Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
56. Brief (b)
Würzburg, Himmelfahrtsnachmittag, 17. 5. 1855.
Meine lieben Eltern!
. . . Das Studium der Medizin macht sich viel besser, als ich je hoffen
konnte. Ich fange jetzt an, einzusehen, daß ich eigentlich mit schrecklich
viel Vorurteilen und zu ängstlicher Besorgnis an die Sache herangegangen
bin. Das jahrelange, unnütze Ängstigen davor ist im Grunde recht überflüssig
gewesen . . .
Der hoffnungsvolle Gedanke an die künftige Tropenreise als Ziel aller meiner
Wünsche und die eigentliche Bestimmung meines Lebens und die feste Hoffnung,
daß meine innigst geliebte Natur mich einst gewiß nicht im Stiche lassen
wird, und daß mir die reichste Befriedigung und der höchste irdische Genuß
daraus erwachsen wird, trösten mich genug darüber, daß ich jetzt auf ein
paar Jahre einmal ernstlich von der Lieblingsneigung mich abwenden und mit
ganz andern, mir meinem inneren Wesen nach viel ferner liegenden Sachen
beschäftigen muß. Dieser trostreiche Gedanke an eine freudigere Zukunft gibt
mir jetzt hinlänglichen Mut, tapfer und frisch jetzt in den sauren Apfel des
Äskulap zu beißen, und daß dies mit der gehörigen Intensität und Ausdauer
geschehe, dafür bürgt mir das schauerliche Gespenst des Staatsexamens,
welches ich jetzt öfter als wohltätig mahnenden schwarzen Mann
heraufbeschwöre. -
Daß ich jetzt mit einem Male so rasch und leicht mich in diese Notwendigkeit
gefunden habe, und daß ich, einmal davon überzeugt, mit der gehörigen
Ausdauer mich dahinter setzen werde, habe ich lediglich den Verhältnissen zu
danken, in die ich jetzt hier hineingeraten bin. Und das sind einmal die
hiesigen Kollegia und die in ihrer Art wirklich vollkommene Art und Weise,
in welcher die verschiedenen Fächer der Medizin hier einheitlich und in sehr
gut zusammenpassender Harmonie betrieben werden (in Berlin wäre das nie
möglich gewesen, da dort grade hiervon nicht die Spur zu finden ist), - und
andrerseits der enge Kreis medizinischer Freunde, in dem ich mich hier schon
ganz eingelebt habe. In beiden Beziehungen habe ich es jetzt hier so gut
getroffen, wie ich es nur irgend wünschen konnte. Was zunächst den letzteren
betrifft, so besteht er, me inclusive, aus einem halben Dutzend Leuten, von
denen wieder je drei enger verbunden sind. Der vortreffliche unter allen ist
der kleine Beckmann , welcher nebst Hein mein Hausbursch ist. Über diesen
höchst ausgezeichneten und liebenswürdigen jungen Mann, der für mich
wirklich in jeder Beziehung ein Muster sein kann, und in dem ich das Ideal
eines Studenten und Menschen, wie ich es von Rechts wegen sein sollte,
verwirklicht vor Augen habe, könnt Ihr Euch von Lachmann näher erzählen
lassen, auch werde ich Euch künftig noch viel von ihm zu schreiben haben.
Für jetzt nur das, daß er auf mich von allerwohltätigstem Einfluß ist, den
ich schon in den wenigen Wochen unserer engern Bekanntschaft (oberflächlich
lernte ich ihn schon im Winter 1852/53 kennen) nicht hoch genug anschlagen
kann. Dieser mein Mentor hat ganz dieselben Lieblingsneigungen wie sein
folgsamer Telemach (denn das werde ich in jeder Beziehung zu sein mich
bemühen); er war früher eifriger Botaniker und Zoolog, vergleichende
Anatomie und Physiologie, überhaupt das Studium des normalen Organismus ist
seine wie meine Lieblingsneigung; auch er treibt die Medizin eigentlich
ursprünglich nur aus Not (da er ein ganz armer Kerl ist!); aber einmal davon
überzeugt, daß dies notwendig sei, hat er sie mit solcher Gründlichkeit und
Energie sich angeeignet, daß er den vorigen Winter hier in der Poliklinik
der erste und beste Praktikant war. Ist das nicht für mich ein sehr
nachahmenswertes Beispiel? Auch er hofft einst als Lebensberuf sich allein
die reine Naturwissenschaft erwählen zu können, treibt aber jetzt, um sich
dazu die Mittel und Wege zu verschaffen, die Medizin höchst gründlich und
gewissenhaft. Übrigens geht er mir nicht nur so selbst mit einem
vortrefflichen Beispiele voran, sondern hat mir schon ein paarmal sehr
gründlich das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Medizin und den
wirklichen Wert der letztern (den ich in der Tat in meiner Einseitigkeit
viel zu gering angeschlagen) so auseinandergesetzt, daß ich ihm nur
vollkommen mich unterwerfen konnte. Vor allem wies er mich, worin er gewiß
sehr recht hat, auf den hohen Wert hin, den die Ausübung der praktischen
Medizin für die Entwicklung der allgemein menschlichen Seite unsres Geistes
hat, welche ich bisher viel zu sehr vernachlässigt, und überzeugte mich in
einem weitern ernsten Gespräche so sehr von der großen Einseitigkeit meiner
ganzen bisherigen Richtung, daß ich mir vornahm, schon bloß deshalb einmal
mich in der praktischen Medizin zu versuchen, um mir auch diesen höheren,
allgemeinen Standpunkt in der Ansicht des menschlichen Lebens anzueignen. In
der Tat, schon die ersten Wochen meiner näheren Bekanntschaft mit diesem
herrlichen, in jeder Beziehung musterhaften Jüngling haben mehr über meinen
starren Sinn vermocht als alles Predigen vieler andern Freunde; überhaupt
sind meine neuen Freunde, mit denen ich täglich fast fortwährend, sowohl in
den Kollegien als bei Tisch als abends, zusammen bin, möglichst bemüht,
einen Menschen aus mir zu machen und meine vielfachen scharfen Kanten und
Ecken durch wohlwollenden, freimütigen Tadel möglichst abzuschleifen, mit
einem Worte, den Philister aus mir auszutreiben . . .
