| |
|
Der Sturz Haeckels |
Der Sturz Haeckels
Der Sturz Haeckels
Eine Abrechnung
von
Hugo C. Jüngst
Verlagsbuchhandlung Bruno Volger
Leipzig-Gohlis 1910
Ein Wort zuvor
Um dieser Schrift von vornherein die Stellung anzuweisen, die ihr
zukommt, erschien es mir wünschenwert, mit ein paar
einleitenden Bemerkungen den Standpunkt festzulegen, der für
mich als bisherigen Anhänger Haeckels bei der Herausgabe
maßgebend war. Der Kampf um Haeckel, der nun schon seit Jahren
die wissenschaftlichen Kreise in leidenschaftlicher Weise erregt, ist jetzt
in das Stadium getreten, in dem aus dem Gegenstand einer
wissenschaftlichen Debatte eine allgemeine
Kulturangelegendheit wurde, an der die gesamte gebildete Welt in
weitgehendstem Maße interessiert ist. Die wiederholten Versuche,
die Angelegenheit lediglich als einen Meinungstreit zwischen der
Vertretern verschiedener Weltanschauungen hinzustellen und dadurch
ihres eigentlichen Charakters zu entkleiden, sind in der Absicht zu
durchsichtig, als daß diese Verschiebung des Kernpunktes der
Frage einen objektiv Urteilenden irgendwie beeinflussen könnte.
Es handelt sich bei dem Fall Haeckel durchaus nicht um
Monismus oder Christentum, nicht um den wissenschaftlichen
Wert der Entwicklungslehre, sondern es handelt sich lediglich um
Haeckel und uns, das heißt seine bisherige, nach Tausenden
zählende Anhängerschaft, es handelt sich darum, ob das
deutsche Volk fernerhin gewillt ist, einem Manne, der nach langem
Drehen und Wenden die "Fälschung" angeblich wissenschaftlicher
Beweisstücke zugeben mußte, die unbedigte Gefolgschaft zu
leisten, die ihm bisher vertrauensvoll gewährt worden ist. Und
diese schwerwiegende Frage gilt dann weiterhin auch für die
Vertreter der Wissenschaft überhaupt, soweit sie sich nicht
unzweideutig von dem Vorwurf der Mitschuld reinigen. An
wissenschaftlichen Umgehungen des Kernpunktes der Angelegenheit ist
genug geschehen; jetzt haben die Laien das Wort. In einer Zeit, in der die
Popularisierung naturwissenschaftlicher Ergebnisse eine Modesache
geworden ist, haben wir ein sehr großes Interesse daran,
festgestellt zu sehen, wie diese angeblichen "Ergebnisse der
Wissenschaft" denn eigentlich zustande gekommen, ob wir es mit
einwandfreiem Tatsachenmaterial oder mit Spekulationen
phantasiereicher Köpfe zu tun haben. Ist letzteres der Fall, so wird
kein ernsthafter Wahrheitssucher diesen Forschungsresultaten der
modernen Wissenschaft künftighin irgendwelchen Einfluß
auf die Entwicklung seiner Weltanschauung einräumen. Die
Affäre hat in ihrem bisherigen Verlauf so eigenartige
Enthüllungen aus den Hexenküchen der modernen
Wissenschaft zutage gefördert, daß eine reinliche Scheidung
unbedingt nottut. Mögen sich die Vertreter der Wissenschaft mit
klugem Augurenlächeln gegenseitig vormachen, soviel
ihnen behagt; uns, die wir ernste Wahrheit suchen, mögen sie in
Zukunft mit solchen wissenschaftlichen Ergebnissen, die lediglich
Phantasieprodukte sind, ungeschoren lassen. Eine Wissenschaft, die
nicht mehr das Vertrauen der gebildeten Welt besitzt, hat keine
Existenzberechtigung. - Unter diesen Gesichtspunkten erscheint mit jetzt
eine Kundgebung aus den bei dieser Angelegenheit besonders
interessierten Laienkreisen notwendig.
Dresden, im Juni 1910
Kyffhäuserstraße 30.
Hugo C. Jüngst
Seit den 9. Januar 1909 bis zu dem Augenblicke, in dem ich mich zu
diesen Ausführungen niedersetze, bedeutete jeder neue Tag
für mich eine neue Enttäuschung. Ich hatte erwartet,
daß die öffentliche Meinung Deutschlands, insbesondere aber
die wisenschaftliche Welt, von einem Sturm der Entrüstung
erschüttert worden wäre, von einer Entrüstung, die
ein flammender Beweis dafür sein würde, daß auch
heute noch die strenge Wahrhaftigkeit eine deutsche Tugend sei, die
auch ein Großer im Reiche des Geistes nicht ungestraft verlassen
dürfe. Aber nichts von alledem ist geschehen. Selbst der Teil der
Tagespresse, der sich bei anderen Gelegenheiten nicht den kleinsten
Quark entgehen läßt, der eine sensationell wirkende
Ausbeute verspricht, blieb mäuschenstill, und die paar
Blätter, die von den hier in Frage kommenden Tatsachen Notiz
nahmen, taten das mit ganz wenigen rühmlichen Ausnahmen in
einer Weise, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache
auf der Welt, von der keinerlei Aufheben zu machen sei.
Was war den Großes geschehen? Was konnte die Welt neben den
damals eintreffenden Schreckensnachrichten aus Messina, neben den
Mutmaßungen der politischen Kannegießer über die
erhoffte Geburtstagskundgebung des deutschen Kaisers, neben dem
martialischen Gebahren der kleinen Gernegroße auf dem Balkan
noch besonders interessieren? War etwa "dem alten Kämpen von
Jena" wieder einmal ein Fenster eingeworfen worden? Oder war er von
einem der Großen unserer Zeit zur Tafel geladen worden? Oder
hatte er gar das so eifrig gesuchte Bindeglied zwischen dem Affen und
Menschen leibhaftig entdeckt? Nichts von alledem! Sondern in der
"Münchner Allgemeinen Zeitung" hatte Professor Haeckel eine
Erklärung gegen seine alten Freunde vom Keplerbund losgelassen.
