Analysieren Sie den Beginn des Gesprächs zwischen Orest und Pylades

in Goethes ”Iphigenie auf Tauris” II. Aufzug, 1. Szene, V. 561 bis 614.

(Leitfrage: Wer sagt wann was zu wem wie mit welcher Absicht?)

Ordnen Sie diesen Gesprächsausschnitt in den Gesamtzusammenhang des Dramas ein.

Im Heiligtum der Diana dient seit Jahren Iphigenie, Orests Schwester, als Priesterin. Sie war von der Göttin vor der Opferung auf Aulis bewahrt worden. Sie hat den erneuten Heiratsantrag König Thoas’ abgelehnt, weil sie sich die Möglichkeit offen halten will , irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren. Daraufhin hat Thoas ihr befohlen, die beiden gerade gefangen genommenen Fremden der Göttin zu opfern.

Die Gefangenen sind Iphigenies Bruder Orest und dessen Cousin Pylades. Ihr Schiff mit den sie begleitenden Griechen wurde noch nicht entdeckt und liegt versteckt in einer Bucht. Nach Tauris hat sie ein Spruch des appolinischen Orakels geführt, der Orest “im Heiligtum der Schwester“ die Befreiung von den ihn verfolgenden Erynnien versprochen hat. Schwester des Appollon ist die Göttin Diana (griechisch: Artemis).

Iphigenies Bruder Orest und dessen Cousin Pylades treten in dieser Szene zum ersten Mal auf. Sie reflektieren ihre Lage, die sie völlig unterschiedlich beurteilen. Orest erwartet den Tod (V. 561) und bemerkt, dass er seelisch zur Ruhe kommt (V. 562). Vielleicht soll der Doppelpunkt am Ende von V. 561 andeuten, dass er glaubt, der nahe Tod beruhige ihn. Jedenfalls deutet er den Orakelspruch (V. 565-568) nun neu: Die göttliche Hilfe bestehe darin, dass sein Leben endet, und damit ist Orest einverstanden (vgl. V.571-578). Er will lieber am Altar der Diana sterben als – wie sein Vater – durch die Hand eines nahen Verwandten (V.578-580). Die ihn verfolgenden Erynnien bittet er darum, ihn bis zu seinem nahen Tode in Frieden zu lassen (V. 581-588). In der Unterwelt werde er sich ihnen nicht entziehen (V.588-590). Dieses Einverständnis mit dem nahen Tod – vielleicht ist es eine Todessehnsucht – wird lediglich durch die Sorge um seinen brüderlichen Freund Pylades gestört. Der sei unschuldig und nicht fluchbeladen (V.591f) und Orest möchte ihn nicht in den Tod mitnehmen (V.593f). Hoffnung und Furcht – Gefühle, die zum Lebenswillen gehören – weckt der Gedanke an Pylades’ Schicksal bei Orest (V.594f).

Anders als Orest ist Pylades noch nicht bereit zu sterben und das drohende Schicksal als unabwendbar hinzunehmen (V.596f). Er denkt darüber nach, wie sie dem Tod entgehen können (V. 598-601) und hofft auf göttliche Hilfe (V.601-603). Dass der ängstliche wie der mutige Mensch sterben muss, ist für ihn keine Frage (V.604f), aber er will bis zum letzten Atemzug nur an ihrer beider Rettung denken (V.605-608). An Orest appelliert er, Mut zu fassen (V. 608f), denn seine Zweifel – vielleicht ist hier mit dem Wort “zweifelnd“ auch seine Verzweiflung gemeint – vergrößerten nur die Gefahr (V.609f). Im Gegensatz zu Orest vertraut er darauf, dass die im Orakelspruch versprochene “Trost und Hülf und Rückkehr“ (V.612), die Orest “im Heiligtum der Schwester [...] bereitet“ seien (V.611f), nicht im übertragenen Sinne als der Tod zu verstehen sind, der alle Leiden beendet. Die Götter würden sich nicht zweideutig äußern (V. 613). So etwas glaube nur, wer den Mut verloren hat (V.614).

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfahren Leser bzw. Zuschauer den Teil der Atriden-Tragödie, von dem Iphigenie in I,3 Thoas noch nichts erzählen konnte, weil sie ihn nicht erlebt hat: von Orests vaterlosrer Kindheit, der Ermordung Agamemnons durch dessen Frau und ihren Liebhaber und schließlich dem von Orest begangenen Muttermord, der ihm die Verfolgung durch die Erynnien zugezogen hat. Auch hier versucht Pylades immer wieder, den geliebten Freund positiv umzustimmen und setzt dem pessimistischen Götterbild Orests sein positives entgegen, das besonders deutlich in den Versen 713 - 717 formuliert. Folgerichtig schickt er Orest fort, bevor es zur ersten Begegnung mit der Priesterin Iphigenie kommt.

© Volker Jansen 2003

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