Ingeborg Drewitz (1923-86)
GESTERN WAR HEUTE - Hundert Jahre Gegenwart (1978)

(Die Seitenangaben beziehen sich auf die Klett-Ausgabe, Stuttgart 1997)

I Geburt - 1923 (Dezember)
1. Eine alte Frau sitzt in ihrem Zimmer, untätig, und denkt nach über die hektischen Geschehnisse in dieser Dreizimmerwohnung in Berlin (Lübecker Straße): Ihre Enkelin Susanne liegt in den Wehen, versorgt von ihrer Mutter und einer Hebamme. Die alte Frau darf nicht dabei sein, weil sie zu alt und zu zittrig ist. Sie könnte eine Petroleumlampe umstoßen und eine Brand erzeugen. Wenn sie das aber täte, denkt sie, dann würden die anderen sich wieder um sie kümmern müssen.
2. Gustav, der Vater der Gebährenden, erinnert sich an seine Herkunft aus Schlesien, an seinen Vater, die früh verstorbene Mutter, die vielen Geschwister. Er ist Buchhalter, Susanne sein einziges Kind, in die er große Hoffnungen gelegt hat und gerne als berühmte Pianistin gesehen hätte. Jetzt aber bekommt sie ein Kind, was wird nun aus ihrer Kariere?
3. Alice (Lieschen), seine Frau, beobachtet die Hebamme und wundert sich über deren Ruhe: Noch zwei Stunden. Die Zeiten sind schwer, das Geld ist täglich weniger wert.
4. Susannes Mann, von der Hebamme aus dem Haus geschickt, läuft unruhig durch die Straßen, denkt an sein werdendes Kind, an seine Erlebnisse im letzten Krieg, wie er in diese Familie kam und sich darin immer noch minderwertig fühlt, man gibt sich so selbstbewusst, der Großvater war Werkmeister, der Bruder der Schwiegermutter hat sogar in Paris studiert, die Tochter - seine Frau sollte Pianistin werden ...
5. Die Geburt rückt näher - ein Mädchen wird geboren: GABRIELE.


FAMILIEN-STAMMBAUM
II. Ich - was ist das? - 1926
Aprilsonntag, Mittagessen in der Dreizimmerwohnung, die nun vier Generationen beherbergt: Es gibt heute Fleisch. Die angespannte Situation wird aus der Perspektive des dreijährigen Kindes geschildert: Die sabbernde Uroma, die vorwurfsvollen Großeltern, die schwangere Mutter, der unzufriedene Vater.

III. Friede auf Erden - 1929
1. Weihnachten: Gabrieles Vater läuft im Regen durch die Straßen, er ist jetzt arbeitslos, wie viele andere, deprimiert, denkt sogar an Selbstmord.
2. Großmutter bereitet das Weihnachtsessen vor. Sie ärgert sich darüber, dass sich Gustavs Bruder Bruno selbst eingeladen hat, nicht nur weil die Zeiten schwer sind, sondern auch weil er ein Nationalsozialist ist und dies immer zu erhitzten Diskussionen unter den Männern führt, vor allem mit dem Schwiegersohn, dem Sozialisten.
3. Gabriele - das wilde, ungeduldige Kind
4. Tatsächlich kommen von Bruno, dem Frührentner, antijüdische Nazi-Parolen: Der Streit beginnt.
5. Noch ein Besucher: Die Susannes Schwiegermutter, eine Alkoholikerin, die ihrem Sohn das wenige Geld abnimmt, das er von der Unterstützung erhält. Sie hat sich aufwendig zurechtgemacht, kommt mit dem Taxi und Geschenken, und ist betrunken. Man duldet sie zuerst, als sie dann aber - zusammen mit Bruno - sich abfällig über das Weihnachtsfest und seine falschen Gefühle äußert, wirft Gustav sie hinaus, der Sohn bringt sie auf die Straße. Er ist von seiner Mutter und ihrem Auftreten angewidert.
6. Gabriele: An diesem Abend holt die Urgroßmutter sie von den zerstrittenen Erwachsenen weg und in ihr Zimmer, wo sie ihr von Paul erzählt, ihrem Sohn, der in London, Paris und Petersburg gelebt, Jura studiert und gearbeitet hat, einem Idealisten und Intellektuellen. Dem sei sie in ihrer inneren Unruhe ähnlich, sie und ihre Mutter Susanne. (Zu Paul und Petersburg 1905 siehe auch S. 24)

