4.9.09
Ursprung der Milch-Verträglichkeit bei Erwachsenen
liegt in Südosteuropa
Studie verortet den Beginn der Milchwirtschaft
nicht in Nord-, sondern in Südosteuropa - Veröffentlichung in PLoS Computational
Biology
Die Fähigkeit, Milch auch im Erwachsenenalter zu verdauen,
ist vor etwa 7500 Jahren in einer Region zwischen dem zentralen
Balkan und Mitteleuropa unter Milchwirtschaftsbauern entstanden.
Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler des University College
London (UCL) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
in einer neuen Studie, die das Fachmagazin PLoS Computational
Biology heute als Titelgeschichte veröffentlicht hat. Die
sogenannte Laktosetoleranz, also die Verträglichkeit von
Milchzucker über die Säuglingszeit hinaus, nahm demnach
nicht in Nordeuropa ihren Anfang.
"Wir gehen jetzt davon aus, dass die Milch-Verträglichkeit
vor etwa 7500 Jahren im Gebiet des heutigen Ungarn, Österreichs
oder der Slowakei aufgekommen ist, vielleicht in der Kultur der
Linearbandkeramiker, und sich von dort aus mit unglaublicher
Durchsetzungskraft unter der gesamten mittel- und nordeuropäischen
Bevölkerung verbreitet hat", erklärt Prof. Dr.
Joachim Burger vom Institut für Anthropologie der Universität
Mainz. Heute liegt die Milch-Verträglichkeit unter Erwachsenen
bei durchschnittlich 60 Prozent in Mitteleuropa im Vergleich
zu nur 20 Prozent in Südeuropa und einer nahezu kompletten
Milch-Unverträglichkeit in den meisten anderen Regionen
der Welt.

Erwachsene Menschen konnten nicht schon seit eh und je Milch
verdauen und ein großer Teil der Weltbevölkerung kann
es auch heute noch nicht. Die Fähigkeit, den Milchzucker
Laktose zu spalten, verliert sich normalerweise nach der Säuglingszeit.
Dann geht die Bildung des Enzyms Laktase, das den Milchzucker
in verwertbare Zuckerarten aufteilt, zurück. Reine Milch
kann dann kaum noch verdaut werden, sondern muss durch spezielle
Prozesse wie Käse- oder Joghurtherstellung verträglicher
gemacht werden. "Andere Völker haben die Milch-Intoleranz
sozusagen kulturell gelöst", so Burger. "Unter
unseren jungsteinzeitlichen Vorfahren in Mitteleuropa hat sich
dagegen eine Genmutation herausgebildet, die sogenannte Laktasepersistenz.
Dieses Merkmal hat sich rasant demographisch durchgesetzt wie
kaum ein anderes". Wie genau sich die neue Fähigkeit
verbreitet hat und mit dem Aufkommen der Tierhaltung - die ersten
Hausrinder kamen vor ungefähr 8000 Jahren aus Anatolien
nach Europa - einherging, muss noch untersucht werden.
Bei der jetzigen Arbeit hat das Team, zu dem Wissenschaftler
der britischen Elite-Universität UCL, der University of
Reading und des Instituts für Anthropologie der Universität
Mainz gehören, eine Computersimulation verwendet. Simuliert
wird die mögliche Verbreitung der Variante in Milchwirtschaft
betreibenden Ackerbauern, die von Jäger- und Sammlerpopulationen
umgeben sind. "Wir waren etwas überrascht, dass der
Ursprung der Laktasepersistenz offenbar nicht im nördlichen
Europa beheimatet ist", sagt Mark Thomas, Seniorautor der
Studie und Professor für Evolutionsbiologie in London. "Die
heutige Verteilung der Genmutation hätte diesen Rückschluss
begünstigt, liegt doch die Milch-Verträglichkeit unter
Nordeuropäern in Skandinavien und Irland bei rund 90 Prozent."
Dass sich die Milch-Verträglichkeit in evolutionsgeschichtlich
gesehen so kurzer Zeit so schnell verbreitet hat, dürfte
verschiedene Gründe haben, die jeweils einen Entwicklungsvorteil
bedingen. Im Gegensatz zu anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen
ist Milch beispielsweise ständig verfügbar, aber auch
die Energie, die aus einer Kuh beim Melken gewonnen wird, ist
höher als die durch Schlachten. Aber auch rein demographische
Gründe, nämlich der sogenannte Surf-Effekt in einer
sich ausbreitenden Bevölkerung, können für die
hohe Häufigkeit im Norden verantwortlich sein.
Außer in Europa ist in Afrika noch eine Reihe von kleineren
Bevölkerungsgruppen mit veränderter Laktaseproduktion
bekannt, wobei drei davon vermutlich die Mutation unabhängig
entwickelt haben. |