Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
93. Brief
Würzburg, 27. 8. 1856.
Liebste Eltern!
. . . Den Tag meiner Abreise habe ich noch nicht bestimmt und werde ihn ganz
danach einrichten, ob Ihr noch herkommt oder nicht. Gebt Ihr den Besuch
Würzburgs wirklich auf, wie Ihr im letzten Briefe bestimmt schriebet, so
würde ich bereits am 5. oder 6. September von hier mit dem Dr. Kunde, der
bis dahin noch auf mich warten will, abreisen. Wir würden dann über Basel,
den Bieler und Neuchateller See nach Lausanne gehen und ich mich an dem
herrlichen Genfer See ein paar Tage aufhalten können. Dies wäre mir
namentlich deshalb sehr lieb, weil Clapar*de, der mich dringend gebeten hat,
ihn doch ja auf seinem schönen Landsitz Clermont bei Genf zu besuchen, jetzt
dort (zu Haus) ist. Auch würde ich mir einige schöne Orte, die ich sonst im
Fluge durcheilen müßte, dann genauer ansehen können. Dieser Teil der Schweiz
und namentlich der Genfer See soll allerdings so reizend sein, daß ich schon
große Lust dazu hätte. Indes bitte ich Euch dringend, Euch dadurch
keineswegs von dem Besuch Würzburgs abhalten zu lassen, im Falle Ihr mich am
6. oder 7. September noch hier besuchen wolltet. Ich würde dann erst am 8.
von hier abreisen, da ich erst am 11. notwendig in Vevey sein muß, wenn ich
am 12. mit Kölliker von dort abreisen will. Den Genfer See, Genf, Lausanne
usw. sehe ich doch vielleicht mal später wieder, und welche Freude Ihr uns
durch Euren Besuch machen würdet, wißt Ihr ja . . .
Nun ade, du altes Würzburg! Nun ade, zum letztenmal! - Wie oft habe ich mir
schon gesagt: "Nun ade, zum letztenmal!" und immer bin ich wieder gekommen.
Jetzt müßte es aber doch schon sehr sonderbar zugehen, wenn ich das alte
Nest nochmal wiedersehe, d. h. längere Zeit darin bleiben sollte! Hier bin
ich zuerst Mensch, Mediziner, Naturforscher geworden, hier habe ich erst die
köstlichsten Seiten unserer herrlichen Wissenschaft kennen und ergründen
gelernt! Hier habe ich die besten Freunde und Lehrer gefunden, hier habe ich
erst aus mir selbst heraus und in das Leben hinein treten lernen! Hab'
tausend Dank, du altes Würzburg, nie werde ich dir diese Verdienste
vergessen, wenn du mir auch dabei bittere und katzenjämmerliche Lehrstunden
genug gegeben hast! . . .
Seid aufs herzlichste gegrüßt von
Eurem dankbaren, Euch innigst liebenden alten jungen Ernst.
 Inhaltsverzeichnis
Brief 92................................
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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