IV. Aber wir müssen uns wehren - 1933 (Frühjahr)
"...die Nazis der Reichstag..."

1. Aus Gabis Perspektive erfährt der Leser die Veränderungen in der Schule und der Familie: Sie sind umgezogen in eine Fabrikviertel (Oberschönweide), Gabi ist für das Gymnasium vorgesehen, braucht aber Schulgeldbefreiung, in der vierten Klasse gibt es Banden und Außenseiter, Vater schimpft über Hindenburg und Hitler.
2. Vater: Sein Verhältnis zu Susanne, Hass und Liebe, seine Arbeitslosigkeit als Bauzeichner trotz fleißiger Weiterbildung, wer hat den Reichstag angezündet, die Bekehrung seiner Mutter zu Mathilde Ludendorffs Arierbewegung, der Zwang zum Mitmachen (PG oder SA), wenn man Arbeit finden will. Er will trotzdem in "diese Partei" eintreten (S.61),
3. Susanne kann das nicht verstehen, sagt aber nichts.
4. Die Mutter spricht mit Gabi über die Schule: Da wird ein jüdisches Mädchen (Ruth) von allen gemieden, es gibt Schülerbanden, Susanne ist darüber erschrocken, "wir müssen uns wehren" (65), denkt sie.
5. Gabriele erlebt beim Einkaufen einen geordneten SA-Aufmarsch, die Straßen sind gesperrt und werden von Menschen gesäumt, die das Ereignis beobachten und kommentieren.

V. Wenn alles aufhört BIN ICH GANZ ALLEIN - 1936 (Olympiade)
1. Gustav hat starke Herzbeschwerden, besucht trotzdem eine Nachbarin, deren geistig behinderter Sohn von einem Dr. Steinbeil in ein Heim eingewiesen werden soll. Gustav betreibt neben seiner Arbeit viel Nachbarschaftshilfe, sein Vertrauensarzt, Dr. Wolf, plant die baldige Ausreise nach Prag.
2. Zuhause zieht sich Gustav in sein Zimmer zurück. Wenig später findet ihn seine Frau tot auf dem Bett liegend auf. Er war 65 Jahre alt.
3. Die Urgroßmutter wundert sich, warum Alice nicht aus dem Zimmer kommt, denkt an ihren Sohn Paul, der es zu mehr hätte bringen können als Gustav, der Buchhalter. Sie geht schließlich in deren Zimmer und findet die beiden. Sie ist nicht erschüttert.
4. Susanne, deren Mann jetzt wieder - nach dreijähriger Parteimitgliedschaft ("Märzhase") - eine Aushilfstätigkeit hat, erhält das Telegramm, holt dieTöchter aus der Schule ab und fährt zur Mutter in die Lübecker Straße. Es gibt jetzt viel zu tun.
5. Gabi, im Taxi auf der Fahrt zur Beerdigung, denkt an ihre Teilnahme an den Olympiafeiern auf dem Maifeld: Sie ist stolz dabeizusein und das WIR-Gefühl zu teilen. Dann läuft die Beerdigung ab, unter den Trauergästen sind Dr. Wolf, Bruno und Vaters Mutter, die ihn auch noch am Grabe um 50 Mark anbettelt. Wenn nicht, dann lege sie sich unters Gas. Er verweigert sich.

