Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
44. Brief
Würzburg, 7. 2. 1854.
Liebe Eltern!
. . . Ich bleibe jetzt täglich bis 11 Uhr früh zu Haus und ochse wütend -
Botanik! - Nämlich zu meinem Vortrag im physiologischen Kränzchen. Ich
wollte anfangs einen Abschnitt der Pflanzengeographie nehmen (über den
Einfluß des Klimas, namentlich der Wärme, auf die Pflanzenverteilung und
ihre Verbreitungsbezirke), da habe ich eine Menge sehr interessanter kleiner
Schriften durchgelesen, die zum Teil auch Dich, lieber Vater, sehr
interessiert haben würden, da manche der hier einschlagenden Fragen von
allgemein menschlichem Interesse sind. So ist es z. B. ein sehr wichtiger,
in neuerer Zeit weiter ausgeführter Gedanke, daß die mit der Kultur Hand in
Hand gehende Ausrottung der Wälder den allerverderblichsten Einfluß ausübt
und nicht bloß auf die Existenz der die Wälder vernichtenden Völker selbst
bedroht, sondern auch das davon betroffene Land ein für allemal unbewohnbar
macht. Die Beispiele vom Orient, von den Heimatländern der alten Völker
bestätigen dies in auffallender Weise. Indien (oder vielmehr Persien und
Babylonien), Syrien, Palästina, Ägypten, Griechenland usw. waren im Altertum
die reichsten und gesegnetesten Länder. Vergeblich sind aber alle Versuche,
diese jetzt ganz verödeten und verwüsteten Ländermassen wieder fruchtbar und
kulturfähig zu machen, da die Ausrottung der Wälder ein total anderes Klima
nach sich gezogen hat, eine dürre, feuchtigkeitslose, trockne und heiße
Atmosphäre, in der auf dem ausgedörrten Boden nur noch kümmerliche
Wüstenpflanzen fortvegetieren können. Daß dies sich wirklich so verhält, ist
historisch und naturwissenschaftlich nachgewiesen. Die ganz einfache
Folgerung aber, welche wir daraus ziehen können, ist, daß es mit unserm
westlichen Europa über kurz oder lang ebenso gehen wird; daß wir uns mit
jedem neugefällten Wald (deren Zahl ohnehin schon so geschmolzen ist) eine
neue wüste Landstrecke bereiten, auf der bald kein Getreide wegen Mangel an
Feuchtigkeit (welche durchaus an die Wälder gebunden ist) mehr wird gebaut
werden können; daß so mit der Zeit Hungersnöte und infolgedessen kolossale
Auswanderungen in neue Länder (deren segensreicher Wälderschmuck noch nicht
der Axt der Zivilisation erlegen ist) eintreten werden, und daß so die Masse
der kultivierten Völker, dem ewigen Zuge und Drange von Osten nach Westen
folgend, allmählich in den neuen Weltteil übersiedeln wird (die jetzigen
starken Auswanderungen sind nur der Anfang dazu), bis endlich auch dieser
demselben Schicksal wie Europa und vor ihm Asien erlegen sein wird. - Und
was dann? - Ja, das kann freilich niemand sagen!
Es kommt bei der naturwissenschaftlichen (physikalischen und botanischen)
Behandlung dieser Lebensfrage also dasselbe Resultat heraus, welches der
alte Wieck immer aus historischen und philosophischen Gründen zog, nämlich
daß es mit Europa und seiner Hyperkultur bald aus sei, und daß der Strom der
unaufhaltsamen Völkerwanderung Europa bald ebenso einsam und wüst als
ausgebeutetes Feld hinter sich lassen werde, wie es einst mit Asien
geschehen sei. Wenn ich nicht irre, warst Du damals immer der
entgegengesetzten Meinung und bis es auch wohl jetzt noch. Ich muß gestehen,
daß ich nach dem, was ich darüber jetzt gelesen und gedacht, doch auch mehr
zu der andern Ansicht hinneige (nämlich daß Europa sowohl durch jene
physische Verödung, infolge der Waldausrottung, wodurch das Klima
entschieden viel heißer, trockner, unfruchtbarer wird, als auch besonders
durch seine moralische Verderbnis, die immer unausbleibliche Folge der
Hyperzivilisation ist, in nicht so gar langer Zeit, wenigstens teilweis,
zugrunde gehen wird) . . .
Am 28. Januar wurde hier ein junger Privatdozent habilitiert (Karl
Gegenbaur), und zwar wieder für vergleichende Anatomie und Histologie! -
Wenn nur nicht gar so viele Leute sich auf dies schöne Fach legen wollten!
Da bleibt gar kein Platz für andere Leute, und was soll am Ende aus allen
privatim docentibus werden? -
Übrigens ist jener Herr Dr. Gegenbaur ein recht gescheuter und geschickter
Kerl, der hübsch zeichnet, mit Kölliker und Müller in Messina war und sich
länger als 1 Jahr dort aufgehalten hat, namentlich um Medusen, Polypen und
andre niedre Seetiere zu beobachten. Die Habilitationsschrift handelte über
den Generationswechsel dieser Tiere . . .
Nun liebe Eltern, lebt recht wohl, grüßt alle Freunde und Verwandte und
behaltet lieb
Euren alten Ernst.
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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