Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht

© Krapp & Gutknecht 1996

1. Worauf kommt es bei der Literatur an?

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Ist es nun eine Interpretation oder "nur" eine Textbeschreibung? Eine Frage, die nicht nur auf Korrekturbesprechungen immer wieder gestellt wurde, wenn es galt, die Aufsatzleistungen von Schülern zu messen? Und: manchmal hatte man als Lehrer (und Leser?) das Gefühl, der Umgang mit Literatur gehe nur über Interpretieren oder die strukturierte Textbeschreibung.

Frage: Wie entstehen eigentlich Leseratten - und wodurch bleiben sie es?

Im Literaturunterricht standen bislang textanalytische Verfahren bei Texterschließung, vor allem bei der Aufgabenstellung für Aufsätze und Klausuren im Vordergrund. Ihnen wird zudem eine größere Objektivität bei der Leistungsmessung zugewiesen.

Handlungsorientierte "Schreibanlässe" in Verbindung methodischer Wege wie Rollenspiel, Dialogisieren, Inszenieren u.a. bei der Erschließung von Texten fanden erst in den letzten Jahren verstärkt Einzug in didaktische Konzeptionen und auch in Lehr- und Bildungspläne. Lange galten sie nur als "Ergänzung" und "Auflockerung" des Literaturunterrichts. Dagegen haben sie ihre Eignung in vielfältigen Formen unter Beweis gestellt.

Im Zusammenhang mit Freiarbeit, offenem Unterricht und dem "Freien Schreiben" (in seinen durchaus unterschiedlichen Ausprägungen) ist die Forderung, mit Texten "kreativ umzugehen" (Bildungs- und Lehrpläne verschiedener Bundesländer) inzwischen festgeschrieben worden. In Baden-Württemberg wird seit 1995/96 in der schriftlichen Realschulabschlußprüfung im Fach Deutsch als Thema 5 eine neue Prüfungsform "Mit Texten kreativ umgehen" angeboten. Das Thema "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch, ein sicherlich "schwerer" Roman, brachte unterschiedliche Erfahrungen mit sich. Eines kann jedoch nach vielen Gesprächen und Beobachtungen gesagt werden: Schüler und Lehrer sind mit dieser neuen Form meist gut zurecht gekommen. Manche Leseunlust und "Interpretationsgängelei" konnte durch offene Unterrichts- und Erschließungswege vermieden werden. Die neue Aufsatzform wurde gerne gewählt und mit guten Ideen gelöst.

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2. Kreatives Schreiben bereichert und verändert den Deutschunterricht

