bin ich doch ein rechter Glückspilz, und wenn auch die
Professur wesentlich Folge der Radiolarien, also wesentlich der Lohn
eigener Tat sind, so kann doch der achtundzwanzigjährige
Professor von rechtem Glück sagen, daß alles so gekommen
ist und daß ich gerade hier in Jena, für das ich eine so
besondere Vorliebe habe, den ersten besten Standpunkt gewinne, von
dem aus ich in einem höchst befriedigenden Wirkungskreis
produktiv in das Leben eingreifen kann.
Meine Collegia in diesem Sommer, über Osteologie und
Syndesmologie (Knochen- und Bänderlehre des Menschen)
befriedigen mich sehr; ich habe zwanzig sehr aufmerksame
Zuhörer und arbeite mich dabei gründlich in die Anatomie
hinein, die doch die Basis und der Ausgangspunkt aller
wissenschaftlichen Zoologie bleibt. Fast die ganze übrige Zeit, die
ich nicht mit Korrektur der Radiolarien usw. zubringe - täglich also
mindestens vier bis sechs Stunden -, widme ich dem Studium der
Kantischen Philosophie, die mich in höchstem Grade anzieht und
interessiert. Ich habe mich schon so hineingearbeitet, daß mir der
weitere Fortschritt gar keine Schwierigkeiten macht, und ich mit
wahrem Enthusiasmus diese Goldkörner menschlicher Gedanken in
mich aufnehme. Die reine, naturwissenschaftliche induktiv empirische
Forschungsmethode, die ein Muster für alle wirklich
wissenschaftlichen, das heißt kritischen Untersuchungen ist,
entzückt mich, und ich bin schon jetzt ganz davon überzeugt,
daß ich einen großen Vorteil für meine ganze Bildung
von diesem Studium haben werde.
Ein ganz besonderes Glück ist es, daß ich gerade durch Kuno
Fischer in diese tiefsten Probleme des menschlichen Geisteslebens
hineingeführt werde. Dieser ausgezeichnete
Universitätslehrer, die Zierde Jenas, weiß die schwierigsten
und tiefsten Fragen mit solcher Klarheit und Durchsichtigkeit zu
erläutern, daß ich gar nicht genug mit diesen herrlichen
Vorträgen zufrieden sein kann. Ich höre sein Kolleg, in
welchem er die ganze Kantische Philosophie in diesem Semester
vorträgt, ganz regelmäßig und bin vielleicht von seinen
mehr als hundert Zuhörern der fleißigste Student. Er liest
viermal wöchentlich von vier bis fünf Uhr. Was ich im Kolleg
nicht ganz verstehe, erläutert mir sein ausgezeichnetes Buch
über Kant, zwei starke Bände, in denen er die ganzen Lehren
Kants aufs prächtigste und verständlichste darstellt.
Für den Anfang ist dies Buch jedenfalls dem Studium der Schriften
Kants selbst weit vorzuziehen, da es alle Dunkelheiten des selben
vermeidet, die schwere Sprache in verständliches Deutsch
übersetzt und überhaupt das schwierige Studium so leicht,
verständlich und anziehend als möglich macht. Fürs
erste brauche ich also Kants Schriften selbst gar nicht und werde mich
erst später, wenn ich Fischers Übersetzung ganz in mich
aufgenommen habe, an den Urtext selber machen, Jetzt stehen wir an
der Kritik der praktischen Vernunft (der Tugend- und Rechtslehre),
nachdem wir bis zu Pfingsten uns mit dem Leben und Charakter Kants
und dann mit der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt hatten.
Dies Kolleg ist der größte Genuß dieses Sommers,
Jena, 4.7, 1862
Sechs Wochen noch, liebster, einziger Schatz! und das heißersehnte
Ziel ist erreicht Wir haben den Gipfelpunkt des Lebens erreicht,
schließen das bisherige ab, und beginnen im innigsten
Zusammenleben, das zwischen zwei Menschen denkbar ist, ein neues,
schöneres und besseres Dasein, in welchem alle Mängel und
Schattenseiten der bisherigen Soloexistenz unter der unvertilgbaren Glut
der innigsten Gattenliebe verschwinden und verdorren sollen. In
vierundvierzig Tagen bist Du Frau Professorin, liebstes Herz! Wie das im
Herzen widerklingt! Ich bin schon bald zu gar keiner anderen
Vorstellung mehr recht fähig, so sehr erfüllt diese eine
glückselige Idee mein ganzes Geistesleben. Ich bin zerstreuter und
für die übrige Welt unbrauchbarer als je, und meine
Bekannten behaupten, daß ich eigentlich nur noch in einer
eingebildeten Traumwelt existiere und als Schatten unter ihnen
wandle!...
Rückerts Liebesfrühling tönt mir jetzt Tag und Nacht
durch den Sinn und jetzt würdige ich recht die tiefe Wahrheit
dieses innigsten und schönsten Liebeswortes:
Unter den aus Himmelsschein
In des Lebens Nacht Gesunknen,
Sind die Glücklichen allein,
Die von ew'ger Liebe Trunknen!
Ein Obdach gegen Sturm und Regen
Der Winterzeit
Sucht ich, und fand den Himmelssegen
Der Ewigkeit.
O Wort, wie du bewährt dich hast:
Wer wenig sucht, der findet viel.
Ich suchte eine Wanderrast
Und fand mein Reiseziel.
Ein gastlich Tor nur wünscht' ich offen,
Mich zu empfahn,
Ein liebend Herz ward wider Hoffen
Mir aufgetan!
O Wort, wie du bewährt dich hast:
Wer wenig sucht, der findet viel
Ich wollte sein ihr Wintergast
Und ward ihr Herzgespiel!
Die letzten beiden Strophen sind doch ganz speziell für mich
gedichtet, nicht wahr, liebster Schatz!? Könnte man schöner,
reizender, treffender die ganze Geschichte unseres Liebeslebens
zusammenfassen, als in diesen beiden Strophen? Wenn ich an die ganze
glückselige Winterzeit während des Staatsexamens
zurückdenke, wo ich Dich kennen und lieben lernte, so
könnte ich die reizend unbewußte und darum so innige
Zuneigung, mit der Du Dich in mein Herz hin einstahlst, nicht wahrer und
treffender ausdrücken als in diesen beiden Strophen! Als
Schwester lernte ich Dich lieben und ich war wahrhaft erschrocken, als
dann aus der platonischen Geschwisterliebe der neckische Amor
hervorsprang, der uns am Abend des dritten Mai unauflösbar
aneinanderkettete, und uns den Beginn eines neuen, besseren Lebens
verkündete, von dessen beglückendem Reichtum ich freilich
da mals noch keine Ahnung hatte!
Jena, 18.7. 1862
Vorigen Samstag (12. Juli) wurde ich feierlichst in den Senat
eingeführt, wo mir Kuno Fischer, als Prorektor, eine Standrede
hielt, über die ich (in Gegenwart sämtlicher dreißig
ordentlichen Professoren) etwas schamrot wurde. Sie fing etwa
folgendermaßen an. "Herr Professor, die hohen
Ernährer haben Sie neulich zum Professor extr. ernannt, und zwar
außerordentlich kurze Zeit, ein Jahr, nach Ihrer Habilitation. Diese
rasche Beförderung hat einen doppelten Grund; erstens die
schönen Erfolge Ihrer akademischen Lehrtätigkeit, zweitens
aber und besonders die Produktion eines großen Werkes, dessen
Erscheinen von ungewöhnlichem Erfolge mit Recht begleitet
werden wird. Schon der Laie kann aus dessen Umfang und Anlage auf
einen bedeutenden Wert urteilen; nach dem Urteile der
Sachverständigen haben Sie sich damit bereits jetzt eine feste und
bleibende Stellung auf der Höhe Ihrer Wissenschaft gesichert.
Solchen Verdiensten mußte die Belohnung auf dem Fuße
folgen, und ich freue mich von Herzen, daß dies so bald geschehen
ist usw. usw." In dieser Weise ging es etwa eine Viertelstunde fort,
während welcher ich wie auf Kohlen stand. Dann wurde ich
feierlichst in Gegenwart des Senats vereidigt.
Jena, 25.7.1862
Das ist nun schon der vorletzte Brief, süßer, bester Schatz!
den ich aus meinen einsamen vier Wänden an Dich sende!
