Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
3. Brief
Würzburg, den 6. 11. 1852 Sonnabend abend.
Innigst geliebte Eltern!
Schon seit ein paar Tagen wollte ich Euch immer schreiben, habe aber bis
heute abend gewartet, weil ich immer glaubte, es würde von Euch ein Brief
ankommen. Vor allem also muß ich Euch sagen, daß ich seit Mitte dieser
Woche, seit Anfang der Kollegien, wie neu aufgelebt und so munter bin, wie
seit langer Zeit nicht. Ich hätte wirklich kaum geglaubt, daß ein
dreimonatliches Bummeln einen solchen mißmutig machenden und abspannenden
Einfluß auf den Menschen haben könnte, wie ich es jetzt von der Zeit vom 1.
August bis 1. November gesehen habe. Abgerechnet das bißchen Heimweh, was
sich noch regelmäßig, besonders abends (auch oft noch recht heftig),
einstellt, bin ich jetzt einmal wieder recht froh auf, und schreibe dies
hauptsächlich der Lektüre von Humboldts Kosmos und dem prächtigen Kolleg von
Kölliker zu. Ich entschloß mich schon zwei Tage darauf, als mein großer
Lamento-Brief vom 31. Oktober an Euch abgegangen war, die Anatomie bei
Kölliker anzunehmen, und habe es noch keinen Augenblick bereut. Die Materie,
der Vortrag, die ganze Auffassung Köllikers ist so entzückend schön, daß ich
Euch gar nicht sagen kann, mit welchem Vergnügen ich und viele andere die
Anatomie hören. Bis jetzt hat er uns einen historischen Abriß der Anatomie,
eine Übersicht über die verschiedenen animalen und vegetativen Systeme des
menschlichen Körpers gegeben, und heute auch eine "äußere Betrachtung"
desselben angefangen, die höchst anziehend und interessant ists.
Kölliker selbst ist ein äußerst liebenswürdiger und interessanter Mann;
dabei von einer vollendeten männlichen Schönheit, wie ich sie selten gesehen
habe; besonders seine schwarzen Augen sind ganz prächtig . . .
Mit dem Köllikerschen Kolleg, wozu ich noch glücklicherweise einen der
besten Plätze bekam, höre ich nun im ganzen folgende Kollegien:
- A. Kölliker, Anatomie des Menschen, täglich von 11-1 Uhr, kostet 20
Gulden.
- H. Müller, Anatomie der Knochen, Bänder und Sinnesorgane, viermal von
9-10 Uhr, kostet 8 Gulden.
- F. Leydig, Mikroskopische Anatomie oder Histologie des Menschen,
dreimal von 5-6 Uhr, kostet 8 Gulden.
- P. Siebold, Sezierübungen, beliebig, kostet 11 Gulden.
Außerdem werde ich noch ein dreistündiges Publikum über deutsche
Altertumskunde und vielleicht noch die Kryptogamenkunde hören, wenn sie
zustande kommen. Dann will ich ab und zu in dem einzigen mathematischen
Kolleg, das hier gelesen wird, und in Scherers "Chemie mit Rücksicht auf
Physiologie" hospitieren. Die Osteologie usw. ist langweilig, aber genau,
und ich bekommen dabei alle Knochen einzeln in die Hand, was ich benutze, um
sie von vorn und hinten abzuzeichnen. Die Histologie bei Leydig, einem
jungen und gescheuten Privatdozenten, habe ich auf spezielles Anraten
Köllikers angenommen. Die Sezierübungen werde ich vorläufig liegen lassen,
bis Kölliker die betreffenden Muskeln durchgenommen hat; mit den Armmuskeln
war ich übrigens fertig. -
Meine Tageseinteilung hat sich nun schon etwas geändert: um 7 Uhr wird
aufgestanden und Kaffee getrunken; gelesen bis 9. 9-10 Uhr Osteologie, 10-11
Uhr Knochen gezeichnet, 11-1 Uhr Anatomie, 1-2 Uhr gegessen, 2-3 Uhr Kaffee
getrunken oder hospitiert. 3-5 Uhr gebummelt oder seziert oder spazieren,
5-6 Uhr Histologie, 6-9 Uhr das Nachgeschriebene bei Kölliker ausgearbeitet,
9-10 Uhr Kosmos gelesen, der mich wirklich mächtig anzieht, so daß ich mich
ärgere, nicht eher an ihn gedacht zu haben. -
Was im übrigen die Universität anlangt, so sind Philosophie und die andern
nicht medizinischen Wissenschaften sehr schwach vertreten. Auch das Gebäude
ist ein komisches altes Ding. Meine Vorlesungen werden alle im anatomischen
Hörsaal gelesen, welcher barbarisch nach faulem Fleisch riecht und ganz
außerordentlich klein und eng ist, so daß wir wie die Heringe geschachtelt
sitzen, daß selbst der Tisch, an dem Kölliker liest, so dicht umstellt ist,
daß er fast gar nicht heraus kann. Diese Übelstände weden jedoch alle durch
den Bau der neuen Anatomie beseitigt werden, die wahrscheinlich noch in
diesem Monat eröffnet werden wird . . .
Wenn ich übrigens nicht auf der Anatomie schon genug Düfte genösse, so würde
der Leimsieder mir gegenüber und der Seifensieder nicht weit davon mir genug
dergleichen Genüsse darbieten, wie sie es in der Tat auch tun. Überhaupt ist
die ganze Stadt ein furchtbar stinkiges Nest, wo man überall, besonders
abends, seine Geruchsnerven höchst verschiedenartig unangenehm irridiert
sieht; vielleicht heißt es deshalb "Würzburg"! - . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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