Wenn ich so in Hinsicht des näheren Umgangs gleich bei meiner Ankunft
diesmal (recht im Gegensatz zu meinem frühern Aufenthalt, der doch im ganzen
höchst versiegelt und philiströs war) außerordentliches Glück gehabt habe,
so ist dies fast noch mehr hinsichtlich der Kollegia der Fall, die ich grade
für meinen jetzigen Zweck wohl nirgends passender hätte zusammenfinden
können, als es hier der Fall ist. Wenn ich in Berlin geblieben wäre, so wäre
auch nicht im entferntesten daran zu denken gewesen, daß ich so weit mit
einem Male in die Medizin als Ganzes hineingekommen wäre, wie dies hier der
Fall ist. Abgesehen davon, daß grade in Berlin nur ganz vereinzelte
Professoren in der Medizin für Anfänger brauchbar sind, würde man doch wohl
auch auf jeder andern deutschen Universität jetzt vergebens nach einer
medizinischen Fakultät suchen, die so die Theorie und Praxis in der
schönsten Harmonie vereint zeigte. Und grade das ist für mich, dem die
Wissenschaft erst schmackhaft und annehmlich gemacht werden soll, so äußert
wichtig. Nur dadurch, daß ich der theoretischen Medizin, die hier von
Virchow gewiß glänzender, naturwissenschaftlicher und geistreicher als
irgendwo repräsentiert wird, ein hohes Interesse abgewinne, kann ich zum
Betreiben der praktischen gebracht werden. In der Tat habe ich bis jetzt in
der Wahl meines Studienorts allemal ein ganz besonderes Glück gehabt, indem
mich eigentlich mehr eine dunkle Ahnung als ein deutliches Bewußtsein von
dem, was mir geboten werden würde, erst im Winter 52/53 hieher und dann
vorigen Sommer wieder nach Berlin zurückleitete. Niemals ist mir dies aber
deutlicher gewesen als jetzt, wo ich es für die Durchführung meines nächsten
Planes wirklich als das höchste Glück betrachten muß, gerade jetzt wieder
hieher verschlagen worden zu sein. Das Ausführliche darüber kann ich Euch
erst später schreiben, wenn ich mit Virchow noch mehr vertraut geworden bin.
Für jetzt kann ich Euch nur sagen, daß mir die rein wissenschaftliche
Richtung (zunächst in der pathologischen Anatomie), in der Virchow, auf das
Mikroskop gestützt, die Medizin verfolgt, die eigentümliche
Zellularpathologie, die er jetzt geschaffen hat (und in der er alle
krankhaften Prozesse des Organismus, ebenso wie es die normalen
Naturforscher tun, auf das Leben der Zellen [für mich das mächtigste Wort!]
zurückführt), für mich im höchsten Grade anziehend ist, wie ich es nie nur
im geringsten geahndet hatte; denn als ich damals ein theoretisches Kolleg
bei ihm hörte, verstand ich ihn noch gar nicht. Diesen höchst geistreichen
Virchow-Kollegien verdanke ich es hauptsächlich, daß es mir möglich geworden
ist, mich von meinen botanisch-zoologischen Studien jetzt eine Zeitlang
loszureißen und mich mir aller mir zu Gebote stehenden Kraft auf die Medizin
zu werfen . . .