Außer diesem nun noch ein einziger Papiergruß, und unsere
Korrespondenz ruht auf lange Zeit! Dann wird der Gedanke nicht mehr
den häßlichen langen Umweg über das Papier
nötig haben, um in Dein Herz zu gelangen, sondern auf dem
süßen Wege der Lippen und Umarmung zu Dir fliegen! Wie
glückselig mich dieser Gedanke macht, wie er über all mein
Denken und Tun jetzt schon den lautersten Sonnenschein der reinsten
Seligkeit strahlt, brauche ich Dir nicht erst zu sagen, Du liebstes, bestes
Mädchen! Die Wonne, die mir aus jeder Zeile Deines so besonders
lieben letzten Briefes entgegenjubelte, ist nur das Spiegelbild der
glückseligen Zufriedenheit und zukunftssicheren Hoffnungsfreude,
die auch mein gan zes Dasein durchdringt und mich schon fast an nichts
anderes mehr denken läßt, als an die nahende
Vereinigung.
Ich denke den 7., spätestens den 8. August hier abzureisen und
abends in Berlin einzutreffen. Vielleicht bleibe ich einen Tag in
Merseburg, um noch einmal als Junggeselle die Orte zu schauen, auf
denen ich den größten Teil meiner ersten Lebenshälfte
verlebt habe. Diese schließt ja nun ab und es beginnt die zweite,
schönere Hälfte, wo ich erst recht zu leben anfangen
werde.
Jena, 1.8, 1862
Glück auf! Also dies soll wirklich der letzte Brief sein, mein
liebstes, bestes, einziges Mädchen, den ich auf lange, lange Zeit an
Dich schreibe, und jedenfalls der letzte an Anna Sethe! Wie das klingt!!
Da muß ich noch einmal das feine blaue Papier hervorholen, das in
der langen, langen Trennungszeit, während meiner italienischen
Wanderschaft, unser Briefbote war, und in dieser freudvollen und
leidvollen, schmerzensreichen und segensreichen Trennungszeit unsere
Gedankenbrücke bildete, Ich habe in diesen Tagen so viel, viel an
diese Zeit zurückdenken müssen, und besonders an den
glückseligen Morgen des ersten Mai 1860, wo ich nach
fünfvierteljähriger Abwesenheit wieder in das Elternhaus
eintrat und das liebste Beste, was die Welt für mich hat, ein ganzer
kleiner blauer Himmel, mir in die Arme sank. Wie wonnig war das
Entzücken dieses Moments, liebster Schatz, und doch wird es
verbleichen vor dem Entzücken des jetzigen Wiedersehens, wo ich
zu Dir komme, um Dich nie wieder von meiner Seite zu lassen ...
Montag, den 18. August 1862, Hochzeit in Berlin, Hafenplatz Nr.4.
Um sechs Uhr Abreise des jungen Ehepaares vom Anhalter Bahnhof nach
Dresden, Donnerstag Regensburg, Samstag Passau.
Das Glück der folgenden Zeit offenbart sich in den folgenden
Briefen an die Eltern.
München, Dienstag, 26.8.1862
Euch gewiß unerwartet schreibe ich Euch heute aus München,
wo wir gestern abend (Montag) an gekommen sind. Wir blieben Sonntag
noch in dem außerordentlich schönen Passau und wollten
gestern früh von dort nach Linz (mit Dampfschiff) und dann in das
Salzkammergut gehen. Anhaltendes, dreitägiges Regenwetter, das
auch heute noch fortdauert, bestimmte uns aber, statt dessen gestern
mit der Eisenbahn über Straubing, Geiselhöring, Freising
nach München zu fahren, wo wir im Hotel Leinfelder trefflich
logiert sind. Wir warten nun hier ab, bis gut Wetter wird und gehen
dann sogleich ins Gebirge nach Salzburg, Ischl, Aussee usw.
Trotz des schlechten Regenwetters, das uns von Regensburg an begleitet,
sind wir doch die ganze Zeit über höchst vergnügt und
glückselig gewesen und haben die uns gebotenen Natur- und
Kunstgenüsse in reichstem Maße genossen. Ihr könnt
Euch kaum vor stellen, liebste Eltern, wie glückselig mich meine
liebe kleine Frau macht, die ich mit jedem Tag lieber gewinne, obwohl
ich das fast nicht mehr für möglich hielt. Das lebhafteste
Interesse für Natur und Kunst fesselt uns beide dabei immer noch
inniger aneinander, als es schon durch die reine Neigung allein geschah.
Ich kann mir nicht denken, daß jemals ein junges Ehepaar eine
vergnügtere Hochzeitsreise gemacht hat. Dazu kommt, daß ich
mich, nachdem die drei letzten Korrekturbogen der Radiolarien in
Dresden abgeschüttelt sind, wie neugeboren fühle und die
ganzen drei Jahre angestrengter Arbeit, die das Buch gekostet hat, nun
auf einmal abgeschlossen hinter mir liegen. Kurz, ich bin ebenso, wie
meine herzige Anna, so vergnügt, übermütig und
glückselig, als es in diesem Leben nur möglich ist, und
beneide keinen Gott um seinen Olymp!
Salzburg, 6.9. 1862
Ihr werdet gewiß schon lange wieder auf Nachricht von uns
gewartet haben. Aber trotz der besten Vorsätze zum Schreiben
sind wir doch bis jetzt noch nicht so zur Ruhe gekommen, daß wir
hätten schreiben können. Ein schöner Naturgenuß
und eine herrliche Reisefreude jagte die andere, so daß wir nicht
einmal dazu kommen konnten, unser Tagebuch in der beabsichtigten
ausführlichen Weise zu führen. Die ganze Zeit hindurch ist es
uns außerordentlich gut gegangen und wir haben wirklich wieder
täglich in jeder Beziehung unverschämtes Glück
gehabt. Unseren letzten Brief erhieltet Ihr aus München, wo wir
nur noch einen Tag blieben, da das Wetter wieder sehr schön
wurde und uns ins Gebirge lockte. Am 27. August fuhren wir daher mit
der Eisenbahn von München nach Salzburg (was pro persona nur
einen Taler zwanzig Silbergroschen kostete) und machten von da eine
herrliche, überaus gelungene Rundreise durch das Salzkammergut,
von der wir vorgestern hierher zurückkehrten. Das Wetter war
reizend und die ganze Rundreise so überaus schön und
glücklich, als wir nur wünschen konnten.
Mit unserer Gesundheit steht es ganz vortreiflich. Anna ist ebenso
munter, rüstig und glückselig, als ich selbst. Anna klettert
ganz vortrefflich, besser als ich je erwartet habe. Wir haben
durchschnittlich täglich acht bis zehn Stunden geklettert und
marschiert und es ist uns beiden vortreiflich bekommen. Hier in
Salzburg haben wir wieder rechtes Glück gehabt. Wir wohnen ganz
allein in einem reizenden Gartenhaus bei der treiflichen alten Wirtin, bei
der ich auch früher gewohnt habe, und die uns wie eine Mutter
pflegt, im "Schwan". Dazu kamen wir vorgestern, als wir von
Ischl zurückkehrten, ganz unvermutet in das siebente große
Deutsche Künstlerfest hinein, das in diesen Tagen hier abgehalten
wird. Gestern war der Hauptfesttag, der zu einem der schönsten
und großartigsten Volksfeste Veranlassung gab, die ich jemals
erlebt habe. Das ganze Fest wurde im Freien, auf dem Mönchsberg,
in der herrlichsten Umgebung, abgehalten und war wirklich reizend
schön.
Euer treuer, glückseliger Ernst.
Innsbruck, 20 9. 1862
Eigentlich sollte dieser Brief schon von Meran aus, vor acht Tagen, an
Euch geschrieben und ab geschickt werden. Es gab aber in den drei
Tagen in Meran so viel zu besehen und zu besorgen, daß ich leider
nicht dazu kam, und in den folgenden Tagen der Fußwanderung,
die erst heute zu Ende gegangen ist, war es vollends unmöglich,
einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu finden.
Wir haben hier in Tirol wieder vierzehn glückliche
genußreiche Tage verlebt, obwohl uns das Wetter nicht so, wie in
Salzburg, begünstigte. Ich kann Euch das Tagebuch erst
später nachschicken und gebe Euch heute nur eine ganz kurze
Skizze unserer Wanderung in den letzten vierzehn Tagen.