- Und das ist alles? Ein Gelehrtenstreit! - Ich höre schon die
erstaunten Rufe der Neunmalweisen, die sich baß darüber
wundern, daß jetzt post festum einer daherkommt und aus
der sounsovielten Erklärung Haeckels gegen Braß, Dennert
und Genossen eine Haupt- und Staatsaktion machen will. Denn nicht
wahr, für den gläubigen Anhänger Haeckels kann eine
solche Erklärung seines Herrn und Meisters nichts wesentlich
Neues bringen, und das, was die Gegner sagen, interessiert noch
weniger; denn diese gehören ja doch nur zu der großen
Masse derer, die nicht alle werden. Wie sollte es auch möglich
sein, daß sei eine gelegentliche Erklärung plötzlich das
Gegenteil von dem aussprechen könnte, was bis dahin als
unumstößliche Tatsache gegolten hat? Ich kann mir denken,
daß selbst manche Anhänger der Haeckel'schen Theorien,
denen die fragliche Erklärung zu Gesicht gekommen ist, dieselbe
nicht mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen haben, als sie sahen,
daß es sich dabei um den alten, so und so oft von Haeckel
"gründlich widerlegten" Vorwurf der Fälschung seiner
Embryonenbilder handelte. Nur so ist es zu erklären, daß die
Kundgebung so ganz unter Ausschluß der breiten
Öffentlichkeit erfolgen konnte, ohne die Kreise zu ziehen, die ihr
mit Naturnotwendigkeit hätten folgen müssen. Oder soll man
das Ungeheuerliche annehmen, daß es sich um ein bewußtes
Totschweigen einer peinlichen Tatsache handelt? . . . Denn für
jedem objektiv urteilenden Menschen steht es außer Zweifel,
daß mit dieser Erklärung der Sturz Haeckels besiegelt ist,
daß er durch diese Erklärung trotz seiner unbestreitbaren
Verdienste aus dem Reiche der führenden Geister unseres Volkes
ausgeschieden ist.
Wer meine bisherigen Arbeiten kennt, wird begreifen, wie schwer es
mir wird, diese Tatsache konstatieren zu müssen. Ich habe nie ein
Hehl daraus gemacht, daß ich zu den Anhängern Haeckels
gezählt habe, und noch wenige Wochen vor dem Erscheinen der
fraglichen Erklärung habe ich in meiner Besprechung des
Bölsche-Buches Haeckel mit Luther in Vergleich gestellt, eine
Zusammenstellung, die ich heute wie eine Blasphemie empfinde. Man
wird es daher verstehen, daß die genannte Erklärung
Haeckels für mich eine tiefe seelische Erschütterung
bedeutete, eine schmerzliche Loslösung von einer
Persönlichkeit, in der ich Jahre hindurch das Urbild eines
ritterlichen Kämpen für die Wahrheit, einen Geistesritter
ohne Furcht und Tadel verehrt habe.
Und damit zur Sache selbst.
Das es sich bei der fraglichen Erklärung um die wiederholt
erhobene Beschuldigung handekt, Haeckel's Embryonenbilder, in denen
er die lückenlose Entwicklung des Affen vom Menschen bildlich
darstellte, seien gefälscht, wurde schon angedeutet. Um diese
Embryonenbilder tobt schon seit langen Jahren ein heftiger
wissenschaftlicher Streit. Immer wieder wurde die Behauptung von den
angeblich gefälschten Embryonenbildern aufgestellt, um jedesmal
ebenso prompt von Haeckel und seinen Anhängern in
leidenschaftlicher Weise bestritten zu werden. Das es dabei nicht immer
salonfähig herging, daß hüben und drüben
Ausdrücke von einer lapidaren Drastik fielen, liegt in der Natur
der Sache. Ich habe nie etwas Herabsetzendes für Haeckel darin
gefunden, daß er die Behauptunen mit größter
Schärfe zurückwies und dabei seine Gegner nicht gerade mit
Glacehandschuhen anfaßte. Wenn die Beschuldigungen falsch
waren, konnten sie gar nicht scharf genug abgewehrt werden; denn
dabei stand so außerordentlich viel auf dem Spiel, daß man
wirklich nicht darnach fragen konnte, ob bei diesen
Auseinandersetzungen stets der gute Ton gewahrt wurde. Man denke
doch nur an die Stellung Haeckels als Lehrer der akademischen Jugend,
man denke an den ungeheuren Einfluß, den seine Werke gewonnen
haben, und man wird verstehen, daß die Behauptung, auch nur
einzelne der bildlichen Darstellungen seien gefälscht, eine
Ungeheuerlichkeit ersten Ranges bedeuteten. Denn der ganze
Einfluß Haeckels auf das große Publikum basiert doch in
erster Linie auf Treue und Glauben. Nur der exakte
Naturwissenschaftler hat vielleicht die Möglichkeit, die
Darstellungen Haeckels wirklich nachzuprüfen. Uns anderen bleibt
nichts übrig, als zu glauben. Wenn daher ein Mann wie Haeckel
dazu überging, mit seinen Arbeiten aus den wissenschaftlichen
Kreisen herauszutreten, wenn er wie kein anderer vor ihm, es
unternahm, die umwälzenden Resultate seiner Forschung in das
große Publikum zu werfen, dann mußte man das Eine als
unbedingte Voraussetzung annehmen, daß es für ihn keinen
Zweifel mehr gab, daß er vor allem jeder Zeit in der Lage war, seine
Theorien an der Hand untrüglicher Beweise zu bekräftigen.
