Bericht über eine Kurzreise in die Ukraine, den Besuch bei der ukrainischen Stiftung und sechs ehemaligen, in Gersthofen tätigen Zwangsarbeitern (8.2. bis 12.2.2002)

1. Zweck meines Besuches

Absicht meines Besuches in der Ukraine war es, die von meinen Schülern und mir im Rahmen unseres Projektes gesammelten Spenden unter den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern zu verteilen. Auf meiner Reise besuchte ich deshalb Frau Tjutiunnik in Uman (früher bei Frau Kranzfelder tätig), Frau Olga Jemelina in Saporoshje (Schlossbauernhof Schegg), Herrn Pavel Kotlarow in Saporoshje (Säge- und Holzfabrik Hery), Herrn Iwan Dwirko und Tadeusch Malinowski im Bezirk Kiew (alle Säge- und Holzfabrik Hery) sowie Pelagia Barabasch aus dem Bezirk Kiew (Georg Mayr). Alle besuchten Personen waren knapp unter bzw. über 80 Jahren. Mit Ausnahme von Frau Jemelina hatte noch keine der besuchten Personen eine Entschädigung erhalten, Herr Kotlarow , Herr Dwirko und Herr Malinowski wurden von einer bevorstehenden Zahlung unterrichtet. Die Rente dieser Personen beläuft sich in der Regel auf umgerechnet 30-40 Mark im Monat.

2. Politische Lage in der Ukraine

Die Ukraine muss als autoritärer Staat mit allenfalls Ansätzen zur Demokratie angesehen werden. Für Staatspräsident Leo Kutschma ist die Ukraine weiterhin ein Selbstbedienungsladen, sein Schwiegersohn kontrolliert den Fernsehkanal ICT und besitzt bedeutende Röhrenwerke, seine Tochter betreibt das größte Mobilfunknetz "Kiewstar". Im sogenannten "Kassettenskandal" wurde er bezichtigt, den Auftrag zur Ermordung eines Journalisten veranlasst zu haben. Die Opposition im Lande wird permanent eingeschüchtert, zu den bevorstehenden Parlamentswahlen in knapp 3 Monaten erhalten die SPU von Alex Moros und die "Heimat" - Partei von Julia Timochenko gerade zwei mal 30 Minuten im öffentlichen Fernsehen, das private Fernsehen vermeidet so weit wie möglich die Ausstrahlung politischer Werbespots der Opposition. Trotzdem ist das Parlament noch eine "Insel der Demokratie", in der sich allerdings Kutschma der politischen Parteien bedient, um Mehrheiten für seine Politik zu sichern. Bei entscheidenden Fragen steht auch die Kommunistische Partei hinter Kutschma, dessen Wahlkampf von den großen Industriemagnaten finanziert wird. Der Generalstaatsanwalt ist Mitglied der KP der Ukraine, selbst das Aufsichtsratsmitglied der ukrainischen nationalen Stiftung "Verständigung und Aussöhnung", Igor Scharov, ist Mitglied der Kommunistischen Partei. Im Parlament sitzt mit Frau Natalia Vitrenko ein Pendant zum russischen Ultrarechten Nationalisten Schirinowski. Das Ausland unterstützt Kutschma, weil es ein Wiedererstarken der Kommunstischen Partei, noch immer stärkste Fraktion im Parlament, mehr fürchtet als den Autokraten Kutschma. An manchen Orten ist die sozialistische Vergangenheit in Form von Strassennamen und Denkmälern von Lenin, ja sogar von Tscherschinskji, ehemals Leiter der gefürchteten Tscheka, des Unterdrückungsapparates zu Stalins Zeiten noch überaus präsent und die Pensionäre verklären die stalinistische Vergangenheit.
Eines ist klar: die Ukraine befindet sich in einem schwierigen Transformationsprozeß, der nicht an unseren demokratieerprobten Politikverständis gemessen werden kann.