Samstag, den 7, September, früh von Salzburg nach Reichenhall,
um nach Berchtesgaden, Watzmann Ramsau usw, zu gehen; da es aber
regnete, fuhren wir am 8. per Eisenbahn (reizend!) nach Innsbruck, Am
9. dort geblieben, sehr nett bei meinem Freund Schattern, der schon
zwei Kinder hat. Am 10. September bei schönem Wetter in das
Stubaier Tal gewandert, um über die Stubaier Gletscher ins Oetztal
und dann über den Oetztaler Ferner nach Meran zu gehen. Da aber
ein furchtbares Wetter, das am 6. September ganz Tirol überzogen
und verheert, auch alle Brücken und Wege in den engen
Schluchten zerstört und die Ferner völlig ungangbar gemacht
hatte, so mußten wir leider umkehren und fuhren am 11.
September über den Brenner bei schönem Wetter nach
Sterzing. Von da am 12. bei Regen über den Jaufen nach Meran,
sehr beschwerlich, da das Unwetter die Brücken im Passeyer Tal
weggerissen und ganze Bergstücke ins Tal geworfen hatte, so
daß wir auf Umwegen über die Berghänge klettern
mußten. Vom 13. bis 15. in Meran, wo wir den 14. sehr nett auf
Schloß Lebenberg feierten. Anna war sehr glücklich, ihre
intime Freundin Anna Funk wiederzusehen. Am 16. fuhren wir mit
Stellwagen von Meran nach Prad, am Fuße des Wormser Joches.
Mittwoch, den 17. September, war der Glanzpunkt der ganzen Reise,
indem plötzlich ein wunderschöner Tag in das
veränderliche Mittelwetter einfiel, bei dessen Glanze ich Anna auf
das Wormser Joch, 9000 Fuß hoch, führte. Sie war ganz
entzückt und selig, ich nicht minder, es ihr zeigen zu können.
Diese überaus herrliche Tour, mitten durch die reichste,
grandioseste Gletscherwelt, entschädigte uns reichlich für
das Mißlingen der Fernerwanderung. Wir übernachteten dort
vom 17. zum 18. auf sardinischem Boden (S. Maria) in 7900 Fuß
Höhe bei Kälte zum Gefrieren. Ich mußte für die
ganze Gesellschaft (noch drei Erlanger Studenten) den Dolmetscher
machen, da ich der einzige war, der Italienisch sprach und die
Unterhaltung mit den Grenzern führen konnte. Anna
amüsierte sich sehr.
Donnerstag, 18. September, stiegen wir durch das schweizerische
Münstertal herunter nach Mais und von da nach St. Valentin auf
der Heide, nahe der Etschquelle.
Am Freitag, 19. September, zwölfstündiger Marsch von
Valentin nach Landeck, durch die Finstermünz.
Heute, 20. September, an Karls Geburtstag, fuhren wir von Landeck mit
Stellwagen hierher zurück, von wo wir morgen nach
München fahren.
Anna sowohl als ich sind ganz frisch und munter und glückselig
über die herrliche Reise. Anna ist so frisch und kräftig, wie
ich sie noch nicht gekannt habe und die forcierten Märsche sind
ihr ausgezeichnet bekommen. Etwa sieben- bis achtmal ist sie zehn bis
zwölf Stunden täglich marschiert, zum Teil auf sehr
anstrengenden und beschwerlichen Wegen. Drei Erlanger Studenten hat
sie vollständig totgelaufen!!! Kurz, wir sind trotz des
mäßigen Wetters höchst glücklich
Jena, 30.9.1862:
Seit vorgestern abend sind wir nun in unserem lieben Jena
eingerückt, wo es uns beiden ausnehmend gefällt.
Der Beschluß unserer Reise mit München war noch sehr
reizend. Nur wurde leider das letzte Ende dadurch etwas betrübt,
daß Anna sich am Donnerstag, 25. September, einem sehr kalten
und häßlichen Regentag in München, etwas
erkältete, so daß ich es für das beste hielt, baldigst
München zu verlassen, damit nicht das tückische
Münchner Klima, welches fast bei jedem Fremden bei
mehrtägigem Aufenthalte einen Tribut von Katarrh fordert, uns
noch schlimmere Streiche spiele. So fuhren wir denn Sonnabend abend
um sechs Uhr von München ab, und in vierundzwanzig Stunden
(mit etwa vier Stunden Aufenthalt in Bamberg, Lichtenfels und
Eisenach) direkt hierher. Da wir nun die Sachen noch nicht haben,
logieren wir vorläufig in meiner Junggesellenwirtschaft in der
Ziegelei, wo wir uns einrichten, so gut es geht. Anna schläft in
meinem Bett, ich auf dem Sofa. Annas Münchener Erkältung
ist größtenteils vorüber und in den gewöhnlichen
Husten und Schnupfen ausgelaufen. Sie ist sonst dabei sehr munter und
freut sich lebhaft über das reizende Jena, welches bei dem
schönen Herbstwetter sich prächtig präsentiert und
selbst nach den Alpen noch sehen lassen kann.
Jena, 5.11.1862
Euer letzter lieber Brief hat sich mit unserem letzten gekreuzt und Ihr
werdet die gewünschten Nachrichten über unser
Wohlergehen zur selben Zeit, wie wir die Eurigen, erhalten haben.
Seitdem hat nun das Semesterleben wieder begonnen, in dem ich
diesmal sehr viel zu tun habe. Ich lese drei Privatcollegia und ein
Publicum über Darwins Theorie. In der Zoologie habe ich diesmal
eine außerordentlich große Anzahl von Zuhörern,
nämlich sechsundzwanzig, dagegen in der Osteologie nur sechs und
in der Histologie (mikroskopischen Anatomie) nur vier. Diese Collegia
machen mir zusammen natürlich ziemlich viel zu schaffen, so
daß ich nur sehr wenig freie Zeit habe. Auch für die
Hauseinrichtung hat es noch sehr viel zu tun gegeben. Im übrigen
bin ich sehr wohl und munter und habe mich mit meiner allerliebsten
Hausfrau sehr nett eingelebt. Sie wird Euch selbst von unserer
Tageseinteilung erzählen.
Wegen meiner Radiolarien habe ich zwei höchst anerkennende
und lobensvolle Briefe von Max Schultze und Professor Leydig, den
kompetentesten deutschen Richtern, erhalten, ebenso einen aus London,
von Professor Huxley, einem der ausgezeichnetsten englischen Zoologen.
Dieser hat mir auch Erde geschickt, die ganz aus fossilen
Radiolarienpanzern besteht, die ich jetzt untersuche.
Wir freuen uns beide sehr auf Weihnachten, wo wir Euch recht sehr viel
von unserer Reise und häuslichen Einrichtung zu erzählen
haben. Es ist hier wirklich allerliebst, unser Quartier ganz reizend. Anna
ist so frisch und munter wie ich selbst, und sehr glücklich.
Jena, 20.2.1863
Eure lieben Briefe und Geschenke haben mich an meinem Geburtstage
sehr erfreut, und ich hätte Euch schon vor ein paar Tagen
dafür gedankt, wenn es nicht in dieser Woche bei uns besonders
unruhig zugegangen wäre, da wir fast jeden Tag in Gesellschaft
waren. Wie glücklich wir beide mein dreißigstes Lebensjahr
angetreten haben, könnt Ihr Euch kaum denken. Sind ja doch nun
alle die Wünsche, welche mich und meine Anna jahrelang
bewegten, in fast idealer Weise erfüllt worden. Ich habe wirklich
jetzt nichts weiter zu wünschen, als daß mir das gegen
wärtige Glück noch recht lange, lange Zeit in derselben Weise
erhalten bleiben möge. Unser Nestchen haben wir so reizend
eingerichtet, daß wir in ganz Jena mit niemandem tauschen
möchten. Meine akademische Lehrtätigkeit sagt mir so zu,
wie ich es früher kaum erwartet habe. Und dazu habe ich nun ein
so liebes, kleines Frauchen, daß ich an den einsamen
Junggesellenstand gar nicht mehr zurückdenken mag. Das
Köstlichste aber, das wir hier täglich mit neuer Lust
genießen, ist die vollständigste Freiheit und
Unabhängigkeit, so daß wir von den Schranken, die den
meisten Menschen auferlegt sind, nichts wissen.
Jena, 25.4. 1863
Wir erwarten Euch nun am Ende der Pfingstwoche und freuen uns ganz
außerordentlich auf Euer Herkommen. Jedesmal, wenn wir die
reizende Lage unserer Wohnung, den Blick aus den Fenstern auf die
Berge, oder irgendeinen schönen Aussichtspunkt bewundern,
sagen wir dabei: "Was werden sich die lieben Alten darüber
freuen!" Ich bin überzeugt, daß die herrliche Natur
Euch sehr zusagen wird und ebenso unsere allerliebste Einrichtung.
