Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
54. Brief
Ziegenrück, 25. 4. 1855.
Meine lieben Eltern!
Wie Ihr Euch gewiß schon von selbst gedacht habt und wie es auch nicht
anders zu erwarten ist, habe ich hier bei meinen lieben Geschwistern in der
herrlichen Gebirgsnatur sehr glückliche Tage verlebt, so daß es mir recht
leid ist, morgen dieses mein Sanssouci schon wieder verlassen zu müssen.
Nachdem ich nun ein volles Jahr lang keinen Berg und auch keinen
ordentlichen Wald gesehen, tut der ungestörte Genuß dieser Hauptzierden der
Natur unendlich wohl, und ich sehe jetzt wieder recht, wie eng mir die Natur
auch im großen und ganzen ans Herz gewachsen ist. Die schöne freie Zeit,
welche mir jetzt zu Gebote stand, habe ich teils zum frischen, frohen Genuß
der Gebirgswälder, teils dazu benutzt, wieder einmal etwas im Zusammenhang
zu lesen, wozu ich jetzt so lange Zeit nicht gekommen war. Zu letzterm Zweck
hatte ich mir Karl Vogts "Lehrbuch der Geologie und Petrefaktenkunde" (nach
Elie de Beaumonts Vorlesungen bearbeitet) mitgenommen, welches ich mit dem
lebhaftesten Interesse von A bis Z durchstudiert habe. Ich hatte bisher über
Geologie bloß immer zerstreute Einzelheiten (das mit der gewohnten Klarheit
und Eleganz der Feder, welche Karl Vogts Schriften überhaupt einen hohen
Reiz verleihen, sehr hübsch geschrieben ist) trat mir zum ersten Male die
herrliche Wissenschaft der Geologie im großen und ganzen entgegen. Wie sehr
bedaure ich jetzt, nicht früher in Berlin daran gedacht zu haben, mich mit
disem Felde der Naturforschung näher bekannt zu machen, wo mir die schöne
geologische Sammlung so sehr zustatten gekommen wäre. Wo soll man aber auch
die Zeit hernehmen, in alle die verschiedenen Fächer der alma scientia
tiefer einzudringen, von denen jedes einzelne schon ein Menschenleben für
sich in Anspruch nimmt! Mit der Geologie muß ich aber durchaus noch näher
vertraut werden, und ich habe mir vorgenommen, daß dies die erste Aufgabe
sein soll, wenn ich wieder in Berlin bin und die verhaßte Medizin im Rücken
habe. Natürlich ist es vorzüglich der paläontologische Teil der Geologie,
die Petrefaktenkunde (die Lehre von den Tieren und Pflanzen, welche vor der
jetzigen Bildungsepoche der Erde dieselbe bevölkerten, und deren Reste nur
noch versteinert da sind), welcher mich besonders anzieht und welcher auch
eine notwendige Ergänzung der systematischen Zoologie und Botanik ist, indem
man ohne die Kenntnis dieser vorweltlichen Organismen, welche vollständig
und wesentlich die Reihe der jetzt noch lebenden Tiere und Pflanzen
ergänzen, sich keinen ordentlichen und vollkommenen Überblick über den Kreis
der letztern erwerben kann. Viel weniger zieht mich natürlich der eigentlich
geognostische Teil oder die Lehre von den verschiedenen Gesteinen, die
unsere feste Erdrinde zusammensetzen, an, da mir hier leider die notwendigen
Kenntnisse aus der Mineralogie fehlen, welche wiederum ohne mathematische
Vorkenntnisse nicht betrieben werden kann. Der Mangel an letztern ist ein
Hauptfehler meiner ganzen naturwissenschaftlichen Ausbildung, und ich habe
namntlich in letzter Zeit, wo ich dies mehr eingesehen, recht oft die starre
Einseitigkeit des Merseburger Gymnasiums verwünscht, wo wir, statt
ordentlichen Unterricht und Anleitung in Mathematik zu empfangen, mit
unverdaulichen philosophischen Brocken und höchst unfruchtbaren und dürren
lateinischen Stilübungen gequält wurden. Dieser große Mangel wird aber
schwerlich noch zu ersetzen sein, und ich werde wohl Zeit meines Lebens in
anorganicis ein Stümper bleiben, zu meinem großen Nachteil!