Diesem Manne konnte gar kein schwererer Vorwurf gemacht werden,
als daß seine Beweisstücke auf Fälschungen, also nicht
etwa auf Irrtümern, sondern auf bewußten
Fälschungen beruhen. Kein Wort war stark genug, gegen eine
derartige Beschuldigung zu protestieren. Darum habe ich stets mit
Genugtuung begrüßt, wenn Haeckel in wildem Teutonenzorn
gegen seine Ankläger losfuhr; wenn er z. B. Dr. Braß
gegenüber erklärte: "Die jämmerlichen
Verleumdungen, die Herr Dr. Arnold Braß neuerdings
über mich in die Welt setzt, sind die dreistesten Lügen, die
mir in meinem langen, vierzigjährigen Kampfe um die Wahrheit
vorgekommen sind;" - und wenn er in feierlicher Öffentlichkeit
aussprach: "der mir gemachte Vorwurf der Täuschung ist unwahr."
Derartige unzweideutige Erklärungen mußten für alle,
die in Professor Haeckel ihren geistigen Führer erblickten,
genügen; denn er besaß das Vertrauen des Volkes in
weitestem Maße. Es hat auch mir genügt, und wenn auch der
Umstand, daß geistig so hochstehende Männer wie Virchow,
Du Bois Reymond, Professor Reinke u. a. m. immer wieder die
Wissenschaftlichkeit der Haeckel'schen Beweisführung bestritten,
mich hin und wieder stutzig gemacht hat, so waren meine Sympathien
doch immer zu sehr auf Seiten des Jenenser Forschers, als daß ich
in die unzweideutigen Erklärungen Haeckels auch nur einen
Zweifel hätte setzen können. Auch die Wissenschaft kann
irren, und es hat noch keinen Verkünder einer neuen Lehre
gegeben, der nicht den Widerspruch der herrschenden Wissenschaft
gefunden hätte; uns blieb nichts übrig, als der
fortschreitenden Entwicklung die Klärung der wissenschaftlichen
Streitfragen - nur als solche konnten wir die Gegensätze
betrachten, - zu überlassen, und der Umstand, daß die
Angriffe und erneuten Beschuldigungen in letzter Zeit mehr und mehr
von einer Gruppe aufgenommen wurden, die über ihre
religiösen Tendenzen keinen Zweifel ließ, legte dem
unparteiischen Beobachter den Gedanken nahe, daß bei den
Angriffen auf Haeckel doch wohl tentenziöse Leidenschaften eine
Rollen spielten. Und man weiß, daß dieser Gedanke auf einen
echten Haeckelianer wirkt, wie - ich spreche pro domo - ein rotes
Tuch auf ein gewisses Tier.
Aber die Angriffe wollten nicht verstummen. Da erschien Anfang
vorigen Jahres in der "Münchener Allgemeinen Zeitung" ein
"Eingesandt", in dem Professor Haeckel aufgefordert wurde, doch endlich
einmal zu erklären, wie es sich um die Embryonenbilder nun
tatsächlich verhalte. Das Interesse der Sache und "das
Forscheransehen und die Ehre eines bisher in weitesten Kreisen
hochangesehenen Mannes" erforderten dringend eine einwandfreie
Klarstellung. - Diese Forderung mußte jedem objektiv Denkenden
berechtigt erscheinen und insbesondere uns Anhänger Haeckels
erschien diese Aufforderung eine willkommene Gelegenheit, der ganzen
Haeckelhetze mit einem Schlage die Spitze abzubrechen. Wenn die
umstrittenen Zeichnungen echt waren, woran ich keinen Augenblick
zweifelte, so mußten ja zweifellos die Originale, vielleicht sogar die
Originalpräparate, vorhanden sein, mit deren Vorzeigen Professor
Haeckel jeden weiteren Zweifel beseitigen konnte. Also unsere Sache
stand gut; ich muß sagen, daß das Eingesandt des Dr. H.
mir einen fröhlichen Tag bereitet hat.
Drei Wochen später erschien in demselben Blatte (Nr. 2 von 9. Jan.
1909) Haeckels Entgegnung: "Fälschungen der Wissenschaft", ein
umfangreiches Elaborat von ca. 300 enggedruckten Zeilen, reichlich
gespickt mit Ausfällen nach den verschiedensten Seiten, mit einer
Reihe peinlich wirkender persönlicher Angriffe namentlichen
gegen Herrn Dr. Braß, einen der unermüdlichsten
Verfechter der Fälschungsbehauptungen. Man merkte eine
Gereiztheit und Aufgeregtheit, die bei dieser Gelegenheit, bei der nur
eine einfache sachliche Feststellung am Platze war, einigermaßen
befremdend wirkte. Und wo blieb die Hauptsache? Nur ein kleiner
Absatz von ca. 30 Zeilen beschäftigte sich mit dem Kernpunkte der
ganzen Angelegenheit, den Embryonenbildern. Und was stand da zu
lesen? Ich muß die fragliche Stelle wörtlich hierhersetzen,
um jedem Leser Gelegenheit zu geben, Unbegreifliches Ereignis werden
zu sehen. Man traut nach all dem Vorausgegangenen seinen Augen
nicht, wenn man liest:
"Die gefälschten Embryonenbilder". Um dem ganzen
wüsten Streite kurzerhand ein Ende zu machen, will nur gleich mit
dem reumütigen Geständnis beginnen, daß ein
kleiner Theil meiner zahlreichen Embryonenbilder (vielleicht 6 oder 8
vom Hundert) wirklich (im Sinne von Dr. Braß)
"gefälscht" sind - alle jene nämlich, bei denen das
vorliegende Beobachtungsmaterial so unvollständig oder
ungenügend ist, daß man bei Herstellung einer
zusammenhängenden Entwicklungskette gezwungen wird, die
Lücken durch Hypothesen auszufüllen und durch
vergleichende Synthese die fehlenden Glieder zu rekonstruieren.
Welche Schwierigkeiten diese Aufgabe hat, und wie leicht der Zeichner
dabei fehlgreift, kann nur der Embryologe vom Fach beurteilen.