Unsere schönen sechs Wochen Osterferien sind nun heute zu Ende.
Wir haben das herrliche Wetter, das fast den ganzen März und die
erste Hälfte April hindurch dauerte, zu vielen schönen
Exkursionen benutzt, zum Teil mit Professor Schleicher und Frau
zusammen, sehr netten Leuten, die eigentlich unseren intimsten Umgang
bilden. Er ist Linguist von europäischem Rufe, ausgezeichnet
gescheit, ideenreich und liebenswürdig, dabei großer
Botaniker, Natur- und Gartenfreund. Ebenso ist auch die sehr gescheite
und nette Frau Annas intimste Freundin. Unsere fundamentalen
Überzeugungen sind ganz dieselben. Vielleicht werden wir nun
auch mit Gegenbaurs näheren Umgang bekommen, die heute von
ihrer schönen Hochzeitsreise zurückkommen. Sie waren
sechs Wochen in Montreux am Genfer See.
Mein Hauptstudium bildet jetzt die Geologie und Paläontologie
(Lehre von den versteinerten Tieren und Pflanzen der Vorwelt),
über welch letztere ich auch in diesem Sommer ein Kolleg lesen
werde. Das Verhältnis der früheren Organismenwelt zur
jetzigen und der allmähliche Fortschritt in ihrer Entwicklung ist
höchst interessant.
Jena, 20.11.1863
Lieber Vater!
Sehr gern wäre ich morgen bei Euch in Landsberg und
brächte Dir selbst meinen Geburtstagsglückwunsch. Da mich
aber für den 22. November nun wohl immer die Berufspflichten
am Reisen hindern werden, so kann ich Dir meine besten
Glückwünsche auch diesmal leider nur schriftlich senden.
Mögest Du, liebster Vater, noch manches glückliche Jahr und
so wohlbehalten, geistesfrisch und jugendkräftig erhalten bleiben,
wie Du morgen Dein vierundachzigstes Jahr antrittst. Komm nur alle
Sommer hübsch lange nach Jena, so wird Deine herrliche
Gesundheit sich gewiß immer frisch halten. Wir freuen uns schon
jetzt darauf, daß Ihr uns im nächsten Sommer wieder
besucht und die herrliche Natur hier recht mit uns genießt. Auch
jetzt im Spätherbst ist die Gegend noch ganz wunderschön.
Gestern nachmittag genossen wir hier wieder im vollsten Maße, als
wir beim herrlichsten Wetter drei Stunden im Ammerbacher Tal
herumstiegen und einen hohen Berg mit herrlicher Aussicht
erkletterten, auf dem wir noch nie gewesen waren. Es war ein
wundervoller, klarer Sonnentag, wie im Mai, in der Sonne sechzehn Grad
Wärme, und das am 19. November! Der Sonnenuntergang malte
die nackten Kalkberge mit dem prachtvollsten Gold- rot und mit
violettem Purpur ganz wunderschön an.
Wir haben uns nun in den vier Wochen unseres Hierseins ganz in die
alte und höchst angenehme Winterverfassung wieder hineingelebt;
nur daß wir diesen Winter ganz still und zurückgezogen
für uns leben, während wir vorigen Winter sehr viel in
Gesellschaft waren. Wir stehen um sieben Uhr auf. Von acht bis neun
Uhr lese ich (viermal wöchentlich) Osteologie (vor elf
Zuhörern). Dann mikroskopiere ich meistens bis zwölf Uhr.
Von zwölf bis ein Uhr lese ich (fünfmal wöchentlich)
mein Hauptkolleg, Zoologie, vor sechsundzwanzig Zuhörern, von
denen zwanzig ganz regelmäßig kommen und meist auch sehr
genau Heft führen, so daß ich sehr zufrieden sein kann. Um
ein Uhr frühstücken wir Tee und Butterbrot mit Eiern oder
kaltem Fleisch. Dann arbeite ich bis fünf Uhr. Von fünf bis
sechs Uhr habe ich dreimal wöchentlich Turnen. Um sechs Uhr
(öfter auch schon um fünf Uhr) essen wir zu Mittag. Dann
gehe ich eine Stunde auf das Literarische Museum, wo ich täglich
National-, Volks-, Kreuz-, Weser- und Deutsche Allgemeine Zeitung und
verschiedene andere Zeitschriften lese. Um sieben Uhr trinken wir Tee
oder Kaffee (ohne jede Zutat) und dann arbeite ich noch mindestens bis
zwölf Uhr, während Anna liest oder arbeitet. Wir wohnen
diesen Winter ganz zusammen, da ich meinen großen Arbeitstisch
nebst dem täglichen Bücherfutter an die Stelle von Annas
kleinem Tisch in das schöne große, warme Eckzimmer
gerückt habe. In diesem ist der Teppich gelegt; die Sonne heizt
sehr mächtig (morgens und mittags) und ein neuer Berliner Ofen
unterstützt sie kräftig, so daß wir jetzt dieses
Eckzimmer recht behaglich haben. Mein Zimmer wird gar nicht geheizt,
so daß wir an Heizung und Beleuchtung bedeutend sparen.
Jena, 23.12.1863
Dieser Brief soll Euch den herzlichsten Gruß zum Heiligen Abend
bringen, da wir selbst leider morgen nicht bei Euch sein können. Es
wird Euch wohl etwas einsam sein, diesmal Weihnachten ganz ohne
Besuch von den Kindern zu feiern! Wie gern kämen wir da auf ein
paar Stunden herübergeflogen. Indes hoffe ich, daß Euch der
Gedanke an das glückliche, gesunde und frohe Leben Eurer Kinder
die Einsamkeit erheitern wird!
Jena, 28.1.1864
Soeben erhielten wir Euern lieben, letzten Brief nebst den schönen
Apfelsinen, die meiner lieben kleinen Frau eine rechte Erquickung sein
werden. Vorgestern erhielten wir Euern vorletzten Brief mit den
fünfzig Talern Zuschuß für das erste Quartal. Habt
für alle diese Liebe den herzlichsten Dank. Ich will Euch nun
sogleich antworten, damit Ihr Euch nicht mehr wegen des Krankseins
ängstigt. Was mich betrifft, so bin ich schon seit fünf bis
sechs Tagen wieder ganz gesund, und seit vorgestern selbst ohne
Schnupfen. Die Collegia habe ich doch die ganze Zeit glücklich
durchgesetzt, ohne aussetzen zu müssen. Mit Anna geht es auch
besser. Die Pleuritis ist vorübergegangen, ohne eine
Lungenentzündung hervorzurufen, was anfangs allerdings zu
befürchten war. Die Lunge ist glücklicherweise ganz frei
geblieben. Gestern mittag ist sie zum ersten Male wieder ein
Stündchen außer Bett gewesen. Doch fühlt sie sich noch
immer sehr angegriffen, was allerdings nach einem wöchentlichen
Fieber, nach dem sie sechs Nächte fast gar nicht geschlafen und
sechs Tage nichts gegessen hat, nicht sehr zu verwundem ist. Hoffentlich
ist nun damit die Affäre beendet. Freilich wird sie sich noch
geraume Zeit sehr schonen müssen und noch längere Zeit das
Zimmer hüten. Das jetzige milde Wetter wird ihr sehr zustatten
kommen.
Jena, 8.2.1864
Heute können wir Euch endlich wieder ganz gute Nachricht
melden. Anna ist seit drei Tagen wieder außer Bett und heute sogar
schon von elf bis acht Uhr wieder aufgewesen. Es liegen aber acht
schlimme Tage hinter uns, in denen mir ein Rückfall der Pleuritis
recht viel Sorge und Angst gemacht hat. Wie unser letzter Brief Euch
meldete, war eigentlich die Krankheit sehr rasch vorübergegangen
und Anna bereits wieder ein paar Tage aufgewesen. Sie muß sich
aber doch irgendwie dabei erkältet haben. Wie? weiß ich
freilich nicht, da alle Vorsichtsmaßregeln an gewandt wurden und
sie nicht aus der Stube kam. Es kam aber doch ein ziemlich
unangenehmer Rückfall, schon am Tage nach Absendung des
letzten Briefes; das Fieber, und damit auch Mangel an Schlaf und
Appetit, stellte sich wieder ein und brachte die arme kleine Frau in den
letzten acht Tagen noch recht herunter, da die Kräfte ohnehin
schon sehr abgenommen hatten. Durch sorgfältiges
Betthüten und Gerhardts sorgsame Behandlung ist nun aber auch
dieses Recidiv glücklich überwunden und hoffentlich wird
diesem kein zweites nachfolgen. Sie wird sich nun aber noch
längere Zeit in acht nehmen müssen und noch lange nicht
aus der Stube gehen dürfen. Nun sich auch Appetit und Schlaf
wieder einstellen, wird sie sich schon bald wieder erholen.