Das Lesen und Verstehen literarischer Texte durch produktions- und handlungsorientierte Verfahren unterstützt und ergänzt den Deutschunterricht. Zu oft noch verstehen - und erfahren - Schüler Literatur als etwas "Hohes", daß Verstehen in erster Linie als etwas Abstraktes, Analytisches ist. So werden literarische Ansätze auch in erster Linie in ihrem "meaning"-Aspekt erfahren. "Der Schriftsteller meint ... will damit sagen, ...". Dies muß durch Textuntersuchungen, durch Textanalyse und Belegen systematisiert werden.
Lesegenuß, Unterhaltungswert und persönlich Betroffenheit können so bei Lesen als zweitrangig erscheinen.
Was Literatur auch ist, erlebendes und genießenes Hineinversetzen, Identifizieren und Ablehnen, gerät gerne zu kurz. Auch das Wiederfinden seiner eigenen Erfahrungen und Lebenssituationen über das Lesen hinaus ("significance") rückt gar zu oft hintenan.
Vielfältige Erfahrungen in der Erwachsenenbildung belegen, daß viele Literatur in ihrer Schulzeit als "Untersuchen" nicht als Lesen und innerliches Erfassen des Kreativen erfahren haben. Und leider war vielen das Interesse an Literatur zunächst genommen.
Das Wirken von Literatur wird so nicht gefördert, oft ganz zurückgestellt. Eine Ursache dieser weitverbreiteten Demotivation ist die jahrzehntelange Überbetonung des Schreibens und Lesens nach vorgegebenen Regeln. Für viele Schülerinnen und Schüler werden Aufsätze und Schreibaufgaben so mit Unlust und Unsicherheit, nicht das "Richtige" zu schreiben, verbunden. Leider geht zudem auch die Bereitschaft, sich einem Text offen auszusetzen, ein gutes Stück verloren. Aber genau dieses Öffnen, dieses aktive Interessiertsein und diese Neugier brauchen wir, wenn wir uns der Literatur aussetzen.
Das "Begreifen, was uns ergreift" (Gadamer) kann jedoch nicht nur über das hermeneutische Erfahren, nicht nur und ausschließlich durch strukturalistisches Textbeschreiben erfaßt werden.
Thematik und Anliegen des Modells "Andorra" sind heute leider sehr aktuell, Vorurteile und Bildnisse können nicht nur durch rationales Erklären abgebaut werden. Eine gegen Vorurteile und Bildnisse gewappnete Persönlichkeit ist offen und aktiv. Diese Unabhängigkeit, dieser Eigensinn kann durch eigene Schreibversuche, durch Weiterschreiben offener Textstellen, durch Verändern von Textpassagen oder durch das Einfügen möglicher Szenen ausprobiert und erfahren werden. Inhalt, Aufbau und Struktur von Frischs "Andorra" können auch über kreative Formen erschlossen und verstanden werden.
Die Charakteristik und Anlage einer Figur erfahre ich auch, indem ich sie in neue Situationen stelle, sie gewissermaßen ausprobiere. Durch dieses Verlängeren und Verändern im Schreibversuch vollziehe ich aktive und beteiligt Geschehen und Situation mit.
Viele Kolleginnen und Kollegen befürchten, daß dabei das belegende Verstehen eines Textes, seine Aussageabsicht verloren gehen könnte.
Vielfältige Unterrichtsversuche mit Jugendbüchern in Klasse 5 und 6, mit Romanen und Theaterstücken in 9 und 10 zeigen jedoch das Gegenteil: Schülerinnen und Schülern gelingt es sehr wohl, sich durch eigenes Schreiben, durch "Ausprobieren" und Verändern der Vorlagen in Szenen, Rollenspiel und Videosequenzen dem Text produktiv und kreativ auszusetzen, ihn zu ergreifen.
Offene Literaturkurse, in denen durch sinnliche Anstöße (eine Bachfuge zu Robert Schneiders "Schlafes Bruder", eine Riechstraße zu Patrick Süßkinds "Das Parfüm" ...) oder durch eigentätige Einstiege (ein Bühnenbild zu "Andorra" entwerfen, eine Einstiegsszene zu einem Roman zeichnen ...) versucht wird, sich einem Text zu nähern, entwickeln ein hohes Maß an Verstehen und Nachvollziehen auch durch strukturelle Bezüge.
Die Erfahrungen zum Roman "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch, im Schuljahr 1995/96 Thema 5 der schriftlichen Realschulabschlußprüfung in Baden-Württemberg, ermutigen. Von vielen Kolleginnen und Kollegen wissen wir, daß Schüler Schreibanlässe gerne wählen und formal wie inhaltlich kreativ lösen können. Eine Sorge vieler Deutschlehrer wurde ebenfalls geringer: Schreibanlässe stehen dem Analytischen nicht entgegen. Beim Verfassen einer Rückerinnerung aus der Sicht einer der Romanfiguren gelingt es den meisten Schülern ungezwungen auch, Inhalt und Entwicklung der Handlung darzustellen. Stil- und Kompositionsmittel wurden teilweise in überzeugender Art erfaßt und angewandt.
Im Gegenteil, selbst "Fehler" bieten Anlaß zur lebhaften und fruchtbaren Diskussion. Wenn beispielsweise die Sicht- oder Handlungsweise einer Person nicht treffen verwendet wird, ergeben sich fruchtbare Anlässe zur Aussprache, zum Vergleich, weshalb eine Figur in einem Roman oder Drama so nicht handeln oder sprechen würde. Vergessen wir auch nicht: Unterrichtliches Handeln, unsere Methodenwahl bestärkt Schüler, denen diese Art des Vorgehens entgegenkommt.
Unterrichtserfahrungen mit Schreibanlässen belegen eindrucksvoll, daß die Erhöhung der Eigentätigkeit unserer Jugendlichen Kräfte auch im analytischen und strukturierenden Vorgehen freisetzen kann. Nicht zuletzt wird das Selbstorganisieren und Miteinanderarbeiten gestärkt.
So meinte ein Schüler, der Max Frischs "Andorra" in nur einem Tag gelesen hatte, das Stück sei "saugut". Dieser Jugendlich, ein sonst eher zurückhaltender Leser, war von der Fabel und der dramatischen Situation beeindruckt. Dieses Wecken von Interesse aber ist Voraussetzung, lebendig und offen an Texte, an Figuren, Konstellationen und Aussageabsichten heranzugehen.

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3. Kreativität und Sinnlichkeit

Kreativität bedarf der Sinnlichkeit. Kreativer Unterricht spricht möglichst alle Sinne an. Hören, sprechen, zeichnen und gestalten, auch fühlen. Ein Unterricht, der Sinnesschulung umfaßt, bringt eine Steigerung von Wortschatz und Ausrucksfähigkeit mit sich. Wörter, die Stille, Trauer oder Angst, auch Aufgeregtsein transportieren, können nicht einfach wie Vokabeln gelernt werden. Erst ein Erfahren und Ausprobieren macht sie im Ausdruck und Verstehen verfügbar.

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4. Die Bewertung von Schreibanlässen ist offener

Schreibanlässe müssen anders bewertet werden als Textbeschreibungen. Die Bewertung unterliegt wie die Aufgabenform selbst offeneren Meß- und Bewertungskriterien.
Dies verunsichert viele Kolleginnen und Kollegen auch dahingehend, daß sie befürchten, die Beurteilung könne zu sehr zufällig, ja willkürlich ausfallen.
Wir meinen, daß folgendes bei der Beurteilung freierer Texte berücksichtigt werden sollte:

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5. Bewertungsmaßstäbe

Die Bewertungsmaßstäbe kreativer Schreibanlässe zu "Andorra" orientieren sich an den formulierten Aufgabenstellungen und Hinweisen. Die folgende Aufstellung nennt allgemeine Maßstäbe.

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