3. Weshalb Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter?

Rufen wir uns ins Gedächtnis:
Durch den Krieg verlor die Sowjetunion ungefähr 30 Prozent ihrer Bevölkerung, mehr als sechs Millionen Menschen wurden während der deutschen Besetzung gezielt ermordet. Fünfeinhalb Millionen Sowjetbürger starben durch Hunger und Krankheit. Nach dem Überfall Deutschlands wurden über 4 Millionen Kriegsgefangene und Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Den Verschleppten wurde das Los von Sklaven und die Behandlung als "bolschewistische Untermenschen" zuteil. Sie waren billigste Arbeitskräfte für den deutschen "Endsieg" in der Industrie, im Bergbau und in der Landwirtschaft unter gröbster Missachtung völkerrechtlicher Vereinbarungen.
Im Londoner Schuldenabkommen - das 1953 die deutschen Kriegs- und Nachkriegsschulden regelte - war die Regelung der Reparationszahlungen Deutschlands auf einen Friedensvertrag verschoben worden. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands ein Zwei-plus-Vier-Abkommen geschlossen - kein Friedensvertrag - und von humanitärer Ausgleichsleistung gesprochen, um die Frage der Entschädigung nicht mehr aufrollen zu müssen.
So einigten sich Helmut Kohl und Boris Jelzin im Dezember 1992 auf eine humanitäre "Ausgleichszahlung" von 1 Milliarde DM, welche im Schlüssel von 40:40:20 an Russland, die Ukraine und Weißrussland ausbezahlt werden sollte.
Ab 2. August 2000 sollten die ehemaligen Zwangsarbeiter aus den osteuropäischen Staaten gemäss dem bundesdeutschen Gesetz zur Schaffung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" "möglichst unbürokratisch und schnell" aus dem Fonds mit einem Einlagekapital von 10 Milliarden Mark entschädigt werden.
Die Zahlungen und die Bereitschaft deutscher Unternehmen, moralische Verantwortung zu übernehmen, waren erst unter dem Druck der Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter in den USA zustande gekommen. Allerdings betonten die deutschen Unternehmen stets, dass keinerlei Rechtsansprüche gegen sie im Hinblick auf Zwangsarbeit oder Schäden wegen der Verfolgung während der NS-Zeit bestünden. Das Gesetz zur Errichtung der Stiftung enthält deshalb ausdrücklich eine Rechtssicherheitsklausel. Jeder von der Stiftung bedachte ehemalige Zwangsarbeiter unterzeichnet bei Empfang des Geldes eine Verzichtserklärung mit dem folgenden Inhalt: "Beim Empfang der Leistung aus den Mitteln EVZ (Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" Anmerkung des Autors) verzichte ich für immer auf alle Ansprueche gegenueber BRD, deutsche Unternehmen, Oesterreich und oesterreichsische Unternehmen."

Soweit zum Hintergrund der Zahlungen. Mit der Auszahlungen wurden die drei nationalen Stiftungen der Ukraine, Weißrussland und Russlands allerdings allein gelassen, die Mitwirkung der Opfer und ihrer Verbände und Bürgerrechtsorganisationen wurde in der Aufbauphase der Stiftungen verweigert. Die demokratische Kontrolle von gesellschaftlichen Gruppen war offensichtlich nicht erwünscht. Die Betroffenen fühlten sich vom Entscheidungsprozeß ausgegrenzt.
Die Vorsitzenden der ukrainischen Opferverbände, Herr Markijan Demydow und Herr Wladimir Litwinow, mit denen ich bei meinem Besuch in Kiew sprechen konnte, bedauern, dass ihre Vorschläge nicht in angemessener Weise ins Stiftungsgesetz eingegangen sind und die spezifischen ukrainischen Besonderheiten nicht berücksichtigt wurden.

