Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
23. Brief
Würzburg, den 14. 5. 1853.
Liebe Eltern!
Ich schreibe Euch heute zu einer so ungewöhnlichen Zeit, nämlich 5 Uhr früh
(jetzt meiner gewöhnlichen Aufstehstunde), daß Ihr Euch nicht wundern dürft,
wenn der Brief noch so schlaftrunken wie meine Augen ist. Euren sehnlichst
erwarteten Brief erhielt ich vorgestern. Zugleich kam ein großer, sehr
leichter Zigarrenkasten aus Merseburg von Weiß an, in dem es sonderbar
rappelte und rüttelte. Höchst neugierig öffnete ich schnell, und was fiel
mir entgegen: ein riesiger Strauch (sage Strauch!) von Viscum album, mit ein
paar hundert Blüten, von etwa 1 Kubikfuß Umfange. Es ist dies allerdings ein
sehr sonderbarer Schmarotzerstrauch, der auf Pappeln, Kiefern und Obstbäumen
wächst (nah verwandt mit dem von mir bei Teplitz entdeckten Loranthus), den
wir immer bei Halle gesucht, aber nie gefunden haben; hier ist er gar nicht
selten. Trotzdem amüsierte mich der Spaß sehr, und der ganze große
Mistelstrauch ist jetzt als Surrogat eines Kronleuchters in der Mitte meiner
Stube aufgehängt. Außerdem enthielt das Kistchen ein paar Versteinerungen
(Blätter einer Weide), die ersten, die bei Merseburg bis jetzt gefunden
wurden, und einige hübsche Moose. - Ich selbst habe die Botanik jetzt so
ziemlich an den Nagel gehängt (NB. so weit dies möglich ist!) und seziere
dafür nach Leibeskräften. Dieser Tage habe ich Lungen und Herz präpariert,
und zwar in dem schönen neuen Seziersaal der neuen Anatomie, der aber trotz
seiner Freundlichkeit und Größe schon ganz wieder jenen fatalen,
spezifischen Geruch angenommen hat. Mit meinen Kollegien bin ich jetzt
endlich auch im reinen; es sind nicht so viele geworden, wie ich anfangs
gedacht hatte. Ich höre jetzt:
1) Physiologie siebenmal; täglich von 11-12 und Sonnabends von 8-9; in
letzterer Stunde werden chemische und physiologische Experimente an Leichen
und lebenden Tieren gemacht; obgleich Kölliker die Physiologie nicht so gut
vorträgt, so interessiert sie mich doch an und für sich im höchsten Grade.
Wir haben jetzt das Kapitel von der Verdauung vor, und ich habe natürlich
meinen Speisezettel ganz physiologisch-medizinisch eingerichtet; so esse ich
z. B. abends immer Milch.
2) Vergleichende Anatomie dreimal von 12-1 und zweimal von 6-7 Uhr. Dies ist
wirklich das Interessanteste, was man hören kann, obgleich gerade die
medizinischen practici sehr dagegen eifern. Diese Woche sind die
Infusionstierchen beendigt worden und die Polypen und Korallen angefangen.
Wenn übrigens Ehrenberg über Kölliker böse ist, so kann man dies ersterem
gar nicht verdenken. Denn wenn Kölliker auch meistens recht hat, so nimmt er
ihn doch zu schonungslos mit; z. B. sagte er zu uns: "Wenn Herr Prof.
Ehrenberg nicht Professor in Berlin und dortiges Mitglied der Akademie wäre,
so würde man ihn schon längst der Geschichte (i. e. der Vergessenheit)
anheimgegeben haben. Ich begreife nicht, wie man das, was man unter dem
Mikroskop sieht, grade so auf die allerwillkürlichste und unangemessenste
Weise deuten kann!" Der Hauptunterschied ist der, daß Ehrenberg in den
Infusionstierchen alle die vollkommenen Organe - Werkzeuge - zu entdecken
glaubte, die auch die höheren Tiere besitzen, z. B. Magen, Darm, Lunge usw.,
während von allen dem keine Rede ist, und alle diese Tiere, wie alle neuen
Forscher einstimmig zugeben, nichts als eine einfache Zelle sind, wie auch
die niedersten Pflanzen, von denen sie sich nur durch die kontraktile
Membran unterscheiden. Wenn dies auch richtig ist, so muß man doch, meine
ich, den Fleiß und die Ausdauer anerkennen, mit der Ehrenberg diese Tierchen
verfolgt und entdeckt hat. -
Als Leitfaden habe ich mir "Vogts zoologische Briefe" angeschafft, nach
denen auch Kölliker sich bei seinem Vortrage richtet und die zugleich die
Zoologie (d. h. die systematische Seite) und die vergleichende Anatomie (d.