Professor Tartüffe (So nennt Haeckel in seiner Gehässigkeit
den mit Dr. H. zeichnenden Verfasser des vorgegangenen
Eingesandt) verlangt daher mit einen Schein von Recht: "Jetzt haben
zunächst die deutschen Embryologen das Wort, sie müssen
sich unbedingt dazu äußern. - Dann aber muß man vor
allem dringend wünschen, daß Haeckel selbst eingehend und
fachlich darlegt, auf welche Weise jene Bilder zustande gekommen sind,
wo sich die Originalpräparate befinden usw. Jede andere Antwort
Haeckels, selbst eine gerichtliche Klage, würde das deutsche Volk
nicht verstehen können!" - Eine köstliche Idee, das deutsche
Volk - oder selbst ein auserlesenes Kollegium von scharfsinnigen
Juristen! - als Richter über den Wert von Embryonenbildern zu
setzen, zu deren Verständnis und Beurteilung ein
mehrjähriges schwieriges Studium der vergleichenden Anatomie
und Embryologie gehört. Und wer unsere "deutschen
Embryologen" kennt, mit ihren weit auseinandergehenden Zielen und
Methoden, ihren widersprechenden allgemeinen Ansichten und
Vorurteilen, der wird von vornherein von ihnen kein
übereinstimmendes Urteil in dieser hochpeinlichen
Gerichtsverhandlung erwarten können.
Exakte und schematische Bilder. Nun würde ich nach
diesem belastenden Eingeständnis der "Fälschung" mich
für "gerichtet und vernichtet" halten müssen, wenn ich nicht
den Trost hätte, neben mir auf der Anklagebank Hunderte von
Mitschuldigen zu sehen, darunter viele der zuverlässigsten
Beobachter und der angesehensten Biologen. Die große Mehrzahl
nämlich von allen morphologischen, anatomischen, histologischen
und von embryologischen Figuren, welche in den besten
Lehrbüchern und Handbüchern, in biologischen
Abhandlungen und Zeitschriften allgemein verbreitet und
geschätzt sind, verdienen den Vorwurf der "Fälschung" in
gleichem Maße. Sie alle sind nicht exakt, sondern mehr oder
weniger "zurechtgestutzt", schematisch oder "konstruiert". Vieles
unwesentliche Beiwerk ist weggelassen, um das Wesentliche in der
Gestalt und Organisation klar hervortreten zu lassen". - Soweit der
Erklärung Haeckels.
Wenn man Jahre hindurch im öffentlichen Leben steht, wird man
Manches gewöhnt, und das Überraschtwerden
gewöhnt man sich so nach und nach ab; aber ich muß doch
sagen, daß lange nichts so vollständig überraschend auf
mich eingewirkt hat, wie diese Erklärung, mit der eine
Rechtfertigung beabsichtigt hat, mit der aber das Gegenteil erreicht
wird. Denn der übergroße Wortschwall, die giftigen
Ausfälle und Seitenhiebe und die unerhörte Behauptung,
daß derartige Fälschungen etwas für wissenschaftliche
Kreise ganz Selbstverständliches seien, das alles kann nicht
über die Tatsache hinweghelfen, daß Haeckel hier endlich
eingesteht, was er Jahre hindurch bestritten und im Brustton tiefster
Entrüstung als eine "jämmerliche Verleumdung"
zurückgewiesen hat. - Es ist nicht meine Aufgabe, die
Wissenschaft gegen die Beschuldigung Haeckels zu verteidigen. Ja selbst
wenn unsere heutigen Gelehrten die Gewissenlosigkeit
besäßen, Phantasiebilder für Abbildungen
wissenschaftlichen Charakters auszugeben, hätte der
Wahrheitsapostel Haeckel ein Recht, sich darauf zu berufen? Und
überdies besteht ein großer Unterschied darin, ob ich
"unwesentliches Beiwerk einer Zeichnung weglasse, um das Wesentliche
in der Gestaltung und Organisation hervortreten zu lassen", oder ob ich,
- wie Haeckel das getan hat, - an der einen Stelle Wesentliches fortlasse,
weil es nicht zu meiner Theorie paßt, und an der anderen Stelle
Wesentliches hinzumale, was tatsächlich nicht dahin gehört.
Denn was Professor Haeckel unter dem harmlos klingenden Ausdruck
"Rekonstruktionen" verstecken will, wird uns klar, wenn man hört,
daß er z. B. dem geschwänzten Makak-Embryo von Selenka
15-16 Wirbel fortgenommen und dann "Gibbon" darunter geschrieben
oder dem Menschen-Embryo von His Schwanzwirbel hinzugefügt
hat, um auf diese Weise die Entwicklungslinie "vom Urtier zum
Menschen" lückenlos zu demonstrieren. Auf diese bequeme Art
läßt sich natürlich viel "beweisen"! Ich behaupte: "Die
Sonne ist ein Viereck." - Sie glauben das nicht? Hier ist der Beweis:
(Zeichnung)
Oder ich behaupte: Der Mond ist eine Elipse und male zum
Beweise eine Elipse hin und schreibe Mond darunter. Wenn das
wissenschaftlicher Brauch ist, haben wir es ja herrlich weit
gebracht;
dann ist man in Versuchung zu behaupten: "Wir Laien sind doch bessere
Menschen!"
Ganz unverständlich ist mir der überlegen ironisierende Ton
der Erklärung. Sollte Professor Haeckel sich des Ernstes der
Situation wirklich nicht bewußt gewesen sein? Oder ist es schon
der Galgenhumor, was ihn veranlaßt, sich über das Vertrauen
des deutschen Volkes lustig zu machen? hat er keinen Augenblick daran
gedacht, daß auch Tausende seiner Anhänger dieser
Erklärung mit Spannung entgegen sehen mußten? . . .
Daß gerade seine Anhänger durch diese Kundgebung am
schwersten getroffen wurden? Denn ihr Vertrauen ist damit in einer
Weise lächerlich gemacht worden, die ohne Beispiel in der
deutschen Geistesgeschichte ist. Ich weiß manchen Haeckelfreund,
der nach dem Lesen dieser Rechtfertigung schweigend das Bild des einst
so hochgeehrten Führers von der Wand genommen hat, um es
für immer verschwinden zu lassen. Und wie vielen Freunden, die
erst durch diese Blätter Kunde von den Dingen erhalten, wird
dadurch vielleicht eine schwere Stunde bereitet werden; denn es ist
nicht leicht, eine Persönlichkeit, zu der man als einem geistigen
Führer emporgeblickt hat, einen so jähen Sturz tun zu sehen.