4. Besuch bei den vor über 57 Jahren in Gersthofen tätigen ehemaligen Zwangsarbeitern

Unser Forschungsprojekt zum Thema Zwangsarbeit war von Anfang an gedacht als eine Form der Entschuldigung für das diesen Menschen im Nationalsozialismus angetane Unrecht. Gleichzeitig war die Forschungsarbeit begleitet vom Bestreben, etwas für die ehemals in Gersthofen tätigen Menschen zu tun.
Nachdem sich trotz der Schaffung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" die Zahlungen immer mehr hinauszögerten und auch heute noch nicht mehr als 10-15 % des Stiftungskapitals ausbezahlt ist, wollten meine Schüler und ich humanitär tätig werden. Vier Personen luden wir nach Gersthofen ein und unterstützten sie finanziell. Im Februar 2002 schließlich flog ich in die Ukraine, um den Personen zu helfen, die im Oktober aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht hatten kommen können.

Besuch in Tscherkassy bei Frau Tjutiunnik

Am Samstag fahre ich mit Lubov Sochka, zuständig für humanitäre Angelegenheiten und Besucherprogramme bei der ukrainischen Stiftung mit dem Auto in das Herz des Schwarzerdegebietes, in die Region Tscherkassy, fast genau zwischen Odessa und Kiew liegend.
Frau Luisia Tjutiunnik können wir nicht in ihrem Dorf besuchen, es ist für den Autoverkehr nicht zugänglich, deshalb haben wir ein Treffen bei ihrer Tochter in Uman, einer Kleinstadt mit 20 000 Einwohnern vereinbart. Die ganze Familie, vier Generationen unter einem Dach, hat unserem Besuch schon entgegengefiebert. Sie wohnen in einem der zu Chrustschows Zeiten errichteten hässlichen dreistöckigen Mietblocks, ungeteerte Straßeneinfahrt, schmutziger, verwahrloster Hauseingang, zu Zeiten des Sozialismus hatte sich niemand um den Erhalt gekümmert, es war ja alles Gemeineigentum.
Umso sauberer die Wohnung selbst. Seit 10 Jahren können die Bürger für wenig Geld die ehemaligen Mietwohnungen käuflich erwerben. Jetzt halten sie die Wohnungen in Schuss, renovieren, tapezieren, legen neue Leitungen und Fußböden. Frau Tiutiunnik empfängt uns mit deutschen Grußworten, sie küsst mir die Hände, ich bin ganz verlegen. Jetzt kann ich erst erahnen, was das Geld für sie bedeutet, es hilft nicht nur ihr, sondern der ganzen Familie. Sie erzählt, wie sie nach Deutschland deportiert wurde, als 16-jährige, ohne gefragt zu werden, zuerst musste sie in Hausham in einer Fabrik arbeiten, ehe sie nach Gersthofen kam. Dort wurde sie bei Frau Kranzfelder mit anderen Frauen untergebracht, in einem zweistöckigen Haus, an alle Einzelheiten kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie arbeitete in einer Fabrik (Schuhfabrik Schraml), Ausgang hatte sie keinen, erst nach ein paar Monaten ziehen sie um in ein größeres Lager von Zeuna/MAN. Ganz klar, damit meint sie das Lager in der Schönbachstrasse, im ehemaligen "Fischerhölzle".