Von 11-1 Uhr dreimal wöchentlich ist das Kolleg, welches mich vollkommen für
alle praktischen Qualen entschädigt, und das ich zu den besten und
lehrreichsten zählen muß, die ich je gehört habe. Dies ist das berühmte
Privatissimum bei Virchow: demonstrativer Kursus der pathologischen Anatomie
und Mikroskopie - wir sitzen zu 30-40 an zwei langen Tischen, in deren Mitte
in einer Rinne eine kleine Eisenbahn verläuft, auf die die Mikroskope auf
Rädern rollen und von einem zum andern fortgeschoben werden. Da bekommt man
denn oft in einer Stunde die merkwürdigsten und seltensten, sorgfältig für
das Mikroskop zurechtgemachten pathologischen Präparate in Menge zu sehen,
während Virchow dabei ganz ausgezeichnete (natürlich dem grade in die Hände
kommenden Material von der Klinik angepaßt) hält. Diese setzen dann meist
die Fälle, die man vorher auf der Klinik lebend beobachtete, ins klarste
Licht, wie dies auch die abwechselnd mit dem Kursus von Virchow gehaltenen
Lektionen tun, bei denen er zuweilen auch seine Schüler selbst die Obduktion
durchführen läßt. Grade dieser Zusammenhang zwischen dem klinisch-
pathologischen, anatomischen und mikroskopischen Befund, wie man ihn so auf
die klarste und bequemste Weise als ein ganzes, einheitliches Krankheitsbild
erhält, ist äußerst interessant, lehrreich und wichtig. Und so etwas sucht
man in Berlin, wo überhaupt an pathologische Anatomie nicht zu denken ist,
ganz vergebens! Das ist nur hier! - Wieviel ich jedesmal in diesem Kursus
lerne, kann ich selbst kaum hoch genug anschlagen. Überhaupt nehme ich jetzt
täglich hier eine fabelhafte Masse mir ganz neuen, ungewohnten (leider nur
zum Teil mir sehr widerwärtigen Wissens auf, daß ich oft ganz schwindlig
werde und alle Mühe habe, nicht verwirrt zu werden. Fast ist's zu viel. An
den drei Tagen, wo ich von 11- 1 Uhr keinen Kursus bei Virchow habe, schieße
ich bei Kölliker die Entwicklungsgeschichte, welche ich schon einmal gehört
habe und mir so ziemlich alles angeeignet habe. Nur das außerordentliche
Interesse dieser unstreitig anziehendsten und wichtigsten aller organischen
Naturwissenschaften, auf der die ganze neue vergleichende Anatomie ruht,
sowie der außerordentlich klare und morphologisch anschauliche Vortrag
Köllikers, von schönen Zeichnungen begleitet, haben mich bewogen, den
Vortrag dieser Sachen, die ich fast auswendig kann, noch einmal anzuhören. -
. . .
Von 4-5 Uhr kommt nun das theoretische Kolleg von Virchow über spezielle
pathologische Anatomie, was zwar nicht so ausgezeichnet schön, aber doch
sehr gut, ansprechend und belehrend ist. Virchows Vortrag ist zwar nicht
sehr fließend und glatt, aber frisch, kompakt und durch einen eigentümlichen
höhern und allgemeinen Standpunkt, von dem aus er alle Dinge betrachtet, und
so auch das trockenste, einzelste Detail anziehend macht, ausgezeichnet. Oft
ist er dazu noch ausgezeichnet witzig und amüsiert uns dadurch sehr. So fing
er z. B. neulich seinen Vortrag so an: Meine Herren! Sie sehen hier zunächst
den gewichtigen Schädel eines Wächters der allgemeinen und öffentlichen Ruhe
(d. h. Nachtwächters) mit einem starken Hieb, den dieser edle Staatsbürger
in der Ausübung seines gefühlvollen und sinnigen Amtes erhielt. Da er
glücklicherweise die Heilung der sehr tiefen Wunde, die bis auf das Gehirn
ging, bloß seiner Mutter Natur überließ, so heilte sie sehr gut. Nach zwei
Jahren war er aber so töricht, als ihn ein leichter Schnupfen befiel, sich
zur Kur desselben einem Medicus practicus anzuvertrauen, an dessen
kunstgerechter Behandlung er denn auch bald glücklich zugrunde ging! usw.
usw. - Um 5 Uhr ist nun die Kollegienreihe, die mit einer Stunde
Mittagsunterbrechung von 7 Uhr früh an dauert, glücklich vorüber. Nur an
zwei Tagen habe ich noch mit meinen Bekannten einen "physiologischen
Experimentierkursus" von 5-7 Uhr bei den Professoren Kölliker und Heinrich
Müller, eigentlich nur als Anstandskolleg, angenommen. Viel lernt man grade
nicht darin, da beide weder Experimentatoren noch Physiologen (im
eigentlichen Sinn) sind. Jedoch kann man sich doch mit den Leuten über
allerlei unterhalten und lernt nebenbei auch selbst etwas Geschicklichkeit
in der Anstellung physiologischer Experimente . . .
 Inhaltsverzeichnis
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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