Aus dem Arbeitstagebuch zum Roman
Weitere Reflexionen, diesmal stärker aus auktorialer Perspektive: Die Beerdigung als Ende von Garieles Kindheit! Deren körperliche Reifung, der Selbstmord von Vaters Mutter (Gas) und dessen Selbstvorwürfe, Muttersheimliche Unterstützung einer jüdischen Familie in Köpenick, erneute Arbeitslosigkeit des Vaters, Gabis später Eintritt in den BDM mit 14 und der Wiederaustritt ein Jahr später: Sie habe sich sowieso nie eingeordnet. Reichskristallnacht.


Zu Erzähltechnik und -perspektive
VI. Sie weiß nicht was das ist: Leben. Sie lebt. - 1938 (Dezember)
1. Gabi wird von ihrer unscheinbaren (grauen) Englischlehrerin in deren Wohnung in die Stuttgarter Str. eingeladen. Sie geht hin, ohne genau zu wissen warum und findet sich dort in einer Versammlung von jungen Leuten wieder, die beten, Bibel lesen, den kürzlich inhaftierten Pfarrer Niemöller als ihr Vorbild betrachten und Familien unterstützen, die aus poitischen Gründen in Not geraten sind. Gabi erhält einen Auftrag, den sie widerstrebend, aber wortlos übernimmt.
2. Auf dem Heimweg folgt ihr ein junger Mann aus der Versammlung, spricht sie an, begleitet sie wortlos und vor dem Haus Gabis geben sie sich die Hände: Sympathie. - Gabis Vater wird ab Januar wieder Arbeit haben.
3. Gabi spürt bisher unbekannte Gefühle in sich wachsen, die auf Liebe hindeuten, intensivierte Körperempfindungen und veränderte Sichtweisen des altbekannten Badezimmers.
4. Gabi frühmorgens im Bett: Wer oder was ist Gott? Ist er eine Erfindung? Ist Hitler Gott? - Die Mutter bereitet das Frühstück für die Familie, Gabi bemerkt ihre schlaffen Gesichtszüge.
5. Nach der Schule geht Gabi zu den angegebenen Adressen: Zuerst zu einem pensionierten Lehrer, der Kinderkleider sammelt, dann zu einer Mutter von drei Kindern, deren Mann festgenommen worden ist. Die Frau benötigt die Kinderkleider ganz dringend. Sie bräuchte selbst Winterkleider.
6./7. Zuhause schimpfen die Eltern, aber sie sagt nicht, warum sie so spät kommt. Und doch hat sie den dringenden Wunsch darüber zu sprechen. Aber nicht mit den Eltern. Was für ein Leben, was für eine Ehe führen diese denn. Er macht alles mit und schimpft darüber, sie unterstützt eine Judenfamilie und sagt es ihm nicht.

VII. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen - 1940 (Sommer)
1. Siegreicher Frankreichfeldzug, Deutschland im Siegestaumel. In der Stuttgarter Straße gibt es immer mehr zu tun. Gabe fährt mit ihrem Freund nach Grünau zum Baden.
2. Sie schwimmen und sie lieben sich. Sein Vater ist bei der UFA.
3. Zuhause herrscht Unordnung, ihr Vater ist verhaftet worden, weil er nicht geflaggt hat.
4. Im Morgengrauen kommt er zurüc. Er ist aus der Partei geflogen. Irgendwie befreit ihn das von der Last des Mitläufertums, er hat es ja gegen seine Überzeugung getan.

VIII. Bild von den Pfauen - 1942 (Winter)
1. Kampf um Stalingrad in den Lautsprechern. In der Stuttgarter Str. erscheint ein Invalide, der von den Transporten in die KZs erzählt. So schlimm hat sich das keiner vorgestellt. - Die Familie ist zurückgezogen in die Dreizimmerwohnung der Großeltern. Gabi wird von Mutter in ihren Unterstützungsaktionen akzeptiert, Schwester UIrike ist dageen begeisterte BDM-Uniformträgerin. Vater hat weiterhin seine Arbeit, aber einen zweistündigen Weg dorthin.
2. Gabi geht jetzt tagsüber in die Fabrik, geht auch dreimal die Woche an die Universität und hört Vorlesungen, liest Hegel usw. Seit dem Sommer sind die Feldpostbriefe ihres Freundes ausgeblieben, die Lage an den Fronten hat sich verschlechtert.
3. Eindrücke aus der Fabrik
4. Eindrücke von der Universität
5. Gabi erhält die Nachricht, dass ihr Freund an der Front verschollen ist.