- Nach einer gerichtlichen Behandlung des Falles wird kein Mensch
mehr Verlangen tragen. Wir wissen genug. Aber was dem Herrn
Professor als eine so "köstliche Idee" erscheint, "das deutsche Volk
- oder selbst ein Kollegium von scharfsinnigen Juristen - als Richter
über den Wert von Embryonenbildern zu setzen", das
gerade verleihe ja dem Falle eine tiefernste Bedeutung. Gewiß ist
weder das deutsche Volk noch irgend ein Gerichtshof im Stande, den
wissenschaftlichen Wert von Embryonenbildern zu beurteilen. Nach
dieser Seite ist der Herr Professor allerdings gut gedeckt; denn in diesen
Dingen sind wir alle der exakten Wissenschaft gegenüber auf Treu
und Glauben angewiesen. Wenn da einer herkommt, und uns den blauen
Dunst seines überreizten Hirnes als wissenschaftliches
Forschungsresultat vordemonstriert, sind wir in den wenigsten
Fällen in der Lage, die Wahrheit vom Trug zu trennen und
beurteilen zu können, welcher Wert den Vorführungen
zukommt. - Aber hat Professor Haeckel wirklich kein Gefühl
dafür, wie sehr er sich mit dieser hämischen Bemerkung
sein Urteil spricht? Gerade der Umstand, daß uns eine
Nachprüfung seiner Behauptungen unmöglich ist,
läßt die Handlungsweise Haeckels als so unerhört
erscheinen. Denn was ist es gewesen, was gerade Haeckel seine Stellung
als ein geistiger Führer unseres Volkes, als Begründer einer
neuen Weltanschauung geschaffen hat und allein für alle Zeiten
sichern konnte? Ist es seine Forschungsarbeit allein gewesen? Sicher
nicht! Wir haben Forscher, die auf dem wissenschaftlichen Gebiete
mindestens Gleichwertiges geleistet haben, und die doch nicht die
Vertrauensstellung einnehmen, die Haeckel bei einem großen Teile
unserer Volksgenossen errungen hat. Mit der Kraft eines neuen
Evangeliums haben Haeckels Schriften in weiten Kreisen unseres Volkes
gewirkt, und wenn es auch zum großen Teil die Halbbildung war,
auf die er Einfluß gewonen hat, so darf doch nicht vergessen
werden, daß auch Tausende ernstdenkende Sucher in den
Bannkreis der Lehren Haeckels gezogen worden sind. Mit blindem
Vertrauen sind die Massen den Spuren des alten Kämpen von Jena
gefolgt, unwiderlegbar überzeugt von der absoluten Lauterkeit
seines Charakters, soweit seine wissenschaftliche Arbeit davon
berührt wurde. Wem viel gegeben ist, von dem wird viel verlangt.
Eine solche Stellung legt ernste Verpflichtungen auf; denn sie bedeutet
eine ganz außergewöhnliche Verantworung. Man wird der
Wissenschaft nicht verwehren können, Hypothesen zu bauen und
Theorien aufzustellen, von Bekanntem auf Unbekanntes zu
schließen, die Phantasie da in Wirkung treten zu lassen, wo die
Erfahrung nicht ausreicht. Darin liegt so lange nichts Gefahrbringendes,
so lange sich dieses Beginnen im Rahmen des rein wissenschaftlichen
Milieus hält, wo die nüchterne Nachprüfung der
Mitforschenden dafür sorgt, daß die Bäume der
Phantasie nicht in den Himmel des blauen Unsinns wachsen. Es ist
darum bisher ein schöner Brauch der ernsten Wissenschaft
gewesen, mit der Popularisierung neuer Erkenntnisse so lange zu
warten, bis die in Frage kommenden Probleme nach jeder Seite hin
geklärt und einwandfrei befestigt waren. - Ich werde bei keinem
Leser, der mein bisheriges Wirken kennt, in den Verdacht kommen, der
Aufklärung als solcher feindlich gegenüberzustehen und einer
Verdummungspolitik das Wort zu reden, aber kein objektiv Denkender,
dem das geistige Wohl des Volkes am Herzen liegt, kann es gut
heißen, wenn unfertige Probleme in die Massen geworfen und die
Grundlagen einer Kultur untergraben werden, bevor wir Besseres an
ihre Stelle zu setzen wissen. Wo die geistigen Lebensfragen auf dem
Spiel stehen, sind die Dinge zu ernst, als daß wir dem Leichtsinn,
der niederreißt ohne aufbauen zu können, das Feld
überlassen sollten. Des lauten Beifalls der urteilslosen Menge wird
diese Art der "Aufklärung" allerdings immer sicher sein, aber "ihr
Beifall selbst macht meinem Herzen bang". Es geht ein Zug geistiger
Opposition durch unsere Zeit, der sich wahllos gegen alles kehrt,
was durch die Tradition geheiligt ist; nicht aus dem Drange nach
Wahrheit, sondern aus Lust am Skandal. Wir leiden unter einem
falschen Kraftmeiertum, das die blindwütige Verneinung für
ein Heldenstück ansieht und sich einbildet, wunders was zu
leisten, wenn heute gelästert wird, wo unsere Väter gebetet
haben. Auch auf dem Gebiete des geistigen Lebens unserer Tage macht
sich die Sensationssucht in bedenklicher Weise geltend.