Ihr Mann, ganz zahnlos, spricht einige Brocken Deutsch. Er hatte in Holzkirchen Zwangsarbeit geleistet. Hat er schon Geld von der Stiftung erhalten? Weder seine Frau noch er, antwortet er, er habe ohnehin kein Geld beantragt. Als er 1945 in die Heimat zurückgeführt wurde, kam er in ein sogenanntes Filtrierungslager und wurde dort wochenlang vom sowjetischen Sicherheitsdienst verhört. Er behauptete, in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten zu sein. Aus Furcht, der Kooperation mit den Deutschen bezichtigt zu werden, verschweigt er seine Zwangsarbeit in Deutschland. Also hat er auch bis zum heutigen Tag keinen Antrag auf Entschädigung gestellt. Natürlich könnte er das Geld dringend benötigen. Aber die Not war seit Jahrzehnten regelmäßiger Begleiter des Ehepaares. Frau Luisia weiß, dass ihr Mann todkrank ist. Medikamente? Die sprechen nicht mehr an, können seine ständigen Kopfschmerzen nicht lindern, seit der letzten Operation wird er die Schmerzen nicht mehr los. Seit über 50 Jahren leben sie zusammen, ohne ihn möchte sie nicht weiter leben, dann ist für beide das Leben vorbei. Luisja möchte mit ihrem Mann sterben, ohne ihn macht ihr Leben keinen Sinn mehr.
Dann wird aufgetischt. Die Tochter und der Schwiegersohn bringen ihren Dank zum Ausdruck, laden den Tisch mit verlockenden Speisen voll, Huhn, Fisch, Fleisch, Gemüse, Wodka, alles was es sonst im Hause nicht oder nur seltenst zu essen gibt. Ein wahrlicher Augenschmaus! Die Gastgeber nötigen mich geradezu zu essen. Ein herzlicher Abschied. Selbstgestickte Sachen, Äpfel, Eingemachtes muss ich mitnehmen, ansonsten darf ich die Wohnung nicht verlassen. Menschliche Wärme wo man hinblickt, die Tochter begleitet uns zum Ortsausgang, winkt uns zum Abschied nach. Schon jetzt hat sich meine Reise gelohnt.
In drei Stunden sind wir zurück in Kiew, am Straßenrand überall alte Frauen, die Äpfel oder Gemüse anbieten, dort verweilen sie den ganzen Tag. Ob da Geschäfte zu machen sind?
Eine halbe Stunde frisch machen, dann zum Bahnhof Kiew, von wo vor fast 60 Jahren die Zwangsarbeiter nach Deutschland verfrachtet wurden. Jetzt in einer Zweipersonenkabine in 12-stündiger Bahnfahrt nach Saporoshjie, einer Industriestadt.

