Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
21. Brief
Würzburg, 25. 4. 1853.
Liebste Eltern!
Ich benutze den Abend von Großvaters Geburtstag, wo Ihr wohl recht traulich
und freudig bei unserm großen Familienhaupt beisammensitzt und vielleicht
auch zuweilen meiner gedenkt, um Euch meine glückliche Ankunft hierselbst zu
melden und etwas von meiner Herreise zu erzählen. Die Nacht bis Halle legte
ich prächtig schlafend und bis Köthen ganz allein in einem Coupé für
"Nichtraucher" zurück. In Halle kam ich nach 3 Uhr an und stöberte dann
Weber, Hetzer und Weiß, welcher tags zuvor von Merseburg herübergangen war,
aus dem Bette. Mit letzterm machte ich während des Vormittags eine größere
Exkursion nach Giebichenstein, Kröllwitz usw. Alles war aber noch
außerordentlich zurück, so daß wir selbst von der Anfang März zu allererst
blühensollenden Gagea saxatilis am Ochsenberge fast noch keine blühenden
Exemplare fanden. Dafür beglückten uns ein paar niedliche Moose, Guembelia
ovata und Polytrichum piliferum; letzteres sehr schön rot gefärbt und mit
reichlichen männlichen Blüten, wie ich noch nie gesehen. Übrigens gingen wir
immer im furchtbarsten Sturm und Regen. Mittags aß ich in einer
Studentenkneipe, wo ich mehrere Merseburger Freunde traf . . .
Dann ging ich zu Schlechtendal, der mich grade nicht sehr erbaute,
namentlich als ich das Gespräch auf mein Berufskapitel brachte. Er riet mir,
die Botanik lieber ganz aufzugeben (wozu ich wohl auch den Willen, aber
nicht die Kraft hatte); später erfuhr ich von Henkel, daß er überhaupt sehr
egoistisch in bezug auf jüngere Leute ist, sie nicht unterstützt und von der
Botanik ganz abzubringen sucht. Es war mir ziemlich einerlei. Donnerstag den
21. abends fuhr ich mit Weiß und Weber nach Merseburg . . .
Freitag früh experimentierten Weiß und ich mit Bertheaus neuem Mikroskop,
das ganz vortrefflich ist und mir die Sehnsucht nach meinem neuen wieder
recht erweckt hat . . .
Dann ging ich zu Lüben, der mich sehr freundlich empfing und bei dem ich
über 4 Stunden verweilte, wobei wir gegenseitig einmal recht gründlich unser
naturhistorisches und insbesondere botanisches Herz ausschütteten. Hatten
wir doch die Erlebnisse eines ganzen Jahres auszutauschen! Er meinte, wie
auch alle andern Freunde, die ich sprach (namentlich Weiß, der ganz bestimmt
daran glaubt, Osterwald usw.), daß ich eigentlich zu nichts andern, aber
auch zu nichts mehr tauge, als zum Professor Botanices! - O! o! o! - O
scientia amabilis; quando tandem tecum in aeternum conjungas? !!! - Das
setzte mir dann wieder so tolle Gedanken in den Kopf, daß ich bis hieher
sehr vergnügt und munter war! - . . .
Am folgenden Morgen ging ich zu Christel und ihrem Mann. Sie schienen sehr
glücklich und munter zu leben; ihre kleine Emma ist ein dickbackiges
munteres Kind. Dann war ich bei Friedrich, der jetzt gleichfalls
glückseliger, zärtlicher Familienvater ist. Sein kleiner Junge, ein derbes,
leidlich hübsches Bürschchen, heißt mir zu Ehren Ernst! (Also schon das
zweite Patchen! zu viel Ehre für einen solchen Taugenichts, wie ich doch
einmal einer zu werden scheine!) Aus dieser Hütte der Armut ging's direkt
zum Palast des Reichtums und des Glücks, zu dem von mir um seine botanischen
Schätze und Muße recht beneideten, immer noch sehr munteren alten Grafen
Henkel, der mich fast so zärtlich wie seinen Sohn empfing. Er arrangierte
mir zu Ehren ein delikates Frühstück im höheren Stil: Fischpastete, die ich
mir trefflich schmecken ließ, und eine Flasche "echten alten Xeressekt".