Übrigens war mir auch in der andern Beziehung, als in der paläobotanischen,
das Studium des geologischen Lehrbuches höchst anziehend, lehrreich und
wichtig, indem ich darin ausführliche Belehrung über viele Naturwunder
gefunden habe, welche ich auf meiner Alpenreise antreffen und nun mit noch
einmal soviel Verständnis werde anschauen können, so namentlich die
Gletscher und die allgemeinen orographischen Verhältnisse der Tal- und
Gebirgsbildung . . . Das Studium dieses höchst anziehenden geologischen
Lehrbuchs nahm bis heute fast alle Vormittage vollständig ein, so daß mir
außerdem zum Lesen fast keine Zeit blieb, und ich nur abends noch etwas
Goethes Leben von Viehoff durchlaufen und einzelne Episoden aus "Wahrheit
und Dichtung" rekapitulieren konnte. Auch dies hat mir, nachdem ich so lange
nichts derart gelesen hatte, großen Genuß gewährt, namentlich aber dazu
beigetragen, meinen nun schon seit einem halben Jahre in beständigem Wachsen
und Aufblühen begriffenen Lebensmut von neuen zu stählen und anzufachen.
Wenn ich sehe, wie selbst ein so eminenter Genius wie Goethe so lange, lange
Zeit, und grade auch seine schönsten Jugendjahre hindurch, bis nach der
Universitätszeit, in beständigem Kämpfen und Ringen mit der umgebenden
Außenwelt sowohl als auch mit seinem eignen Innern über sich selbst im
unklaren war und lange Zeit hin und her schwankte, ehe er zu einer festen
und gewissen Richtung seines Strebens und Handelns kommen konnte, und wie
dann doch zuletzt seine reichen Geistesblüten sich auf herrlichste
entfalteten, dann fange auch ich an, neuen Mut und neue Kraft zu schöpfen
und zu hoffen, daß in dem allmählichen Entwicklungsgange meiner Natur auch
mein ernstes und dauerndes Streben, wenn ich es mit männlicher Energie
verfolge, nicht fruchtlos sein wird . . .
Die Nachmittage meines hiesigen Aufenthalts habe ich meistens zu Exkursionen
in die so mannigfaltig reizenden Waldtäler der schönen Umgebung benutzt . .
.
Die bedeutendste und lohnendste Exkursion, welche fast einen ganzen Tag in
Anspruch nahm, machte ich Montag (23. 4.), wo ich den reizenden romantischen
Otterbach, welcher bei mir unter allen den schönen, wilden Gebirgsbächen in
der Umgebung, selbst meinen Liebling, die Sornitz, nicht ausgenommen, den
ersten Rang einnimmt, bis nahe an seine Quellen verfolgte . . .
Ich wünschte, Großvater hätte noch einmal seinen kleinen, lieben Urenkel
sehen können, der jetzt gar zu allerliebst ist. Durch die Stube läuft er so
munter und flink wie ein Wiesel. Sprechen kann er aber freilich noch wenig.
Nur die Stimmen der verschiedenen Haustiere ahmt er höchst possierlich nach,
woraus ich, wie aus seiner Freude an Tieren überhaupt, auf große zoologische
Talente schließen möchte. Außerdem spricht er noch sehr nett "Papa", -
"da-da" (womit er alles mögliche bezeichnet) und "Eis", wobei er das s
gerade so lispelnd ausspricht wie das englische th. In seinem ganzen, höchst
munteren und liebenswürdigen Benehmen, Gebärden und Pantomimen ist er
äußerst nett und possierlich und macht uns fortwährend die größte Freude.
Daß wir (namentlich Mimmi) es an allen möglichen Späßen mit dem kleinen
homunculus nicht fehlen lassen, könnt Ihr Euch denken. Ganz besondere Freude
macht es ihm, wenn ich ihn auf die Schultern nehme und damit durch die Stube
trabe, wobei sein ganzes, höchst schlaues und niedliches Gesichtchen lacht.
Er kennt mich sehr gut, wie er überhaupt alle einzelnen Personen genau
unterscheidet und auch alles versteht, was man mit ihm spricht. Sein ganzer
Charakter ist sehr liebenswürdig, immer munter und vergnügt (wie Mimmi),
daneben auch gehörig hitzig und ungeduldig (wie alle echten Haeckels). Wie
letztere, will er auch beständig beschäftigt und unterhalten sein. Der
allerliebste kleine Pussel wird mir jetzt recht fehlen. Ich habe mich
ordentlich an ihn gewöhnt und manche liebe Stunde mit ihm totgeschlagen. Ihr
werdet auch rechte Freude haben, wenn Ihr ihn wiederseht. Überhaupt ist das
hiesige, glückliche Familienleben doch gar zu allerliebst, und ich fühle
mich allemal, so oft ich hier bin, so äußerst wohl und glücklich darin, daß
oft der sehnsuchtsvolle Wunsch, der doch schwerlich erfüllt werden wird,
sich regt: Ach, wenn du doch auch mal solch Glück genießen solltest! . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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