h. die höhere, wissenschaftliche) behandeln. Denn die vergleichende Anatomie
(von Johannes Müller gegründet) ist eigentlich nichts als Zoologie, in
Verbindung mit Anatomie und Physiologie, also im höchsten wissenschaftlichen
Sinne. Das Buch ist im ganzen sehr anziehend, klar und übersichtlich
geschrieben. Zu bedauern ist es nur, daß viele Stellen durch den
wahnsinnigen Radikalismus des Verfassers ganz verhunzt sind, so daß man
gleich schwarzes Papier darüber kleben möchte. Der Verfasser ist ist nämlich
jener berüchtigte Karl Vogt aus Gießen, "der deutsche Reichsvogt", und
"Exmonarch des Deutschen Reichs", wie er sich selbst nennt. Ihr werdet Euch
seiner wohl noch von anno 48, 49, 50 her erinnern, namentlich in der
Paulskirche war er recht frech und unleidlich. Jetzt lebt er verbannt in der
Schweiz und "freut sich, daß das deutsche Volk seine Bücher kauft, während
es auf den Verfasser selbst schimpft". Auch ich habe nicht umhin gekonnt,
ihm dieses Vergnügen zu machen, da das Buch wirklich sehr geistreich und
klar namentlich die so höchst interessanten wirbellosen Tiere behandelt. Was
soll man aber sagen, wenn man solche Stellen liest: "Die fortschreitende
Ausbreitung des Christentums tötete, wie jede andere Wissenschaft, so auch
vor allem die Naturlehre, welche ihm notwendig feindlich gegenübertreten
mußte!" Oder wenn der Verfasser von dem kindischen Märchen des Christentums
spricht usw. Anfangs ärgerte ich mich darüber; das ist er aber nicht wert;
man kann ihn eigentlich nur bedauern.
3) Entwicklungsgeschichte be Dr. Leydig, einem talentvollen, jungen
Privatdozenten, bei dem ich schon im Winter mikroskopische Anatomie hörte.
Eine nette Vorlesung, worin auch viel, namentlich vergleichend anatomisch,
gezeichnet wird; dreimal von 10-11 Uhr.
4) Physiologie des Auges bei Heinrich Müller, zweimal von 10 bis 11; eine
interessante Vorlesung, bei der viel Optik vorkömmt.
5) Organische Chemie bei Prof. Scherer, zweimal von 3-4 Uhr. Scherer ist
zwar ein berühmter Chemiker, hat aber einen unangenehmen, auch nicht tief
eingehenden Vortrag, so daß mich dieses Kolleg viel weniger anzieht, als ich
gehofft hatte; auch sind 2 Stunden wöchentlich viel zu wenig.
Im ganzen habe ich also äußerst wenig eigentliche Kollegia angenommen. Dafür
will ich die Anatomie ordentlich repetieren, viel sezieren und überhaupt
noch vieles Versäumte nachholen. Außerdem werden noch ein paar Kollegia von
allen Ausländern (also auch von mir) geschossen, wenigstens periodisch: als
z. B.: Analytische Chemie, Magnetismus und Elektrizität, Geschichte der
Medizin (bei Marcus; sehr gut!), chirurgische Instrumentenlehre (das
Greulichste, was man sich denken kann) und noch ein paar andere, welche wir
als publica betrachten, da hier fast gar keine eigentliche publica gelesen
werden. Überdies kommt noch im Sommer das Baden und Spaziergehen (resp.
Botanisieren) dazu, so daß die Zeit knapp genug einteilt ist; der Sommer
geht ohnedies so rasch dahin; es sind kaum 3 Monate . . .
Wenn das Wetter zum Pfingstfest gut wird, so will ich mich einmal recht
gemütlich in dem schönen Guttenberger Wald niederlassen und mich der
herrlichen Bäume, der zierlichen Moose und des muntern Vogelgesangs (der
hier sehr anmutig ist) freuen, auch einmal wieder Naturskizzen zeichnen. An
Nachtigallen ist hier Überfluß, sogar in den schönen Anlagen, die rings
außerhalb um das Glacis herumgehen und die ganze Stadt mit einem grünen
Kranze umgeben. Ich wünschte Euch oft her, um es mitzugenießen . . .
Nun feiert ein recht vergnügtes Pfingstfest und denkt dabei an Euren alten
Jungen E. H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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