Besagter alter Wein und eine andere Bouteille noch älteren und schwereren
(dessen Namen ich vergessen) machten uns äußerst aufgeräumt und
liebenswürdig. Nach ein paar Stunden hatten auch wir unser botanisches Herz
für ein ganzes Jahr ausgeschüttet . . .
Mittags war ich bei Merkels. Sie sind immer noch dieselben herzlichen Leute
und wissen nicht genug zu erzählen, wieviel sie an mir verloren haben. In
den alten vertrauten Räumen lebten so recht die alten Erinnerungen wieder
auf, und mein ganzes dortiges Jugendleben ging in lebhaften Bildern, die
mich oft traurig genug stimmten, wenn ich dachte, wie schlecht ich diese
schöne Zeit benutzt habe, an meiner Seele vorüber. Ich durchstrich das Haus
und namentlich die Gärten, wo mir jeder Fleck so lieb geworden war, wo sich
an jede Erdscholle, an jeden Baum und Stein eine besondere Erinnerung
knüpfte, mit dem Gefühle der innigsten und tiefsten Wehmut, und der Abschied
wurde mir sehr schwer . . .
Gegen 8 Uhr fuhr ich nach Halle herüber, wo mich Hetzer, Weber und
Finsterbusch empfingen. Wir gingen gleich zusammen in die Halloria, die
einzige Kneipe, wo unser Lieblingsgetränk, das angenehm säuerliche
Lichtenhainer Bier (das einzige, was ich trinke), dessen Heimat Jena ist,
gebraut wird, und wo wir es uns recht wohl sein ließen. Sehr munter und
aufgeräumt gingen wir dann noch auf Webers Stube, wo wir uns noch recht
lange herzlich und freundschaftlich unterhielten. Um 3 Uhr fuhr ich wieder
ab nach Leipzig, von 6 Uhr dort nach Hof (wobei wir wieder über die zwei
gigantischen, berühmten Viadukte kamen), und um 1 Uhr von hier nach Bamberg,
wo wir abends um 7 ankamen. Die ganze Tour geht meist durch herrliche, oft
höchst anmutige Berggegenden, namentlich kurz vor und hinter Hof. Die
Steigung der Bahn daselbst ist sehr bedeutend und ebenso nachher der Abfall.
Hier geht ein paar Stationen vor Kulmbach die Bahn ziemlich steil bergab,
und zwar höchst malerisch in der Mitte einer halbkreisförmigen hohen
Gebirgswand, wo der Schienenweg einige 30 Fuß hoch aufgemauert und in den
Felsen eingearbeitet werden mußte. Auf der andern Seite gießt ein wilder
Bergbach herab. Eine große Strecke lief hier der Zug von selbst, ohne
Tätigkeit der Lokomotive, bergab, so daß sogar gehemmt werden mußte. Während
das Wetter früh sehr regnerisch und stürmisch war, klärte es sich Nachmittag
auf, so daß wir die Lichtenfelser und Bamberger Gegend in der schönsten
Beleuchtung sahen. Auch war die Vegetation hier schon sehr weit vorgerückt,
während um Hof noch tiefer Schnee gelegen hatte. Die Saaten waren schon
herrlich grün und üppig, und überall blühten zwischen ihr niedliche kleine
Gelbsterne. Den Abend sah ich mir wieder (wie am 26. Okt. vorigen Jahres)
die schöne alte Stadt Bamberg mit ihren alten Häusern, Brücken und Kirchen
an. Um 10 Uhr fuhr ich mit der Post ab und war am andern Morgen früh um 7
1/2 Uhr (Montag, den 25sten, heute) wieder in dem alten Würzburg, wo mich
meine Wirtin überaus herzlich empfing. Um 8 Uhr saß ich bereits im Kolleg,
bei Schenk, in der medizinischen Botanik, die für mich eigentlich
(ausgenommen die schönen Pflanzen, die man bekommt) herzlich wenig Nutzen
hat. Indes höre ich sie aus "Anstand" und mehr aus Rücksicht für ihn als für
mich, da er es mir halb und halb angeboten hatte. Ich bleibe so wenigstens
im Verkehr mit ihm. Mit den botanischen Kollegien habe ich aber wirklich
noch am allerwenigsten Glück, da ich eigentlich noch keins gehört habe, was
mich ganz befriedigt hätte . . .
Euer treuer Sohn Ernst Haeckel.
 Inhaltsverzeichnis
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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