IX. Ohren haben, die hören, Augen haben, die sehen - 1943 (November)
Die Kriegslage verschlechtert sich zusehends (S.130/31), es gibt häufig Fliegeralarm, dann müssen alle in die Luftschutzkeller. Vaters rückhaltsloses Schimpfen während dieser Wartezeiten in den Kellern könnte die Familie gefährden ...

X. Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor? - 1945
1. Chronologie der Ereignisse Januar/Februar
2. Gabi besucht den Professor in Potsdam: Er gibt ihr die Diplomarbeit über Parteiprogramme der Weimarer Republik zurück, sie sei gut, aber gefährlich, er könne sie nicht bewerten. Er rät ihr, vor dem einmarsch der Russen nach Westen zu fliehen, er selbst packe gerade. Die Allierten bombadieren Dresden - eine Stadt voller Flüchtlinge aus dem Osten. Gabi denkt ihrem Traum hinterher (s.139/40).
3. Gedrängte Schilderung der letzten Kriegstage (März April)
4. Kapitulation Berlins am 2. Mai: Die Russen transportieren alles ab, Gerüchte um Hitlers Tod.
5. Einstellung aller Kriegshandlungen am 8. Mai. Urgroßmutter stirbt ganz plötzlich, eine Trauerfeier in der Wohnung wird improvisiert.
6. Alles ist kaputt, nichts geht mehr. Gabi schlägt sich zu ihrer Fabrik durch, dort sind nur russ. Soldaten, gearbeitet wird nicht mehr.
7. Vater hatte sich ebenfalls zu seinem Arbeitsplatz durchgeschlagen, war einen halben Tag unterwegs gewesen und wollte dort arbeiten. Die Russen haben ihn dann festgehalten, als Saboteur vernommen, wieder freigelassen und wegen seiner TB für nicht mehr arbeitstauglich erklärt. Er ist jetzt 51 und völlig deprimiert.

Aus dem Arbeitstagebuch zum Roman (2)
Notizen, Erinnerungen vom Leben und Überleben in den Monaten unmittelbar nach Kriegsende ("beobachten", "aufrechnen" und immer wieder "erinnern"). Berlin wird in Sektoren geteilt, die Nachricht von Hiroshima erreicht sie, Frauen arbeiten in Kolonnen, welche Trümmer wegräumen, auch Gabriele, später macht sie in der Baufirma die Buchführung.

XI. Lebensfest - 1946/7
1. Zahlen, Daten, Ereignisse (-> dokumentarisch) - dann gedrängte Lageschilderung vom Überlebenskampf (168), Vorsätze für die Zukunft: wir werden, wir werden, wir werden ... aber auch Fragen, Fragen, Fragen.
(Dieses Kapitel eignet sich gut für eine Sprach- bzw Textanalyse).
2. Junge Leute (jung?) treffen sich auf eine Anzeige hin in einer Berliner Wohnung, sie wollen eine Zeitschrift gründen (171), schreiben über "Schuld und neue Moral, Wahrheit und Wirklichkeit" (172), Gabriele ist auch dabei.
3. "In diesem Winter" ist es besonders kalt, Menschen sterben an Kälte und Hunger, auch die Großmutter (Alice/Lieschen). - Die erste Nummer der Zeitschrift ist satzfertig, aber eine Lizenz fehlt. Gabriele besucht Bekannte für Interviews: Die Eltern ihres toten Freundes, der Vater darf nicht mehr bei der UFA arbeiten, die kinderreiche Familie, deren Vater aus dem KZ heimgekehrt ist ... Der eine wird entnazifiziert, der andere steigt als politische Wiedergutmachung zum Werksleiter auf.
4. Die Lizenz ist da, im Mai soll auch Papier geliefert werden. Die Redaktion feiert ein ausgelassenes "Lebensfest", (181) die Presse nimmt Anteil, Gabriele tanzt auf dem Tisch, für viele eröffnen sich neue Perspektiven, doch die Lehreranwärterin aus Dresden ist "abgeholt worden", weil - so geht das Gerücht - ihr Vater Fabrikbesitzer war.
5. Namenloses Liebesgeständnis und Ratlosigkeit ...
6. Sie besuchen die Mutter der abgeholten Ruth, die Gründe für deren Verhaftung bleiben im Dunkeln. Ein junger Mann namens Jörg setzt ein Protestschreiben auf.