ANNA SETHE AN DIE ELTERN
Jena, 8.2.1864
Heute kann ich selbst wieder ein wenig mit Euch plaudern, liebe Eltern,
worüber Ihr Euch gewiß mit uns freuen werdet. Mir ist es
recht leid, daß ich Euch Sorge gemacht habe; doch nun ist sie
vorüber und ich will mich recht schonen, daß kein Grund
wieder dazu vorhanden ist. Deine Apfelsinen haben mich sehr erquickt,
liebe Mutter, und ich danke Dir herzlich dafür, wie für alle
Eure Liebe und Teilnahme. Wie treu mich der liebe Ernst gepflegt hat,
brauche ich wohl kaum zu sagen, und nächst ihm danke ich dem
sorgsamen Gerhardt meine Genesung. Das lange Bettliegen hatte meine
Kräfte doch sehr mitgenommen, aber bei den Fortschritten, die ich
seit ein paar Tagen mache, werden sie nicht lange auf sich warten
lassen. Heute darf ich schon von elf bis acht Uhr auf sein und
infolgedessen verspreche ich mir auch eine gute Nacht, an denen bisher
noch kein Überfluß war. Hoffentlich ist der liebe Alte seine
Erkältung auch wieder los und kann sich beim Spazierengehen
über die hübsche Schneelandschaft freuen, wie ich es vom
Fenster aus tue.
Grüße Helene recht herzlich, liebe Mutter, über deren
glückliche Entbindung ich mich sehr gefreut habe. Ebenso Heinrich
und den Tanten viele Grüße von Eurer dankbaren Tochter
Anna.
TODESANZEIGE
Am l6. Februar nachmittags 3 1/2 Uhr ist meine Frau Anna, geborene
Sethe, nach kurzem Krankenlager an einer Unterleibsentzündung
sanft entschlafen, was ich hiermit Freunden und Verwandten statt jeder
besonderen Meldung anzeige.
Jena, den 17. Februar 1864.
Professor Dr. Haeckel.
DER VATER KARL HAECKEL AN DIE FRAU
OBERPRASIDENTIN VON BASSEWITZ IN POTSDAM
17, 2.1864
Verehrteste Frau Oberpräsidentin!
Es hat mich schon längst gedrängt, mich Ihnen auf
irgendeine Art mitzuteilen. Leider ist ein großer Unglücksfall
in meiner Familie die Veranlassung, daß ich mein Schweigen
breche. Ich habe gestern meine Schwiegertochter in Jena verloren. Sie
ist nach wiederholten Anfällen einer Brustfellentzündung
nach einer äußerst glücklichen, kaum 1
1/2jährigen Ehe unterlegen. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben,
welchen ungeheuren Eindruck dieser Todesfall auf mich macht. Ich sehe
mich auf einmal auf einige vierzig Jahre zurückversetzt, wo mich
Armen dasselbe Unglück traf. Alle die Leiden, die ich in den ersten
Jahren meines Verlustes durchzumachen hatte, stehen aufs lebhafteste
vor mir, denn nun ist an meinem Sohn die Reihe, sie ebenfalls
durchzumachen. In Ihrem Hause, in Ihrer Familie habe ich diese
Trauerzeit durchlebt. Wohl habe ich sie überstanden, und Gott hat
mich später wieder mit einer trefflichen Frau beglückt,
welche Sie, teuerste Freundin, mir zugeführt haben. Alles Gute und
Schöne, was in meinem Innersten in dieser Zeit der Leiden keimte,
hat meine teure Lotte durch ihren sittlich-religiösen Geist, das
Vorbild meines Lebens, in mir entwickelt, und so ist jener Verlust mit
seinem ungeheuren Schmerz zu meinem Segen ausgeschlagen.
Aber was wird nun mein teurer Ernst, dessen Temperament dem
meinigen sehr ähnlich ist, durchzumachen haben! Wir haben die
verstorbene Schwiegertochter ungemein lieb gehabt, ihr ganzes Wesen
war voller Offenheit und Wahrheit und Liebe gegen uns, und ich kann
mir noch gar nicht meinen Ernst ohne sie denken. Ich reise morgen nach
Jena und denke mehrere Wochen dort zu bleiben, um meinem Ernst
innerlich durchzuhelfen.
DER VATER AN FRAU VON BASSEWITZ 11.3.1864
Es drängt mich recht, mich Ihnen mitzuteilen, da meine jetzigen
Zustände so viel ähnliches mit denen nach Emiliens Tod vor
46 Jahren haben, an welchen Sie mir eine so teilnehmende Freundin
waren. Gerade dieselbe furchtbare Verlassenheit von der Welt, die mich
damals so schwer drückte, lastet jetzt auf meinem Ernst. Er hat
dieses Gefühl am stärksten in der ersten Nacht nach unserer
Trennung in Apolda, in Frankfurt a. M. gehabt, wo er gar nicht schlafen
konnte und dessen Furchtbarkeit er gar nicht genug beschreiben kann.
Aber auch wir sehen uns immer nach der geliebten Tochter um, die nun
auf einmal aus dieser Zeitlichkeit verschwunden ist und die wir aus
allen Kräften zurückwünschen. Das Ereignis ist darum
so außerordentlich tragisch, weil nach den Versicherungen aller
dortigen Freunde dieses junge Paar das höchste irdische
Glück genossen hat, was man nur haben kann. Die Verstorbene hat
immer geäußert, sie sei vollkommen glücklich, es fehle
ihr nichts, und so sind sie wie ein paar unschuldige Kinder
nebeneinander hergegangen und alle Welt hat sich über sie
gefreut, und so war auch die Trauer in dieser kleinen Stadt und die
Teilnahme an diesem Ereignis fast allgemein.
Ich kam eine Stunde vor dem Begräbnis und konnte noch daran
teilnehmen. Meinem Sohn, der krank zu Bett lag und erst nach einigen
Tagen wieder aufstehen konnte, und meiner Frau war es nicht
mög lich; es war aber ein großer Trost für ihn, daß
wir bei ihm waren, und so werden wir auch Anfang Mai nach Jena gehen
und dort den Sommer zubringen. Denn wenn er um diese Zeit von Nizza
zurückkommt und seine Anna nicht findet, dann wird der Schmerz
erst recht losbrechen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, und Sie
haben mich damals in meinem Schmerz gesehen.
Die Hauptfrage entsteht nun. wie dieses Ereignis bei meinem Sohn auf
die Dauer wirken wird? Das müssen wir abwarten, diesen inneren
Prozeß muß er für sich selbst durchmachen, und wir
können ihm nur hin und wieder zur Hand gehen und ihn
aufklären helfen. Ich wünsche daher sehr, noch so lange zu
leben, bis er wieder das ruhige Gleis gefunden haben wird,
worüber die nächsten Jahre wohl hingehen werden. Soll ich
nach mir urteilen, so wird dieser große Verlust eine innere
dauernde Wirkung bei ihm hervorbringen. Es wird ihm vielleicht
schwerer werden als mir, da er an seinen naturwissenschaftlichen
Studien ein großes Gegengewicht finden wird. Da er aber viel
Gemüt hat, so wird sich auch das religiöse Element in ihm
stärken. Sonderbar! Daß nach den Erfahrungen jene dieses
Element oft zurückdrängen, da doch die innere Erkenntnis
der Naturgesetze eher auf die göttliche Weisheit und Ordnung
zurückweisen muß! -
ERNST HAECKEL AN SEINE ELTERN
Villafranca bei Nizza, 21.3.1864
Die letzten acht Tage ist es mir leidlich gegangen. Das Mittelmeer, das ich
so sehr liebe, hat einen Teil der heilsamen Wirkung, die ich hoffte,
ausgeübt; ich bin sehr viel ruhiger geworden und fange an, mich in
mein unabänderliches Elend zu finden, wenngleich ich noch nicht
weiß, wie ich es auf die Dauer tragen soll. Hier in Nizza und
Villafranca, sowie auch schon vorher in Genua und an der Riviera
ponente, habe ich sehr viel Anknüpfungspunkte an das Jahr 1856
gefunden, wo ich mit Müller und Kölliker das erstemal hier
war. Damals kannte ich meine unvergleichliche Anna noch nicht; ich
wußte noch nicht, was leben und lieben heißt - und nun
kommt mir diese ganze glückselige Zwischenzeit, wo ich gelebt und
geliebt habe, nur wie ein kurzer, schöner Traum vor, und ich
versuche mich in die Zeit vor 1858 zurückzuversetzen, wo ich noch
in der Wissenschaft alles Glück zu finden vermeinte.
