Ist es nun eine Interpretation oder "nur" eine Textbeschreibung? Eine Frage, die nicht nur auf Korrekturbesprechungen immer wieder gestellt wurde, wenn es galt, die Aufsatzleistungen von Schülern zu messen? Und: manchmal hatte man als Lehrer (und Leser?) das Gefühl, der Umgang mit Literatur gehe nur über Interpretieren oder die strukturierte Textbeschreibung.
Frage: Wie entstehen eigentlich Leseratten - und wodurch bleiben sie es?
Im Literaturunterricht standen bislang textanalytische Verfahren bei Texterschließung, vor allem bei der Aufgabenstellung für Aufsätze und Klausuren im Vordergrund. Ihnen wird zudem eine größere Objektivität bei der Leistungsmessung zugewiesen.
Handlungsorientierte "Schreibanlässe" in Verbindung methodischer Wege wie Rollenspiel, Dialogisieren, Inszenieren u.a. bei der Erschließung von Texten fanden erst in den letzten Jahren verstärkt Einzug in didaktische Konzeptionen und auch in Lehr- und Bildungspläne. Lange galten sie nur als "Ergänzung" und "Auflockerung" des Literaturunterrichts. Dagegen haben sie ihre Eignung in vielfältigen Formen unter Beweis gestellt.
Im Zusammenhang mit Freiarbeit, offenem Unterricht und dem "Freien Schreiben" (in seinen durchaus unterschiedlichen Ausprägungen) ist die Forderung, mit Texten "kreativ umzugehen" (Bildungs- und Lehrpläne verschiedener Bundesländer) inzwischen festgeschrieben worden. In Baden-Württemberg wird seit 1995/96 in der schriftlichen Realschulabschlußprüfung im Fach Deutsch als Thema 5 eine neue Prüfungsform "Mit Texten kreativ umgehen" angeboten. Das Thema "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch, ein sicherlich "schwerer" Roman, brachte unterschiedliche Erfahrungen mit sich. Eines kann jedoch nach vielen Gesprächen und Beobachtungen gesagt werden: Schüler und Lehrer sind mit dieser neuen Form meist gut zurecht gekommen. Manche Leseunlust und "Interpretationsgängelei" konnte durch offene Unterrichts- und Erschließungswege vermieden werden. Die neue Aufsatzform wurde gerne gewählt und mit guten Ideen gelöst.
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Das Lesen und Verstehen literarischer Texte durch
produktions- und handlungsorientierte Verfahren unterstützt und
ergänzt den Deutschunterricht. Zu oft noch verstehen - und
erfahren - Schüler Literatur als etwas "Hohes", daß
Verstehen in erster Linie als etwas Abstraktes, Analytisches ist. So
werden literarische Ansätze auch in erster Linie in ihrem
"meaning"-Aspekt erfahren. "Der
Schriftsteller meint ... will damit sagen, ...". Dies muß durch Textuntersuchungen, durch
Textanalyse und Belegen systematisiert werden.
Lesegenuß, Unterhaltungswert und persönlich Betroffenheit
können so bei Lesen als zweitrangig erscheinen.
Was Literatur auch ist, erlebendes und genießenes
Hineinversetzen, Identifizieren und Ablehnen, gerät gerne zu
kurz. Auch das Wiederfinden seiner eigenen Erfahrungen und
Lebenssituationen über das Lesen hinaus ("significance")
rückt gar zu oft hintenan.
Vielfältige Erfahrungen in der Erwachsenenbildung belegen,
daß viele Literatur in ihrer Schulzeit als "Untersuchen" nicht
als Lesen und innerliches Erfassen des Kreativen erfahren haben. Und
leider war vielen das Interesse an Literatur zunächst
genommen.
Das Wirken von Literatur wird so nicht gefördert, oft ganz
zurückgestellt. Eine Ursache dieser weitverbreiteten
Demotivation ist die jahrzehntelange Überbetonung des Schreibens
und Lesens nach vorgegebenen Regeln. Für viele Schülerinnen
und Schüler werden Aufsätze und Schreibaufgaben so mit
Unlust und Unsicherheit, nicht das "Richtige" zu schreiben,
verbunden. Leider geht zudem auch die Bereitschaft, sich einem Text
offen auszusetzen, ein gutes Stück verloren. Aber genau dieses
Öffnen, dieses aktive Interessiertsein und diese Neugier
brauchen wir, wenn wir uns der Literatur aussetzen.
Das "Begreifen, was uns ergreift" (Gadamer) kann jedoch nicht nur
über das hermeneutische Erfahren, nicht nur und
ausschließlich durch strukturalistisches Textbeschreiben
erfaßt werden.
Thematik und Anliegen des Modells "Andorra" sind heute leider sehr
aktuell, Vorurteile und Bildnisse können nicht nur durch
rationales Erklären abgebaut werden. Eine gegen Vorurteile und
Bildnisse gewappnete Persönlichkeit ist offen und aktiv. Diese
Unabhängigkeit, dieser Eigensinn kann durch eigene
Schreibversuche, durch Weiterschreiben offener Textstellen, durch
Verändern von Textpassagen oder durch das Einfügen
möglicher Szenen ausprobiert und erfahren werden. Inhalt, Aufbau
und Struktur von Frischs "Andorra" können auch über
kreative Formen erschlossen und verstanden werden.