XII. Auf der Wetterkarte ein schöner Sommer - 1948
1. Mutter und Tochter sehen den elterlichen Kleiderschrank durch und finden ein Hochzeitskleid, das für Gabriele umgeschneidert werden soll: Sie heiratet Jörg, das Redaktionsmitglied und angehenden Chemiker bei Schering. - Hoffnung, ICH sein zu können, eine Ganzheit, nicht reduziert auf funktionierende Köpfe, Hände, Geschlechtsteile. (189)
2. Vorbereitungen für die Hochzeit: Wer wird eingeladen? Die neue Wohnung im Westend wird besichtigt, in welche das Ehepaar und der Schwiegervater einziehen werden. Manches daran befremdet Gabriele, z.B. die Rolle, die ihr nun wohl zugedacht ist.
3. Hochzeit und Hochzeitsnacht in der neuen Wohnung.
4. Was jetzt in Gebrieles neuem Leben neu ist.
5. Die zweite Ausgabe der Zeitschrift ist fertig, aber wer wird sie übernaupt noch kaufen und lesen? Jörg ist skeptisch und behält Recht: Kaum jemand. In solchen Augenblicken hasst Gabriele ihn. Juli 1948: Währungsreform (Reichsmark -> D-Mark West und Ost), Abspaltung des Ost-Sektors, Luftbrücke der Alliierten, Schwangerschaft.

XIII. Soviel Lächeln auf blassem Fotopapier - 1949/51
1. Schilderung der Geburt (Gedankenflucht) - das Kind heißt Renate.
2. Jetzt gilt es "eine neue Rolle" zu lernen, die der Mutter, d.h. sich selbst zurückstellen, "Sorgen statt ICH sagen" (203). Sie ist bald wieder schwanger.
3. Wer bin ich? Verstimmungen: Wie wichtig darf sie sich selbst nehmen?
4. Cornelia wird geboren.
5. Aus dem Alltag einer jungen Mutter. Vater arbeitet wieder in seiner alten Fabrik für Großtransformatoren im Ost-Sektor, wird in Ostmark ausgezahlt, kann davon ein Viertel in Westmark tauschen.
6. Dann stirbt unerwartet an Lungenentzündung die Mutter (Susanne). Gabriele denkt über deren Leben nach: Was war das für ein Leben? War das überhaupt eines?
7. Schwester Ulrike will raus aus Berlin, diesem Gefängnis. Einen Interzonenpass hat sie schon.
8. Am nächsten Tag verunglückt sie mit dem Leihauto und liegt jetzt in Magdeburg im Krankenhaus.
9. Schwiegervater und Vater beraten und berechnen, wie sie das Auto und das Krankenhaus bezahlen können. Vater regt sich auf, schimpft, rennt davon. Keiner hat das Geld.

Aus dem Arbeitstagebuch zum Roman (3)
Lebensgefühl: Langsam leben, "gegen die zunehmende Unschärfe des ICH" (218) Ereignisse: Ulrike wird nach Berlin verlegt, Gabriele besucht sie im Krankenhaus. Sie besucht auch Vater in seiner Wohnung in Moabit: Er lässt sie verkommen, erzählt aus der Fabrik, von Verhaftungen und vom Mund halten usw. Einzelheiten: Tochter im Kindergarten anmelden, Korrespondenz mit dem alten Professor, Gottfried Benn erleben. Es geht aufwärts; im Osten gibt es einen Aufstand: 17. Juni (222), Flüchtlinge kommen zu Tausenden nach West-Berlin. Auch die Verwandschaft vom Lande kommt eines Tages vorbei, auf der Durchreise, erzählen vom Bankrott der Landwirtschaft drüben. (224) - Ulrike, nun geheilt, reist nach Göttingen ab zum Studieren. Und weiter die Frage: Wer bin ICH? Sie wirft die versteckten Schlaftabletten weg.