Gewiß kann das alles kein Grund dafür sein, mit der
Verbreitung der Wahrheit zurückzuhalten, wenn sie als solche
erkannt ist; denn es geht nichts über die Wahrheit. Wer aber auf
seiner Lehre eine neue Weltanschauung aufbauen will, wer also aus dem
Grenzen der rein wissenschaftlichen Betätigung heraustretend auf
die breiten Massen wirken will, der muß sich der schweren
Verantwortung, die er damit übernimmt, wohl bewußt sein,
der muß die tiefe Überzeugung des Nazareners haben:
"Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht
vergehen"; der muß ein Fundament haben, das vor jeder
Prüfung bestehen kann. - Professor Haeckel ist einer von denen
gewesen, die der Welt eine neue Weltanschauung bringen wollten, eine
Weltanschauung, die - (das hat sie offen ausgesprochen) - Tausenden das
ihnen teure Gut ihrer religiösen Überzeugung geraubt hat,
die diesen Tausenden aber auch einen neuen Halt in der Wirrnis dieses
Daseins bieten sollte. Es ruht eine so schwere Verantwortung in dieser
Stellung, daß nur ein Mensch sie zu tragen vermag, von dessen
Lauterkeit bis in die kleinsten Einzelheiten wir überzeugt sind, ein
Mensch von einer Wahrheitsstrenge, die auch nicht die kleinste
Konzession an vorgefaßte Hypothesen gestattet, ein Mensch, der in
der geringsten Beugung der Tatsachen zu gunsten seiner Anschauungen
ein Verbrechen erblickt. Gerade weil wir nicht in der Lage sind, die
Richtigkeit seiner Feststellungen zu kontrollieren, hatte Haeckel die
heilige Pflicht, streng bei der Wahrheit zu bleiben, zum allermindesten
aber von vornherein bekannt zu geben, wenn er seiner Bilderreihe
einige fehlende Stücke hinzuphantasierte, um die Reihe
lückenlos erscheinen zu lassen. - Ob viel oder wenig Bilder
gefälscht sind, spielt für die ethische Beurteilung des Falles
nur eine untergeordnete Rolle. Eins war schon zu viel! Wer eine goldene
Kette mit einigen gefälschten Ringen für echt verkauft,
handelt nicht minder verwerflich, wie der, welcher die ganze Kette
fälscht. Und was kann uns jetzt noch veranlassen, zu glauben,
daß wirklich nur 6-8 Bilder vom Hundert gefälscht sind?
Haeckel hat früher mit demselben Brustton der
Überzeugung erklärt: "der mir gemachte Vorwurf der
Täuschung ist unwahr!" Jetzt erklärt er: "ich habe euch zwar
wie die Narren an der Nase herumgeführt, aber doch nur an der
Nasenspitze. Und übrigens haben die anderen das auch getan!" -
Dieses Verkriechen hinter die Mitschuld anderer nach der Art eines
ertappten Schulbuben macht einen geradezu jammervollen Eindruck. Ich
bin mit der Praxis unsrer wissenschaflichen Kreise nicht hinreichend
vertraut, um beurteilen zu können, ob der "Rekonstruktions"-
Schwindel wirklich in dem Maße an der Tagesordnung ist, wie
Professor Haeckel uns glauben machen will. Eine Gegenerklärung
der betroffenen Kreise ist mir bis heute nicht zu Gesicht gekommen.
Aber selbst gesetzt den Fall, es wäre wirklich so, daß die
große Mehrzahl der wissenschaftlichen Abbildungen "konstruiert"
seien, läge darin eine Entschuldigung für Haeckel? Ist es
nicht absurd, wenn ein Mann, der sich mit Wohlgefallen als Stifter einer
neuen Religion feiern läßt, derartig faule Entschuldigungen
ins Feld führt, um sich nicht "gerichtet und vernichtet" zu
fühlen? Haben die "Hunderte Mitschuldigen" auch die
Fälschung ihrer Zeichnungen ebenso bestritten, wie das Haeckel
Jahre hindurch getan hat? Haben auch sie die Männer, die in
ernstem Wahrheitsdrange den Vorwurf der Fälschung erheben
mußten, mit Hohn uns Spott überschüttet, sie als
Verleumder und Heuchler gebrandmarkt, wie das Haeckel getan hat,
trotzdem er nun zugeben muß, daß diese Männer Recht
hatten? Wenn diese Bilderfälschungen eine so
selbstverständliche Sache in unseren wissenschaftlichen Kreisen
sind, was konnte dann Professor Haeckel hindern, von vornherein
zuzugeben, daß es sich um "Zurechtstutzungen" handelt? Warum
denn Jahre hindurch diese tobende moralische Entrüstung ob der
Anklagen? eine Entrüstung, die doch nur verständlich ist,
wenn durch die Beschuldigungen seine Forscherehre gefährdet
war . . . Man wird wohl mit Recht annehmen fürfen, daß die
hartnäckige Ableugnung der Fälschungen tieferen,
wohlerwogenen taktischen Gründen entsprang. Gegenüber
dem frommen, bescheidenen Glauben der Väter entfaltete
Haeckel das Banner des Wissens. Aus dem Dämmerlichte
des "religiösen Truges" wollte er die Menschheit
hinausführen auf die Sonnenhöhen der Wissenschaft, auf
denen alle Fragen klipp und klar gelöst erscheinen, die
Generationen hindurch die Menschheit so tief beschäftigt haben.
