13.7.09
Der Codex Sinaiticus im Internet wieder vereint
Seit dem 6./7. Juli 2009 sind die vier verschiedenen Teile des
berühmten Codex Sinaiticus, der ältesten vollständigen
Bibelhandschrift in griechischer Sprache, wieder vereint - als
digitalisierte Dokumente. Ergänzt wird diese virtuelle Zusammenführung
zukünftig durch eine ausführliche Darstellung der Entdeckungsgeschichte
von Prof. Dr. Christfried Böttrich von der Universität
Greifswald, die zahlreiche neu recherchierte Archivalien einbezieht.
Im März 2009 hatten die Universitätsbibliothek Leipzig,
die British Library, das Katharinenkloster auf dem Sinai und
die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg vereinbart,
ihre jeweiligen Teile der Handschrift zu digitalisieren und virtuell
im Internet zusammenzufügen.
Die Geschichte des Codex Sinaiticus begann in der Mitte des
19. Jahrhunderts und erstreckte sich über einen Zeitraum
von insgesamt 15 Jahren. 1844 reiste der Leipziger Theologe Constantin
Tischendorf zum ersten Mal auf den Sinai, wobei er 129 Seiten
einer griechischen Bibelhandschrift fand. 43 Blätter durfte
er mitnehmen; der Rest verblieb im Kloster. Einer zweite Reise
im Jahre 1853, die jenen zurückgelassenen Blättern
galt, blieb erfolglos. Was Tischendorf suchte, schien inzwischen
verschollen zu sein. Erst seine dritte Reise von 1859, die er
im Auftrag des Zaren Alexender II. unternahm, war von Erfolg
gekrönt: Die restlichen Blätter, ergänzt um einen
weiteren umfangreichen Bestand (alles in allem 346 Blätter),
waren inzwischen wieder zusammengefügt und in der Zelle
des Oikonomos aufbewahrt worden. Nach ihrem Fundort bezeichnete
Tischendorf die Handschrift als Codex Sinaiticus; der erste,
nach Leipzig überführte Bestand an 43 Blättern
war bereits 1846 unter der Bezeichnung Codex Friderico-Augustanus
veröffentlicht worden.
Die beinahe quadratische, großformatige Handschrift mit
ihrem charakteristischen Schriftbild von vier Textkolumnen enthält
einen großen Teil des Alten Testaments, das komplette Neue
Testament sowie zwei weitere frühchristliche Schriften,
den Barnabasbrief und Teile einer christlichen Apokalypse, des
Hirten des Hermas. Paläographisch lässt sich der Codex
sicher in die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. datieren.

Katharinen-Kloster auf dem Sinai
Tischendorf begann noch in der Nacht der Entdeckung mit der
Arbeit an einer Publikation der Handschrift. Innerhalb von drei
Jahren legte er, zwischen den Verlagen in Leipzig und St. Petersburg
pendelnd, eine mustergültige Faksimileedition vor. Zu diesem
Zweck hatten ihm die Väter des Klosters die Handschrift
zunächst leihweise überlassen, wofür auch der
russische Botschafter in Konstantinopel bürgte. Gleichzeitig
entstand der Plan einer Schenkung an den Zaren, der jedoch aufgrund
interner Auseinandersetzungen um die Neuwahl des Erzbischofs
vom Sinai nicht ausgeführt werden konnte. Erst 1869 wurde
die Schenkung in aller Form durch den inzwischen rechtmäßig
installierten Erzbischof Kallistratos vollzogen; die Handschrift
wechselte in St. Petersburg daraufhin vom Außenministerium
in die Räume der ehrwürdigen Öffentlichen Bibliothek über.
1933 verkaufte die Regierung der Sowjetunion die 346 Blätter
für 100.000 Pfund an die Bibliothek des Britischen Museums.
Der entscheidende Erlass wurde von Stalin persönlich unterzeichnet. 
Blatt vom "Codex Sinaiticus" (4. Jh.).
Beide Bilder © Universität Greifswald
Ein letzter Akt der Entdeckungsgeschichte fand 1975 statt,
als bei Bauarbeiten im Katharinenkloster auf dem Sinai noch einmal
zwölf neue, bislang unbekannte Blätter gefunden wurden.
Sie sind ein besonders wichtiger Bestandteil des gegenwärtigen
Digitalisierungsprojektes.
Die abenteuerliche Entdeckungsgeschichte des Codex Sinaiticus
war bislang mit einer Reihe von Unklarheiten behaftet. Vor allem
die Person Tischendorfs geriet dabei immer wieder in das Kreuzfeuer
der Kritik. Dass die Handschrift gestohlen bzw. unrechtmäßig
nach St. Persburg gebracht worden sei, begründete man mit
ihrem Charakter als einer Leihgabe. Von Seiten des Klosters wurde
auf ein entsprechendes Dokument verwiesen, dass seit 1964 auch
im Druck zugänglich ist. Das Faktum einer Schenkung indessen
zog man zunehmend in Zweifel. Im Rahmen des Digitalisierungsprojektes
fanden deshalb noch einmal umfangreiche Recherchen in russischen,
englischen und deutschen Archiven statt, die eine Fülle
neuen Materials zutage förderten. Darunter befinden sich
auch die in Moskau entdeckten und 2007 publizierten Schenkungsdokumente
sowie zahlreiche Schriftstücke, die eine präzise Rekonstruktion
des Verkaufes nach London gestatten. Auf der Basis dieses neuen
Materials hat Prof. Dr. Christfried Böttrich von der Universität
Greifswald, der seit Jahren mit den Leipziger Nachlässen
Tischendorfs befasst ist, die Entdeckungsgeschichte des Codex
Sinaiticus neu geschrieben. Diese bislang detaillierteste Darstellung
wird in Kürze auf der Website des Projektes www.codex-sinaiticus.net
erscheinen (deutsch, englisch, russisch, griechisch). Damit verbindet
sich auch die Hoffnung, jenen über lange Zeit schwelenden
Konflikt zu überwinden und zu einer neuen, gemeinsamen Sicht
auf die Umstände der Entdeckung und des Transfers dieser
einzigartigen Handschrift nach Leipzig, St. Petersburg und London
zu gelangen.
Bereits seit Juli 2008 waren erste Teile der Leipziger und der
Londoner Blätter im Internet zu sehen. Mit der Londoner
Tagung von Anfang Juli 2009 soll diese Präsentation ihren
vorläufigen Abschluss finden. Für die weitere Erforschung
des griechischen Bibeltextes ist damit ein Instrument geschaffen,
das Modellcharakter auch für andere, aufgrund ihrer Entdeckungsgeschichte
auf verschiedene Standorte verteilte Handschriften, gewinnen
könnte.
Jan Meßerschmidt, Presse- und Informationsstelle
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
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