XIV. Auf dem Schüttelrost - Kapitel in Briefen 1954/57
In Briefen, Postkarten, Tagebuchnotizen und einem Protokoll erfährt der Leser, dass Gabriele ihren Mann und ihren Schwiegervater verlassen hat und mit den Kindern zu Gisela in die Lüneburger Heide gereist ist. Gisela, ehemalige Mitstreiterin in der Redaktion, schlägt sich dort mit dem Basteln von Puppen recht erfolgreich durch. Gabriele hilft ihr dabei. Ihre Briefe an Jörg - die nicht beantwortet werden - sind eine Auseinandersetzung mit ihrem vorigen, reduzierten Leben, ihrer Beziehung zu Jörg, ihren Lebenszielen und ihrer Entscheidung zur Flucht.
Anfangs schlägt sich Gabriele mehr schlecht als recht durch, zieht ihre Kinder auf und setzt ihr Studium fort. Sie ziehen dann um nach Hannover, von dort nach Göttingen, wo sie ihre ehemals nicht vollendete Diplomarbeit zur Dissertation weiterführt und abschließt, und schließlich erhält sie eine gutbezahlte Stellung beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt, wo sie vielbeachtete Sendungen über deutsche Literatur (Benn, Brecht und die 20er Jahre) macht.
Weihnachten 55 besucht sie ihren Vater und andere in Berlin.
Juli 56: Auf dem Heimweg von ihrer Promotionsfeier wird sie Teilnehmern dieser Feier verfolgt und vergewaltigt.
Weihnachten 56 besucht sie Jörg, ihr Mann, sie nähern sich wieder an, sie wird schwanger, denkt über eine Abtreibung nach.
Dann im Mai 57 verunglückt ihre Tochter Cornelia tödlich, sie fällt in der Schule vom Geländer. Angesichts der bevorstehenden Entbindung löst Gabriele zusammen mit Jörg ihre Wohnung in Frankfurt auf und zieht nach Berlin zurück.

XV. Defizite - 1957-61
Elf Kapitel normales Leben in Berlin: Claudia wird im September geboren, im Dezember wird eine eigene Wohnung bezogen, nun ohne den Schwiegervater. Renate geht ins Gymnasium, Gabriele bleibt beim Hessischen Rundfunkt, als freie Mitarbeiterin (271). Sie trifft sich mit Ruth, die nach 8 Jahren Gefängnis amnestiert worden war, und Johannes, beide ehemalige Mitstreiter der Zeitschrift, in Ostberlin. Gabrieles Mann plant einen Autokauf, Schwester Ulrike etabliert sich in Göttingen mit Ehemann, Auto und Haus.
"Sich mit Defiziten einrichten"(276), d.h. für Gabriele, Abstriche machen an den eigenen Wünschen, damit leben, dass nicht alles gelingt. Als Reporterin macht sie Interviews mit Frauen, Arbeiterinnen ... in der DDR, der Menschen-Strom von Ost- nach West-Berlin nimmt zu, dann wird eine Mauer gebaut.