Es gehörte schon gewisser Mut dazu, unter diesen
Umständen zuzugeben, daß doch nicht alles und jedes so
geklärt war, als Haeckel uns glauben machen wollte. Daß die
Welträthsel nach wie vor Welträthsel blieben, wenn wir
nicht die wissenschaftlich befruchtete Phantasie zu Hilfe nahmen;
daß auch er nur einen neuen Glauben bringe, den Glauben
an die Wissenschaft und die Unfehlbarkeit der Spekulationen
wissenschaftlich geschulter Köpfe. Also Glauben hier und Glauben
dort. Die Frage ist nur, wem fürderhin geglaubt werden solle. Es ist
klar, daß Haeckel bei einer derartig ehrlichen Kennzeichnung der
Situation schwerlich den Anhang und Einfluß gewonnen
hätte, den er dadurch errungen hat, daß er jede
Möglichkeit eines Irrtums als vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus ausgeschlossen erklärte. Und da die
Unfehlbarkeit seiner Kombinationen mit tatsächlichen Beweisen
nicht zu belegen war, weil diese Beweise fehlten, mußten eben die
Fälschungen herhalten. Und wenn er jetzt die Notwendigkeit
zugibt, dem vielgepriesenen Wissen durch "Zurechtstutzungen" und
"Rekonstruktionen" nachhelfen zu müssen, so geschah das
vielleicht nur, weil die neueste Entwickelung der Dinge doch nicht zu
halten war. Denn darüber kann ja bei keinem Kundigen mehr ein
Zweifel herrschen, daß der Materialismus auf der ganzen Linie im
Zurückweichen begriffen ist, und es hätte nicht erst dieses
moralischen Sturzes Haeckels bedurft, um der materialistischen
Gewaltherrschaft ein Ende zu bereiten. Nach geheimnisvollen Gesetzen
vollenden sich die Zeiten und Epochen geistiger Anschauungen, und wie
sehr wir uns einbilden, den Strom der geistigen Entwickelung nach
unserem Sinne lenken zu können: immer wieder kommt der Tag,
an dem wir die tiefe Wahrheit erkennen, daß wir alle nur Teile des
großen Stromes sind, der seinen Lauf vollendet, ohne sich Ziel und
Richtung vorschreiben zu lassen. Wer vor zehn Jahren noch die
Behauptung aufgestellt hätte, die moderne Geistesbewegung
werde in der Schaffung einer neuen Religionsanschauung ihren ersten
greifbaren Zielpunkt erhalten, der hätte des einstimmigen
Gelächters aller Beteiligten sicher sein können. Denn nichts
war den Brauseköpfen der achtziger und neunziger Jahre klarer,
als daß die religiöse Frage nun endgültig erledigt sei.
Die wissenschaftlichen Folgerungen unserer Materialisten hatten von
den Köpfen so ausschließlich Besitz genommen, daß
für metaphysische Spekulationen auch nicht die kleinste Gehirnzelle
mehr frei blieb. Die Welt in ihrem Wesen und Entstehen war ihnen so
klipp und klar ausgedeutet, daß es für das Wirken von
Kräften, die außerhalb der menschlichen
Bewußtseinssphäre liegen, schlechterdings keine
Möglichkeit mehr gab. Die Götter waren wieder einmal
gestürzt, und das Herrenmenschentum trat ihre Erbschaft an. Mit
unsäglicher Herablassung blickte man auf die Armseligen herab,
die sich immer noch ängstlich an die Tradition klammerten, aber
es lag viel Wohlwollen in dieser Herablassung. Mit dem Bewußtsein
der Selbstherrlichkeit paarte sich die ganze Großmut des Siegers;
denn trotz ihres kraftgenialen Gebahrens waren die Stürmer und
Dränger des 19. Jahrhunderts im Grunde genommen herzensgute
Leute. Selbst Jesus von Nazareth wurde in dieses Wohlwollen
hineingezogen. Zu keiner Zeit ist soviel und mit so "allerlei Achtung" vom
dem "Schwärmer aus Juda" gesprochen worden, wie in der Zeit, da
sich das vergangene Jahrhundert noch knapp vor Torschluß
anschickte, Epoche zu machen. Man glaubte dem Nazarener eine
besondere Ehrung zu erweisen, wenn man ihn mit der
höchsteigenen Persönlichkeit auf eine Stufe stellte. "Mein
Leben ist ein Kreuzweg, wie deines Jesu Christ", dichtete einer der
jungen Leute, und gab damit einen der Töne, mit denen damals
Musik gemacht wurde. Schnell fertig ist die Jugend nicht nur mit dem
Wort, sondern auch mit den Problemen. Der Oppositionswille, der immer
eine Begleiterscheinung jugendlichen Kraftgefühls ist und kritiklos
die Waffen gegen das Herkommen nimmt, wo er sie findet, erzeugte
einen Fanatismus in der religionsfeindlichen Anwendung der
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Aber diese Religionsfeindlichkeit
war nicht ohnen tieferen Grund. Der scharf ausgeprägte und mit
Leidenschaft kultivierte Wahrheitssinn der jungen Generation ließ
den tiefen Zwiespalt, der zwischen der christlichen Lehre und dem
allerchristlichen Leben unserer Zeit klafft, in schärfster Weise zum
Bewußtsein kommen; es erkannte, daß das, was ein heiliges
Credo der Lebensführung hätte sein sollen, nur eine hohle
Form, wenn nichts Schlimmeres geworden war. Und der Zorn, der gegen
diese öffentliche Unwahrhaftigkeit, gegen dieses Heuchlertum
aufflammte, richtete sich in echt jugendlicher Kritiklosigkeit gegen alles,
was mit Religion auch nur im entferntesten in Beziehung stand. Aus dem
berechtigten Kampf gegen die erstarrten Formen wurde ein ungerechtes
Hadern gegen das religiöse Bewußtsein überhaupt, also
gegen etwas, was niemals ein Streit der Meinungen sein sollte. Denn
Religion ist etwas so Individuelles wie die Liebe. Bekämpfen wir
darum einen Menschen, weil er jemanden liebt, der uns keine
Sympathien einflößt?