Deine Lebensanschauungen teile ich im wesentlichen, lieber Vater, nur
daß ich das menschliche Leben und die Menschen selbst noch weit
geringer schätze als Du, und mein entsetzliches Schicksal hat mich
in dieser Verachtung des Lebens nur noch bestärkt. Du sagst sehr
richtig, daß bei nüchterner Betrachtung die meisten
Menschen wie Narren in der Welt umherzulaufen und dem eitelsten
Tand nachzujagen scheinen. Während wir aber in der
Prämisse, in der Wertschätzung oder vielmehr Verachtung
des menschlichen Lebens in seiner ganzen Nichtigkeit
übereinstimmen, ziehen wir daraus entgegengesetzte
Konsequenzen; Du folgerst daraus, daß der Mensch zu einer
höheren göttlichen Entwicklung bestimmt sei, während
ich daraus den Schluß ziehe, daß bei einem so verfehlten und
widerspruchsvollen Geschöpf wie dem Menschen, eine
persönliche Fortentwicklung nach dem Tode nicht wahrscheinlich
ist, wohl aber eine Fortentwicklung des Geschlechts im großen und
ganzen, wie das schon aus der Darwinschen Theorie zu folgern ist. Das
Indviduum mit seiner kurzen persönlichen Existenz er scheint mir
aber nur als ein vorübergehendes Glied in dieser großen
Kette, als ein rasch vergängliches Nebelbild, aus dessen
vorübergehender Tätigkeit im besten Falle einzelne
Individuen einer nachfolgenden Generation Kraft und Nutzen für
weitere Fortschritte ziehen, Die persönliche individuelle Existenz
erscheint mir so entsetzlich elend, kleinlich und wertlos, daß ich sie
für nichts, als für die Vernichtung bestimmt halte. Mephisto
sagt sehr richtig.
"Denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde gehtl"
Das mag vielen als eine schreckliche Ansicht erschei nen; allein eine
nüchterne Betrachtung der ganzen Schwäche und
Wertlosigkeit des menschlichen Lebens, der Eitelkeit aller menschlichen
Bestrebungen, scheint mir mit Notwendigkeit zu diesen Folgerungen
hinzu führen.
Villafranca, 5. 4. 1864
Ich kann Euch heute zu Eurer Beruhigung bessere Nachricht von mir
geben. Die letzte Woche ist wesentlich leichter und ruhiger verflossen als
die vorhergehenden, und ich lerne allmählich das
Unerträgliche ertragen und mich in das Unabänderliche
meiner jammervollen Lage finden. Während der Naturgenuß,
die schönen Formen und Farben des Südens doch nicht die
beruhigende und tröstende Wirkung gehabt haben, die ich mir
davon versprach, da mir bei allem meine Anna zu sehr fehlt, und ein
eigentlicher Genuß ohne sie für mich überhaupt nicht
mehr existiert, so hat dagegen die ernste wissenschaftliche Arbeit
wohltätiger und anziehender auf mich gewirkt, als ich gedacht
hatte.
Ich bin seit acht Tagen angestrengt mit feinen mikroskopischen
Untersuchungen beschäftigt gewesen, und dank dem großen
Reichtum des hiesigen Hafens an schönen und seltenen Seetieren
hat diese mir früher so liebgewordene Beschäftigung auch
jetzt eine Anziehungskraft auf mich ausgeübt, die ich nicht mehr
davon erwartet hatte. Das schlechte Wetter, das bis vor acht Tagen
meine Arbeitspläne vereitelte, ist seitdem einem sehr
schönen und beständigen Frühlingswetter gewichen,
dessen günstigen Einfluß auf das Erscheinen der pelagischen
Tierwelt ich jeden Morgen bei der Barkenfahrt empfinde. Ich habe
seitdem sehr reiches Material, mehr, als ich täglich verarbeiten
kann, und, was das Wichtigste ist, ich habe eine bestimmte Arbeit
gefunden, die mich anzieht und deren Ausführung energische
Konzentration der Gedanken fordert. Dieser Zwang, den ich mir selbst
antue, die Notwendigkeit, alle meine Gedanken möglichst auf das
Beobachtungsobjekt zu konzentrieren, hat nun eine sehr
wohltätige und lindernde Wirkung auf meine schmerzlich bewegte
und zerrissene Seele ausgeübt, und ich gewöhne mich
allmählich daran, nicht den ganzen Tag unaufhörlich
bloß an mein Elend zu denken und der Verzweiflung nachzugeben.
Ich hoffe, daß dieser wohltätige Einfluß der
Lieblingsarbeit von Dauer sein wird.
Ä
AUS DEM TAGEBUCH ÜBER DIE ARBEIT IN VILLAFRANCA
Sonntag, 20. März 1864. Palmsonntag. Ankunft.
- Schwerer Abend.
Donnerstag, 14. April 1864. Den ganzen Tag hinderte mich mein endloser
Jammer ordentlich zu arbeiten. Jammerszene bei Tisch und nachher zu
Hause. Nichts gearbeitet. Schrecklicher Tag.
Freitag, 15. April 1864. Verzweifelte Stimmung.
Samstag, 16. April 1864. Elender Tag. Verzweiflung. Zwei Monate erst
seit dem Schreckenstag verflossen. Zwei Monate, und länger als
zwei Jahre erschienen. Todessehnsucht. In drei Tagen nichts, als immer
dieselbe Geschichte.
Dienstag, 3. Mai 1864. Vor sechs Jahren Verlobungstag! Der Schmerz
wurde glücklicherweise betäubt durch die Unmassen von
Craspedoten, welche das bewegte Meer heute bei der einundzwanzigsten
Barkenfahrt lieferte. So kam ich glücklicherweise bis zum Abend
nicht zur Besinnung.
DER VATER AN FRAU VON BASSEWITZ Jena, 8.7.1864
Wir suchen unseren Sohn, den die trüben Stunden häufig
heimsuchen, zu trösten, so gut es geht, und verweisen ihn darauf,
daß der Schmerz sich jedenfalls allmählich durch die Zeit
lindern wird. Er liest seine Collegia und arbeitet fleißig. Mitte
August denkt er auf sechs Wochen nach Helgoland zu gehen und dort
Seetierchen zu fangen und zu untersuchen. Die Naturgesetze stehen den
Naturforschern obenan, zu diesen rechnen sie aber auch die Vernunft
und das Sittengesetz im Menschen, und so ist denn auch mein Sohn ein
ganz reiner Mensch von kindlichem Gemüt, den man liebhaben
muß. Aber das Element der göttlichen Liebe, was im
Christentum ruht, ist noch nicht zur Entwicklung gekommen, die
göttliche Weisheit drängt sich freilich dem Naturforscher
von selbst auf, und so ist auch in meinem Sohn das Gefühl der
Nichtigkeit dieser Welt so stark geworden, daß er am liebsten
seiner verlorenen Geliebten nachginge.
ERNST HAECKEL AN KARL GEGENBAUR Berlin, 24.12.1864
Mein liebster Freund!
Wie sehr habe ich Dich heute abend zu mir herbei gesehnt, liebster Karl,
um an Deiner mitempfindenden Brust den tiefen Schmerz meiner
eigenen auszuschütten. Ich konnte hier niemandem so mich
hingeben, wie ich es Dir, dem ganz Gleichgesinnten, gegenüber
vermag. Mein Bruder hatte, um mir eine Freude zu machen, das
niedlichste und lieblichste seiner sieben Kinder hergeschickt, das
rotbackige "Goldmiezchen" mit langen blonden Zöpfen
und großen blauen Augen. Meine guten Eltern hatten ihm ein
kleines Tannenbäumchen zugeputzt, unter dessen Lichtern es
seine Bescherung empfing. Die naive Freude des reizenden kleinen
Mädchens war rührend, ich aber konnte es nicht ertragen
und bin ein paar Stunden allein im Tiergarten umhergelaufen, in den
dichtverwachsenen dunkeln Partien desselben, die meine Braut so sehr
liebte. Das einsame Rauschen der vom Nordwind bewegten Bäume
mit ihren nackten frierenden Zweigen und das Ächzen und
Stöhnen der gebeugten Stämme haben das wilderregte
Gemüt wieder etwas beruhigt. Dann bin ich lange auf dem
einsamen Hafenplatz umhergewandert und habe vergeblich auf dem
hohen Balkon der Alhambra, des im maurischen Stil gebauten Hauses,
das meine Anna während der 4 1/2 Jahre unserer Brautzeit
bewohnte, die feine weiße Gestalt gesucht, die mir so oft abends die
Schlüssel herunterwarf, und wenn ich nach glückselig
verplaudertem und verscherztem Abende heimkehrte, von oben eine
"felicissima notte" nachrief. Ein schönes
Märchen...