XVI. Weil Mann und Frau fremd sind - 1961-67
1. September, Gabriele richtet Claudias 6. Geburtstag aus
2. Älter werden - Beobachtungen, Selbstbetrachtungen (auch im Spiegel)
3. Ludwig, ehemaliger Kollege beim HR in Frankfurt trifft sich mit ihr im Cafe: Sie soll mit ihm um die Welt reisen, er hat Geld geerbt, ist aus dem Beruf ausgestiegen, will ein Reise-Buch schreiben. Gabrieles Rollenkonflikt: Warum versteht er ihre Rolle als Ehefrau und Mutter nicht? Ihre sorgende Grundhaltung? Ihre Bereitschaft, Abstriche zu machen? Warum Mann und Frau einander fremd sind (290).
4. Dennoch beginnt sie, Reisebücher zu lesen, sich zu erkundigen, auch nach Internaten. Dann aber ein Besuch bei ihrem Vater: Er hat Magengeschwüre, sie holt ihm einen Arzt, der liefert ihn gleich ins Krankenhaus ein: Krebs. Im März 1967 stirbt er.
5. Gabriele und Renate räumen die väterliche/elterliche Wohnung aus: Eine Reise in die Vergangenheit, ein Brief von Onkel Paul, Petersburg 1904, wird gefunden.
Politischer Hintergrund: Algerienkrieg, Kubakrise, Spiegelaffaire, Atomversuche, Satelliten, Kennedy ... (S. 286)

Aus dem Arbeitstagebuch zum Roman (4)
Studentenproteste, häuslicher Streit, väterliche Gewalt: Renate - keine gute Schülerin, aber hellwach und interessiert - nennt ihren Vater "Spießer", dieser schlägt sie und auch seine Frau. Renate nimmt an Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Schah teil. Der Student Benno Ohnesorg wird erschossen (Juni 67), ein riesiger Trauerzug folgt seinem Sarg, Bürgermeister Heinrich Albertz entschuldigt sich öffentlich, Gabriele ist mit Mikrofon und Tonbandgerät unterwegs um die Ereignisse, die Stimmung festzuhalten.

VXII. Wir haben geglaubt, es käme auf uns an - 1968
1. Februar, Renate ist durchs Abitur gefallen, hatte sich erbrochen, weil sie "etwas genommen" hat. Gespräch zwischen Mutter und Tochter: Wie hältst du da aus zu leben? Warum verzichtest du auf eine Kariere? - Weil ihr "das ICH als Ziel abhanden gekommen ist, weil sich das ICH nicht behaupten kann ohne Hochmut" (308)
2. Osterdemonstrationen, Renate kommt nicht mehr nach Hause. Rudi Dutschke wird angeschossen, M.L.King in Alabama erschossen.
4. Die Protestbewegung weitet sich aus (Frankfurt, Paris), Gabriele berichtet im Radio darüber, ihre Sendungen finden Beachtung.
5. Schwiegervater - Vogel-Opa - stirbt mit 89. Jörg und Gabriele blicken zurück, resigniert: "wir haben uns doch wohl was vorgelogen, damals nach 45"(315)
6. Russischer Einmarsch in Prag, August 68.

XVIII. Ausmessen, was bleibt - 1969
1. Gabriele trifft Gisela wieder, sie kommt aus den USA, erfolgreiche Malerin, Frau von Welt, leichtlebig, beneidenswert?.
2. Renate besteht das Abitur, Gabriele schlägt eine gemeinsame Reise nach Prag vor, wohin sie ein Arbeitsauftrag des HR führt. Jörg geht mit, Gisela auch. Ruth und Johannes in Ost-Berlin wollen in Prag dazustoßen.
3. Dresden, Giselas Heimatstadt, Prag, Jan Pallachs Selbstverbrennungs-Stelle.
4. Essen in Prag, jeder hat seine eigenen Erinnerungen und Gedanken, Renate muss an Jan Pallach denken.
5. "Es bleiben die Fotos..."(328) von den Reise- und Weggefährten, aber auch Interviews, die Gabriele mit Prager Oppositionellen gemacht hat.