Die Charakteristik und Anlage einer Figur erfahre ich auch, indem ich
sie in neue Situationen stelle, sie gewissermaßen ausprobiere.
Durch dieses Verlängeren und Verändern im Schreibversuch
vollziehe ich aktive und beteiligt Geschehen und Situation mit.
Viele Kolleginnen und Kollegen befürchten, daß dabei das
belegende Verstehen eines Textes, seine Aussageabsicht verloren gehen
könnte.
Vielfältige Unterrichtsversuche mit Jugendbüchern in Klasse
5 und 6, mit Romanen und Theaterstücken in 9 und 10 zeigen
jedoch das Gegenteil: Schülerinnen und Schülern gelingt es
sehr wohl, sich durch eigenes Schreiben, durch "Ausprobieren" und
Verändern der Vorlagen in Szenen, Rollenspiel und Videosequenzen
dem Text produktiv und kreativ auszusetzen, ihn zu ergreifen.
Offene Literaturkurse, in denen durch sinnliche Anstöße
(eine Bachfuge zu Robert Schneiders "Schlafes Bruder", eine
Riechstraße zu Patrick Süßkinds "Das Parfüm"
...) oder durch eigentätige Einstiege (ein Bühnenbild zu
"Andorra" entwerfen, eine Einstiegsszene zu einem Roman zeichnen ...)
versucht wird, sich einem Text zu nähern, entwickeln ein hohes
Maß an Verstehen und Nachvollziehen auch durch strukturelle
Bezüge.
Die Erfahrungen zum Roman "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred
Andersch, im Schuljahr 1995/96 Thema 5 der schriftlichen
Realschulabschlußprüfung in Baden-Württemberg,
ermutigen. Von vielen Kolleginnen und Kollegen wissen wir, daß
Schüler Schreibanlässe gerne wählen und formal wie
inhaltlich kreativ lösen können. Eine Sorge vieler
Deutschlehrer wurde ebenfalls geringer: Schreibanlässe stehen
dem Analytischen nicht entgegen. Beim Verfassen einer
Rückerinnerung aus der Sicht einer der Romanfiguren gelingt es
den meisten Schülern ungezwungen auch, Inhalt und Entwicklung
der Handlung darzustellen. Stil- und Kompositionsmittel wurden
teilweise in überzeugender Art erfaßt und angewandt.
Im Gegenteil, selbst "Fehler" bieten Anlaß zur lebhaften und
fruchtbaren Diskussion. Wenn beispielsweise die Sicht- oder
Handlungsweise einer Person nicht treffen verwendet wird, ergeben
sich fruchtbare Anlässe zur Aussprache, zum Vergleich, weshalb
eine Figur in einem Roman oder Drama so nicht handeln oder sprechen
würde. Vergessen wir auch nicht: Unterrichtliches Handeln,
unsere Methodenwahl bestärkt Schüler, denen diese Art des
Vorgehens entgegenkommt.
Unterrichtserfahrungen mit Schreibanlässen belegen
eindrucksvoll, daß die Erhöhung der Eigentätigkeit
unserer Jugendlichen Kräfte auch im analytischen und
strukturierenden Vorgehen freisetzen kann. Nicht zuletzt wird das
Selbstorganisieren und Miteinanderarbeiten gestärkt.
So meinte ein Schüler, der Max Frischs "Andorra" in nur einem
Tag gelesen hatte, das Stück sei "saugut". Dieser Jugendlich,
ein sonst eher zurückhaltender Leser, war von der Fabel und der
dramatischen Situation beeindruckt. Dieses Wecken von Interesse aber
ist Voraussetzung, lebendig und offen an Texte, an Figuren,
Konstellationen und Aussageabsichten heranzugehen.
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Kreativität bedarf der Sinnlichkeit. Kreativer Unterricht spricht möglichst alle Sinne an. Hören, sprechen, zeichnen und gestalten, auch fühlen. Ein Unterricht, der Sinnesschulung umfaßt, bringt eine Steigerung von Wortschatz und Ausrucksfähigkeit mit sich. Wörter, die Stille, Trauer oder Angst, auch Aufgeregtsein transportieren, können nicht einfach wie Vokabeln gelernt werden. Erst ein Erfahren und Ausprobieren macht sie im Ausdruck und Verstehen verfügbar.
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Schreibanlässe müssen anders bewertet
werden als Textbeschreibungen. Die Bewertung unterliegt wie die
Aufgabenform selbst offeneren Meß- und Bewertungskriterien.
Dies verunsichert viele Kolleginnen und Kollegen auch dahingehend,
daß sie befürchten, die Beurteilung könne zu sehr
zufällig, ja willkürlich ausfallen.
Wir meinen, daß folgendes bei der Beurteilung freierer Texte
berücksichtigt werden sollte:
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Die Bewertungsmaßstäbe kreativer Schreibanlässe zu "Andorra" orientieren sich an den formulierten Aufgabenstellungen und Hinweisen. Die folgende Aufstellung nennt allgemeine Maßstäbe.