ERNST HAECKEL AN DIE ELTERN Jena, 13.2.1865
Über meinen Zustand dürft Ihr außer Sorge sein. Ich
bin jetzt, am Ende des schrecklichen Lebensjahres, das mir mein ganzes
Lebensglück genommen hat, ruhiger und fester, als Ihr wohl
denkt. Die heftigsten Ausbrüche des tiefsten Schmerzes, wie ich sie
noch zu Weihnachten und zu Silvester nicht unterdrücken konnte,
haben allmählich nachgelassen und aufgehört, und obwohl
die Tiefe des Schmerzes über den unersetzlichen Verlust noch
ganz dieselbe ist und dieselbe bleiben wird, so habe ich ihn doch
beherrschen gelernt und trage die schwere Last des Lebens fest und
mutig, wie es dem Manne geziemt. Ja, ein Mann ist in diesem
furchtbaren Jahre aus dem Kinde geworden, und die täglich sich
wiederholenden Hammerschläge des unabwendbaren Geschickes
haben in mir den stählernen Charakter geschmiedet, der mir
vorher so sehr fehlte. Wie oft muß ich jetzt an die Sage von dem
hartgeschmiedeten Landgrafen denken, die mir meine Anna so oft
vorlas, wenn ich zu weich und unentschlossen war. "Werde
hart!" schloß sie dann immer mit einem neckischen Scherze.
Diese Härtung ist nun eingetreten; aber sie, die sich am meisten
darüber freuen würde, ist nicht mehr. Gegen die
Stürme und Schicksalsschläge des Lebens bin ich nun
gewappnet. Nachdem ich das Schrecklichste, das möglich war,
erlebt habe und nachdem ich mich an die Entbehrung des Liebsten habe
gewöhnen lernen, kann mir das weitere Leben nicht mehr viel
anhaben, und ich sehe seiner ferneren Entwicklung mit einer Ruhe und
Gleichgültigkeit entgegen, die ich früher nicht kannte.
Daß mein Verlust ein ganz unersetzlicher ist, und daß nun
mein ganzes, so schön. und reich angelegtes Leben in einer
anderen Richtung sich entfalten muß, steht fest. Das
Gemütsleben wird nach und nach verkommen und auf seine
Kosten sich das Verstandesleben entwickeln, mit welchem ich der
Wissenschaft und der Entwicklung der Menschheit noch manchen
wichtigen Dienst zu leisten hoffe.
Wie seltsam es geht. Meine Lage ist jetzt gerade so, wie ich sie mir als
Ideal immer vorstellte, ehe ich das Glück der Liebe und die Freude
des Ineinanderlebens der Gemüter kannte, wie es nur die Ehe gibt.
Damals strebte ich nur immer danach, in einer freien Stellung, wie
meine jetzige ist, lediglich der Wissenschaft leben und für sie
tätig sein zu können. Dieser Wunsch ist nun erfüllt,
nachdem ich das ungleich höhere Glück in seiner edelsten
Form kennengelernt habe, welches das Gemütsleben der Liebe
gewährt. Dieses Bessere ist mir genommen und das Gute ist mir
geblieben. So werde ich mich denn an dieses halten und es
ausnützen, so gut es geht. Die Freude an der wissenschaftlichen
Tätigkeit und das Bewußtsein, hier noch Tüchtiges
leisten und den Fortschritt der Erkenntnis fördern zu
können, muß mein Trost und mein Lohn sein. Es trifft sich
eigen, daß gerade in dieser Zeit, wo die schmerzlichen Erinnerungen
des verflossenen Jahres besonders lebhaft auftauchen, mir die
Wissenschaft, der mein Leben nun gewidmet ist, besonderen Lohn
bieten zu wollen scheint. Nachdem ich neulich erst eine höchst
wunderbare Entdeckung gemacht, habe ich in diesen Tagen ein Problem
der theoretischen Zoologie gelöst, mit dem ich mich schon
jahrelang getragen hatte, und welches einige der wichtigsten
Grundfragen der Zoologie löst. Ich bin sehr zufrieden, daß ich
wieder die Kraft und Fassung gewonnen habe, auch schwierigere
philosophische Fragen im Zusammenhange zu bearbeiten. Seid also
unbekümmert um mich, liebste Eltern. Ich habe die Kraft und den
Willen, zu leben und zu arbeiten, wiedergewonnen, und mein treuer
brüderlicher Freund und Schicksalsgenosse Gegenbaur
unterstützt mich in dieser Beziehung aufs beste.
Jena, 18.2.1865
Liebste Eltern!
Die schrecklichen Tage der Februarmitte sind endlich vorüber und
ich kann Euch wieder beruhigter und fester schreiben. Schwere,
furchtbar schwere Zeit war das wieder und ich mußte alle Kraft zu
sammennehmen, um in dem furchtbaren Kampfe mit des Lebens
bitterstem und tiefstem Schmerze nicht ganz zu unterliegen. Viel
Manneskraft und Charakterfestigkeit habe ich in diesem traurigsten
Lebensjahre gewonnen und doch schien sie kaum auszureichen, um die
entsetzlichen Tage des schwersten Verlustes selbst zu tragen. Meine
letzten Briefe schrieb ich Euch in sehr gefaßter und resignierter
Stimmung, die auch jetzt ganz die vorherrschende bei mir ist.
Ich beabsichtigte die schweren Trauertage bei meinem treuen Freunde
und Schicksalsgenossen Gegenbaur zuzubringen. Als jedoch der bittere
16. Februar selbst herannahte, fühlte ich wohl, daß ich nicht
imstande sein würde, hier auszuhalten und entschloß mich
also rasch, an den Ort zu flüchten, wo ich allein Ruhe und
Festigkeit stets wiedergewinne, in das freie Reich der gewaltigen
Natur.
Nach schriftlichem Abschied von Gegenbaur und Schleicher
schnürte ich am 15. Februar mittags meinen Ranzen und machte
mich auf die Wanderschaft in die Thüringer Berge und
Wälder.
Heute morgen fünf Uhr bin ich, wenn auch sehr ermattet von den
starken Anstrengungen, doch ganz gesund und innerlich viel beruhigter
wieder in das öde Nest zurückgekehrt, das mir freilich nach
jeder Rückkehr doppelt verödet und trostlos erscheint.
Indessen finde ich mich doch immer mehr darein, da das Gefühl
der Entsagung und das Bewußtsein, daß alle Klagen das
unwiderbringlich verlorene Glück nicht zurückführen
können, immer mehr das herrschende wird. Mein Arbeitsziel, das
Feld meiner Tätigkeit, liegt ganz bestimmt vor mir gezeichnet da
und in dem Bewußtsein, hier tüchtig fördernd wirksam
sein zu können und zu müssen, finde ich selbst in dem
schweren Augenblick noch Trost und Festigkeit, wo das bittere
Gefühl des unendlichen Verlustes und der gänzlichen
Vereinsamung mich niederdrücken will.
Für Eure lieben Briefe, liebste Eltern, die ich am 15. gar nicht
erwartet hatte, die mir aber doch rechter Trost und rechte Freude
waren, habt innigsten Dank. Behaltet mir ferner so Eure treue
Eltemliebe. Wenn wir auch in der speziellen Deutung der
Erscheinungswelt vielfach auseinandergehen, so stimmen wir doch darin
überein, daß wir dem einmal als recht, gut und wahr
Erkannten uns rückhaltslos hingeben und uns durch keine
äußeren Einflüsse darin beirren lassen.
So nehmt denn auch von mir als unumstößlich fest die
Versicherung, daß ich dieses drückende Leben mit Kraft
ertragen und die mir bestimmte Lebensspanne teuer verkaufen, das
heißt alle mir zu Gebote stehenden Kräfte aufs
äußerste anstrengen werde, sie zum Besten des Fortschritts
der Menschheit, namentlich in der Erkenntnis, nutzbar zu machen. Bin
ich einmal verpflichtet, des Daseins schweres Joch zu tragen, so will ich
auch dauernde Spur davon zurücklassen; Entsagung und mutige
Tatkraft sollen meine leitenden Triebfedern sein und bleiben. Dies sagt
Euch fest zu
Euer treuer Ernst.