XIX. Sich rechtfertigen - vor wem, sich anklagen - vor wem - 1969-71
1. Claudias 12. Geburtstag ("noch einmal"), Gabrieles Schwermut.
2. Immer mehr Erinnerungen, darin "Schutz suchen"(334), weil etwas zu Ende geht ...
3. November, Renate verlässt die Wohnung, mit Koffer, ohne Adresse, GEbriele ist wie benommen davon, Renate will "frei" sein.
4. Weihnachten, viel Post aber keine von Renate.
5. Fragen der Eltern, Selbstvorwürfe, gegenseitige Vorwürfe: "Du hast ihr das mit der Freiheit beigebracht" (337). Und wieder Petersburg 1905.
6. Silvester 69/70: Die Zeitung schreibt, Ludwig hat sich erschossen
7. Trauern und Warten auf Renate. Sie wird jetzt 21. In der Redaktion verabschieden sich die Alten, neue, Junge, rücken nach.
8. Sie trifft Renate auf einer 1. Mai-Demonstration. Renate wohnt in Schöneberg.
9. Wie kann man seiner 12-jährigen Tochter erklären, wie das damals war, 1933 und danach?
10. Besuch der Mutter bei der Tochter in der WG: Peinlichkeiten, Fremdheit, Ratlosigkeit. Immerhin bleibt sie zum Essen da und kriegt dabei ihre mütterlichen Mitbringsel los.
12. Nachrichten aus Vietnam beherrschen alles. Renates Namen taucht auf einem Flugblatt auf.
13. Gabriele besucht eine Versammlung, auf der Renate spricht. Sie ist besser als die anderen Redner. Die Mutter ist begeistert und doch deplaziert. Sie soll eine Reportage schreiben, aber wie?

Aus dem Arbeitstagebuch zum Roman (5) Fast auktorialer Versuch (die Autorin im Selbstgespräch über ihr Vorhaben), "Gabrieles Unsicherheit, ihren Zweifel an der gewöhnlichen Kommunikation ... einzukreisen" (351): In Episoden: Der Besuch der geschiedenen Schwester Ulrike. Ein Sonntag bei Ruth in Ost-Berlin. Besuch von Markus' Lesung aus seinem Buch (ehemaliger Mitredakteur in Frankfurt). Wiedersehen mit Johannes am Stechlinsee In Nachrichten von Chile, Arabisch-Israelischem Krieg, normaler Alltag etc. Gabriele notiert das langsame Auslöschen des Ich-Bewusstseins (359). Renate hat das Zweite Staatsexamen, aber Berufsverbot, Jörg erleidet einen Schlaganfall, benötigt lange Rehabilitation und wird früher in Rente gehen. Das "Altsein" wird zum Thema, zum je eigenen Leiden.

XX. Als sähe sie in einen Spiegel - 1976/77
1. Beim Besuch eines Untersuchungshäftlings im Moabiter Gefängnis, über den Gabriele eine Reportage vorbereitet, trifft sie Renate wieder, die ebenfalls jemanden besucht.
2. Sie gehen in ein Cafe und tasten sich in größere Nähe zueinander: Renates Vorwürfe, dass sie trotz allem (Jörgs Gewerkschaftsarbeit, Gabrieles Sendungen und Reportagen) immer mitgemacht haben, dass Gabriele sich in die Familie geflüchtet habe anstatt sich selbst zu verwirklichen (369). Aber auch Renate kann nichts tun gegen die Ratlosigkeit angesichts von Krieg, Folter und Ungerechtigkeit in der Welt. Sie verabschieden sich. Sie sind sich als Mutter und Tochter nähergekommen, aber "Warum sind wir so ratlos?"
3./4. Tochter Claudia heiratet, noch vor dem Abitur, weil sie schwanger ist. Renate kommt nicht zur Hochzeit und zur Geburt, schickt aber ein Pralinen-Packet aus der Schokoladenfabrik, in der sie schichtet.
5. Claudias Kind wird geboren.
6. "Hier ließe sich enden." Oder auch nicht! Mehrere Schlüsse werden aufgereiht, sozusagen zum Aussuchen, oder weil ein Ende nicht abzusehen ist, oder weil es ein gutes Ende nicht gibt oder weil es egal ist ... oder...


CHRONOLOGIE 1923 - 77 im Überblick

Über hilfreiche Reaktionen freue ich mich: Klaus Dautel

1998 © Zentrale für Unterrichtsmedien (ZUM)