Dialoganalyse III/5 unter Berücksichtigung der Resultate von III/7

    Dialoganalyse
  • Welche Absichten verfolgen die Gesprächspartner?
  • Wie argumentieren sie?
  • Ändert ein/ändern beide Gesprächspartner seine/ihre Meinung?
    Falls ja: Wodurch wird er/werden sie überzeugt?
  • Werden die Gesprächsziele erreicht?

ABSICHTEN

a) Saladin:
braucht bis zum Eintreffen der Karawane seines Vaters einen (Überbrückungs-)Kredit
will auf Sittahs Rat Nathan so in die Enge treiben, dass der Sultan notfalls einen Vorwand hat, ihm das benötigte Geld abzunehmen (vgl. II/3 und III/4).

b) Nathan:
ist von Al Hafi vor dem Sultan und dessen Geldnot gewarnt worden (II/9), hat in II/7 gegenüber dem Tempelherrn bereits erklärt, dass er aus Dankbarkeit für dessen Begnadigung und die dadurch ermöglichte Rettung Rechas gegenüber dem Sultan "Bereit zu allem" sei (V. 1355) ; will Saladin danken und ihn bei seiner Visite - falls möglich - auch wegen des ungeklärten weiteren Schicksals des Tempelherrn ansprechen.

ARGUMENTATION

a) Begrüßung:
Saladin will Distanz verringern (räumlich und durch die Anrede (Jude - Nathan) - Nathan ist höflich und zugleich selbstsicher.

b) Diskussion um Nathans Beinamen:
N. = bescheiden; hinterfragt: wer lobt, hinterfragt Motive des Lobenden, unterscheidet zwischen weise, klug, sich auf seinen Vorteil verstehen, Eigennutz
S.. = greift N.s Stichworte auf und argumentiert dagegen; nicht alles, was er sagt, stimmt ("längst gewünscht ..."). Folgert aus N.s Einwänden, dass der zu Recht "weise" genannt werde. (Nur wenn er beweisen kann, dass N. weise ist, hat er ein Recht, Antwort auf seine Frage nach dem wahren Glauben zu fordern.)

1. Übergang:
"Lass uns zur Sache kommen!" ist von S. anders gemeint, als N. es auffasst. N. weiß nichts von der geplanten Fangfrage (= Saladins "Sache") und erwartet den Kreditwunsch.

Weshalb bietet er preiswerte Waren statt eines Kredits?
Will er nicht mit der Tür ins Haus fallen?
Schickt es sich nicht für einen Untertan, dem Herrscher Geld von sich aus anzubieten?

Aus DRAMATURGISCHEN Gründen darf es nicht sein: Sonst könnte der Sultan auf die Fangfrage verzichten und für Nathan entfiele der Zwang, die Ringparabel zu erzählen!

2. Übergang:
"Gebiete, Sultan." - damit eröffnet Nathan dem Sultan die Möglichkeit, den Kreditwunsch als Befehl zu formulieren, ohne zu verraten, dass er von der Finanznot des Herrschers weiß.

Fangfrage:
S. rechtfertigt ausführlich, weshalb er ausgerechnet Nathan diese ungewöhnliche Frage stelle. Er fragt nicht ernsthaft!
Nathans nonverbale Reaktionen werden vom Sultan aufgegriffen (V. 1854ff), interpretiert und beantwortet: Ein mögliches Misstrauen Nathans soll beruhigt werden.

Bedenkzeit:
Aus dramaturgischen Gründen erforderlich für den Monolog Nathans in III/6; motiviert durch das Ende von III/4, wo er angekündigt hat, er wolle nachschauen, ob Sittah lauscht.

MEINUNGSÄNDERUNG

gibt es in diesem Gespräch keine; es dient der Vorbereitung der Kernszene des Dramas und führt bereits früher angeschnittene Themen fort:

Urteile und Vorurteile; Verhältnis der Religionen zueinander;
die Macht und ihre materielle Basis;
die gefährdete Stellung des (reichen)Juden

Verwirklichen die Beteiligten ihre Absichten?

Das ist am Ende von III/5 noch offen. Nach III/7 kann man feststellen:

- S. bekommt mit der Ringparabel eine weise, ihn erschütternde Antwort auf seine nicht ernsthaft gestellte Frage.
Er verzichtet deshalb beschämt darauf, N. auch nur um einen Kredits zu bitten, geschweige denn, ihn zu verlangen.
- N. gelingt es nicht nur, die ihm gestellte Falle zu umgehen. Er beweist eindrucksvoll, dass er zu Recht der Weise“ genannt wird. Nachdem der Sultan ihn - also der Mäch-tige den Angehörigen einer wenig geachteten Minderheit! – um seine Freundschaft gebeten hat – tut Nathan, was er bereits in II/7 (V. 1353-1355) im Gespräch mit dem Tempelherrn angekündigt hat: Taktvoll – also unter einem Vorwand und ohne sein Motiv zu verraten – bietet er dem Sultan Geld an. Indem er begründet, weshalb er dem Sultan nicht sein gesamtes Bargeld schicken könne, lenkt er das Gespräch auf den Tempelherrn. Saladin betätigt vor Nathan das Gerücht, dass der T. seinem verschollenen Bruder ähnlich sehe, und fordert Nathan auf, den Tempelherrn zu ihm zu bringen.

Beide – der Sultan und Nathan – haben also am Ende von III/7 weit mehr erreicht, als sie angestrebt hatten: Der Sultan ist um eine tiefe Erkenntnis reicher und erhält obendrein das freiwillige Kreditangebot; Nathan entgeht nicht nur der Gefahr der Enteig-nung, son-dern gewinnt sogar die Freundschaft des Herrn über Tod und Leben in Jerusa-lem.

© Volker Jansen 2003

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