Solche Zeiten der Religionsfeindlichkeit sind nicht selten in der
menschlichen Entwicklungsgeschichte. Und es ist beinahe ein
Naturgesetz, daß sie regelmäßig von Zeiten der
religiösen "Erweckung" abgelöst werden. Wenn nicht alle
Zeichen trügen, stehen wir auch jetzt wieder vor einer Zeit des
vertieften religiösen Bewußtseins, womit gleichzeitig - und
das ist das Charakteristische für unsere Zeit - ein Fortschritt in der
religiösen Anschauung verbunden ist. Wir sind nicht umsonst
durch die Schule der Naturwissenschaft gegangen; wir haben gelernt, die
Welt mit anderen Augen zu betrachten, als die Zeit, die in der biblischen
Historie den Inbegriff alles Wissens sah. Aber je weiter wir gekommen
sind in der Erkenntnis, daß alles Wissen Stückwerk ist,
daß jede neue Lösung eine Fülle neuer Fragen in sich
schließt, und daß das Wort des Dichteres: "Denn in das Innere
der Natur dringt kein erschaffner Geist" auch heute noch seine
Berechtigung behält. Denn alle Naturerkenntnis erstreckt sich allein
auf das Grobmaterielle der Daseinsformen; da wo wir aufhören
mit unseren Augen zu sehen und - bildlich gesprochen - mit unseren
Händen zu fühlen, da hört auch die subtilste Weisheit
aller Naturerkenntnis auf; Ursprung und Ende alles Seins liegen heute
noch genau so in tiefstes Dunkel gehüllt wie voreinst. Wir sehen
nur ein Stück der Entwickelung, und in der Erkenntnis dieses
Stückes hat die Wissenschaft unserer Zeit gewiß
Unvergängliches geleistet. - Aber unsere Materialisten haben sich
die Sache sehr leicht gemacht, indem sie sagen: "Jenseits unserer
Erkenntnis gibt es nichts mehr." Die Zeiten, in denen man auf diese
bequeme Weise Weltanschauungen machte, scheinen nun doch zu Ende
zu gehen. Denn fast unvermittelt, aber mit der sieghaften Kraft lang
verhaltener Quellen ist wieder einmal die Sehnsucht in den Herzen
wirksam geworden, über das öde Rechenexempel des
Materialismus, das allenfalls unsern Verstand in Anspruch nimmt, aber
das Gemüt leer läßt, hinauszukommen, und den
geheimnisvollen Quellen nachzugehen, die im Verborgenen rauschen.
Wir streben wieder nach Erkenntnis der Kräfte, die auch im
Geistigen wirken, und die auch da nicht zu wirken aufhören, wo
unser menschliches Bewußtsein zu Ende geht. Wir sehen wieder
einmal das Suchen nach dem unbekannten Gott, dessen Wirken wir nur
ahnen, aber mit menschlicher Erkenntnis nicht zu begreifen
vermögen.
Es hieße zu weit gehen, diese Wendung im Geistesleben unserer
Zeit mit der Erklärung Haeckels in einen ursächlichen
Zusammenhang bringen zu wollen, also etwa zu behaupten, daß
auch der alte Monistenführer von dem Frühlingswehen
einer neureligiösen Epoche ergriffen worden sei, und daß ihn
dieser Umstand zu der Preisgabe seines Geheimnisses veranlaßt
habe, über deren Konsequenzen er doch kaum im Zweifel gewesen
sein kann. Der ganze Ton seiner Erklärung läßt diese
Annahme, die einen hohen Grad von geistigem Heroismus voraussetzen
würde, nicht zu. Ich vermute im Gegenteil, daß Haeckel heute
in seinem Eingeständnis lediglich einen taktischen Mißgriff
erblickt, den er jetzt, nachdem er die Folgen sieht, sehr bedauert. Von
allen Seiten umstellt, hat er in der Hitze des Gefechts die
Blöße gezeigt, die er Jahre hindurch mit der Toga der
moralischen Entrüstung zu umkleiden verstanden hat. "Doch kaum
ist ihm das Wort entfahren, möcht er's im Busen gern bewahren."
- Wir müssen den Männern danken, die im
unermüdlichen Kampf für die Wahrheit dieses Resultat
herbeigeführt haben, und es ist unsre Pflicht, vor der breitesten
Öffentlichkeit die Konsequenzen aus den gegebenen Tatsachen zu
ziehen. Von Seiten der Monisten wird ja alles Mögliche versucht,
um den Fall, der nicht mehr wegzuleugnen ist, als etwas Harmloses
hinzustellen, das ihrer Sache keinerlei Abbruch tue. Es soll an dieser
Stelle nicht untersucht werden, inwieweit die Forschungsresultate
unserer Naturwissenschaft von dem Eingeständnis Haeckels,
daß sich seine Darstellungen auf Phantasieprodukte stützen,
berührt werden. Das ist meines Amtes nicht; denn ich bin kein
Naturforscher im wissenschaftlichen Sinn. Aber ich bin ein treuer
Anhänger Haeckels gewesen und habe ein Jahrzehnt hindurch im
Banne der Unerschütterlichkeit seiner Lehren gestanden.
Dieser Bann ist gebrochen. Ich wiederhole das Bekenntnis, daß die
Erklärung Haeckels für mich eine tiefe seelische
Erschütterung bedeutet hat, die schmerzliche Loslösung von
einer Persönlichkeit, in der ich bis dahin das Urbild eines
ritterlichen Kämpen für die Wahrheit verehrt habe. Und
nachdem ich in den engeren Kreisen der persönlichen
Wirksamkeit und Ausprache die Erfahrung machte, daß dieselbe
Wirkung bei allen ernsten Wahrheitssuchern eintrat, denen diese
Tatsachen bekannt wurden, hielt ich es für meine Pflicht, der
Vertuschung und Umdeutung des Falles, der deutlichen Absicht des
Totschweigens entgegenzutreten. Für Tausende bedeutet Haeckel
heute noch ein geistiger Führer, der Inbegriff dessen, was man so
gemeinhin unter Wissenschaft versteht. Diesen Tausenden Gelegenheit
zu geben, sich an der Hand einer unverblümten Darstellung mit
dem Fall Haeckel innerlich aus einanderzusetzen, ist der Zweck dieser
Arbeit. Möge dann die Entscheidung des Einzelnen so oder so
ausfallen: für mich ist erfüllt, was mir Gewissenspflicht
erschien; denn:
Wer die Wahrheit kennt und sagt sie nicht,
Der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht.
Verlagsdruckerei Hansa, Leipzig-Mockau
|
|
Diese Seite wurde seit dem (17-Apr-2008) mal besucht. |
|
|