Ein Jahrzehnt später:
AUS EINER AUTOBIOGRAPHISCHEN SKIZZE VOM JAHRE 1874
Am 16. Februar 1864, an dem Tage, an welchem ich mein
dreißigstes Lebensjahr vollendete, und an welchem mir die
Leopoldinisch-Karolinische Akademie durch Verleihung eines
Ehrendiploms und der Goldenen Cotheniusmedaille die höchste
Anerkennung für meine wissenschaftlichen Leistungen spendete,
wurde mir plötzlich durch einen ganz unvermuteten jähen
Tod meine innigstgeliebte Frau entrissen, mit welcher ich nach
vierjährigem Brautstande nur anderthalbe kurze Jahre in der
glücklichsten Ehe gelebt hatte. Dieses traurige Schicksal, welches
mit einem jähen Schlage mein ganzes, rasch und schön
aufgeblühtes Lebensglück zerstörte, versetzte mich in
völlige Verzweiflung und in eine krankhafte und überreizte
Gemütsstimmung, von der ich mich erst nach Jahren, erst nach der
großen Kanarischen Reise, erholte. Völlige und
ausschließliche Hingabe an meine Wissenschaft erschien mir jetzt
als das einzige Rettungsmittel, und in dieser resignierten Stimmung warf
ich mich ganz und rückhaltslos auf die Studien, deren Resultat in
der "Generellen Morphologie" niedergelegt sind.
Während des kurzen Jahres, innerhalb dessen ich dieses Werk
verfaßte und herausgab, gönnte ich mir täglich nur
wenige Stunden Schlaf und war vom frühen Morgen bis nach
Mitternacht ausschließlich mit jener Aufgabe beschäftigt. Zur
hastigen Vollendung desselben um jeden Preis drängte mich aber
noch besonders einerseits das Gefühl, daß ich trotz meines
von Natur kräftigen Körpers eine solche
übermäßige Anstrengung doch nicht mehr lange
aushalten würde, andererseits der Urlaub, den ich für das
folgende Wintersemester erhalten hatte, und den ich dann auf den
Kanarischen Inseln verbrachte. Schon im August 1866 wollte ich
denselben antreten; aber die Vollendung der immer stärker
anwachsenden Morphologie ließ mich erst Anfang Oktober, in
einem Zustande höchster geistiger und körperlicher
Überarbeitung, zur Abreise kommen. Hieraus sind die großen
Mängel dieses Werkes, welches die schwierigsten Probleme der
Biologie auf einem neuen, bisher unbetretenen Wege zu lösen
suchte, wohl größtenteils zu erklären.
Noch in einer anderen, wichtigeren Beziehung wurde der erwähnte
harte Schicksalsschlag für meine Entwicklung sehr erfolgreich. Er
vollendete meinen völligen Bruch mit dem Kirchenglauben und
trieb mich der radikalsten Realphilosophie in die Arme. Nichts
würde unrichtiger sein, als aus den Angriffen auf die teleologische
Weltanschauung und die Kirchendogmen, welche in meinen Schriften
seit 1866 zu finden sind, den Schluß zu ziehen, daß ich stets
dieser Richtung gehuldigt habe. Im Gegenteil war meine frühere
Weltanschauung bis nach vollendeten Universitätsstudien eine
total entgegengesetzte und selbst bis zum dreißigsten Lebensjahre
noch eine vermittelnde. Auferzogen unter der sorgfältigsten Pflege
von trefflichen Eltern und Lehrern, denen ich mit der zärtlichsten
Liebe und dem größten Vertrauen anhing, und die mit dem
wärmsten und lebendigsten Glauben an dem von Schleiermacher
vertretenen liberalen Christentum hingen, wurde ihr Glaube auch der
meinige. Ich vertrat diesen Glauben in der freisinnigsten Form und mit
voller Überzeugung noch während meiner ganzen
Universitätszeit und verteidigte ihn warm gegenüber den
zahlreichen Angriffen der jungen, mir nächst befreundeten
Kommilitonen, Mediziner und Naturforscher. Selbst die Lektüre
der materialistischen Schriften von Vogt, Büchner usw., welche
damals (um die Mitte der fünfziger Jahre) so lebhafte
Streitigkeiten hervorriefen, vermochte mich nicht wesentlich zu
erschüttern, obwohl sie viele Zweifel in mir erregten. Erst als ich
nach vollendetem Universitätsstudium in das Leben hinaustrat,
und besonders in meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahre,
während der fünfzehn Monate meiner Reise durch Italien
und Sizilien, als ich so viele mir bis dahin unbekannte Seiten des realen
Menschenlebens kennen, bedauern und verachten lernte, erst da wurde
meine ideale Lebensanschauung vielfach zerstört, und es stiegen
ernstliche Zweifel an den tiefsten Glaubenswahrheiten in meinem
Innern auf. Als ich nun aber nach meiner Rückkehr aus Italien
1860 mit Darwins Werk bekannt wurde, als ich hier die Lösung
der schwierigsten philosophischen Probleme auf dem mechanischen
oder monistischen Wege angebahnt sah, da begann sich in mir eine
Einheit der Weltanschauung vorzubereiten, vor welcher nur wenige der
altgewohnten, liebgewordenen Glaubensartikel mehr bestehen konnten.
Doch auch jetzt noch hielt ich trotz vielfacher innerer Kämpfe und
Zweifel an einigen der bedeutendsten teleologischen Anschauungen fest.
Erst die jähe Wendung meines Schicksals an dem
Unglückstage, an welchem ich mein dreißigstes Lebensjahr
vollendete, zerstörte in mir mit einem Schlage alle letzten Reste
meiner früheren dualistischen Weltanschauung. Erst von jetzt an
war ich reiner Monist und vertrat, von allen Fesseln der
Glaubensdichtungen befreit, mit der rücksichtslosesten
Entschiedenheit diejenige einheitliche Weltanschauung, welche
überall in dem Entwicklungsgange der Welt nur wirkende
Ursachen (causae efficientes), keine zwecktätigen Ursachen
(causae finales) anerkennt, welche in allen Dingen ein und dieselbe
mechanische Triebfeder der natürlichen Entwicklung findet.
POPULÄRE VORTRÄGE AUS DEM GESAMTGEBIETE DER
ENTWICKLUNGSLEHRE 1878
WIDMUNG.
Dem Andenken seiner treuen Frau Anna Sethe widmet diese
Blätter in treuer Dankbarkeit
Ernst Haeckel.
AUS DEM VORWORT.
Wenn ich dieses erste Heft meiner gesammelten populären
Vorträge dem Andenken meiner teuren ersten Frau widme, die
mir nach kurzer glücklichster Ehe plötzlich durch einen
jähen Tod entrissen wurde, so will ich damit aus treuer
Dankbarkeit den hervorragenden Anteil bezeichnen, den diese selten
begabte Frau wie an meinen Arbeiten überhaupt, so insbesondere
an der Entstehung dieser Vorträge gehabt hat. Anna Sethe
gehörte zu jenen seltenen weiblichen Naturen, die mit allen Reizen
edelster Weiblichkeit die männliche Energie konsequenten
Wollens und die männliche Erkenntnislust unerschrockenen
Forschens verbinden. Voll Begeisterung für alles Wahre,
Schöne und Gute, ergriff ihr umfassender und klarer Geist die
monistische Entwicklungslehre und ihre Begründung durch Darwin
mit dem lebhaftesten Interesse. In beständigem
Gedankenaustauch mit ihr reiften die naturphilosophischen
Überzeugungen, denen ich später in der "Generellen
Morphologie" eine strengere Ausführung, in der
"Natürlichen Schöpfungsgeschichte" und
"Anthropogenie" eine populäre Darstellung gegeben
habe. Anna Sethe flößte mir den Mut ein, 1863 auf der
Naturforscher-Versammlung zu Stettin zuerst mit jenen monistischen
Überzeugungen an die Öffentlichkeit zu treten. Wenn es mir
gelungen sein sollte, in diesen und anderen Arbeiten über
Entwicklungslehre, aus denen die hier gesammelten kleineren
Vorträge hervorgegangen sind, dem Erkenntnisgut der Menschheit
einen bleibenden Gewinn zuzufügen, so verdanke ich dies
wesentlich mit dem Einflusse der unvergeßlichen Frau, deren
Andenken diese Blätter gewidmet sind.
Jena, den 10. Oktober 1878. Ernst Haeckel.
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