Probleme der Auszahlung

Lubov erzählt mir alles über die Probleme der Stiftung, über die Schwierigkeiten der Nachweisbeschaffung. Die Menschen können nach fast 60 Jahren nicht mehr die lateinische Schrift lesen, haben den genauen Namen der Stadt vergessen, in der sie arbeiteten. Vor ein paar Monaten wurden 52 Anträge zurückgewiesen, weil die Unterschriften der Personen nicht mit denen von vor 10 Jahren übereinstimmten. Anscheinend haben die hohen Herren der deutschen Stiftung den Alterungsprozess der Menschen gänzlich außer Acht gelassen!
In den örtlichen Archiven liegen Kopien aus den Filtrierungslagern, wenn nicht, dann schreibt die Stiftung an das zentrale Militärarchiv in Moskau, falls dort keine Beweise vorhanden sind, wenden sich die Experten (insgesamt 100 Mitarbeiter hat die Stiftung für die Bearbeitung von 558 000 Anträgen) nach Bad Arolsen an den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes. Aber von dort erhält man nur den Nachweis des Wohnortes, aber nicht den dringend geforderten Beschäftigungsnachweis, von dem es abhängt, wie viel Geld ausbezahlt wird.
Bei Beschäftigung in einem privaten Haushalt oder bei einem Bauern gibt es DM 1500, bei Beschäftigung in der Industrie gibt es 4300 DM, Sklavenarbeiter im KZ erhalten bei Nachweis 15000 DM. Das KZ muss aber außerhalb der Sowjetunion sein, denn ansonsten ist der Tatbestand der Deportation nicht gegeben. Für KZ-Aufenthalt in den baltischen Staaten oder in der Sowjetunion gibt es nichts. Welcher Hohn! Das Geld wird von der Stiftung nicht in einer Einmalzahlung an die ehemaligen Zwangsarbeiter überwiesen, sondern erfolgt in zwei Tranchen. So erhalten die Angehörigen der ersten Kategorien anfangs nur 950 DM, der zweiten und dritten Kategorie ebenfalls nur 65% der Gesamtsumme. Die Stiftung hat Angst, das Geld könne nicht reichen, hofft anscheinend auf eine "biologische" Lösung des Problems. Die deutsche Stiftung hat Kinder unter 12 Jahre gar nicht in der Entschädigung vorgesehen. Zusätzliche Opfergruppen müssen also aus dem gleichen Topf entschädigt werden, deshalb hat man für Industriearbeiter die Summen schon gekürzt, Sinti, Roma und Juden sind ebenfalls zu befriedigen, die Stiftung legt keinen Pfennig mehr drauf. Am schlimmsten gestaltet sich die Rechtsnachfolgefrage verstorbener Zwangsarbeiter. Falls eine Person verstirbt, so muss das Geld mit Zinsen nach Deutschland zurücküberwiesen werden, erst dann können die Angehörigen einen neuen Antrag stellen. Das verdoppelt die Arbeit der Stiftung, frustriert die Angehörigen. Die österreichische Stiftung hingegen erlaubt noch weitere Antragstellung bis 27.12.2002, zahlt in einer Tranche aus und zahlt auch sofort an die Hinterbliebenen aus. Würde die Stiftung EVZ diesem Beispiel folgen, dann würde dadurch logischerweise sich die Auszahlung erheblich beschleunigen. Schlimm, dass selbst bei der Auszahlung dieser geringen Summen, welche auf 1942 zurückgerechnet nur zweistellige Beträge ausmachen, noch ein solcher pedantischer Bürokratismus herrscht. Die Beweisfindung verzögert die Auszahlung ebenso, ein prinzipielles Vorgehen nach Plausibilitätserklärungen könnte hier Abhilfe schaffen. Hinzu kommen organisatorische Probleme der ukrainischen Stiftung. Ganze drei Personen sprechen in der Stiftung gutes Deutsch, übersetzen die Dokumente, beantworten Anfragen deutscher Historiker und von Kommunen, die sich "mit dem Gedanken tragen, ehemalige Zwangsarbeiter nach Deutschland einzuladen". Hoffentlich tragen sie sich nicht zu lange mit diesem Gedanken, bald gibt es keine ehemaligen Zwangsarbeiter mehr! Studenten der deutschen Sprache arbeiten in Nachtschichten in der Stiftung und stellen Anfragen an deutsche Archive. Die deutsche Stiftung sendet jeden bei ihr gestellten Antrag an die ukrainische Stiftung zurück, bei der Beweisfindung ist sie ganz auf den eigenen organisatorischen Apparat gestellt.

Besuch in Saporoshjie

Es ist ein sonniger Morgen, wir erreichen pünktlich um 8.41 Ortszeit Saporoshjie. Jetzt gilt nicht mehr wie früher die Moskauer Zeit in den Bahnhöfen, die zu Zeiten des Sowjetsystems im Sinne der Russifizierung gewissermaßen exterritoriales Gebiet darstellten. Saporoshjie gehört heute noch zum "roten Streifen", wie man in der Ukraine sagt, d.h. die Menschen hier hängen noch stark an der sozialistischen Vergangenheit. Das merkt man gleich beim hiesigen Leiter der Stiftung, der Flüche auf die Perestrojka ausstößt und unmissverständlich die stalinistische Vergangenheit beschwört. Meinen Hinweis auf den Hitler-Stalin-Pakt lässt er unbeantwortet, Stalin habe das Vaterland verteidigt, habe eine gute Außenpolitik geführt. Ob er die Millionen von Opfern der stalinistischen Kollektivierungsmaßnahmen vergessen habe, frage ich ihn. Die wolle er nicht abstreiten, antwortet er mir und lässt davon ab, mich über die sozialistische Vergangenheit zu belehren.
Unser örtlicher Leiter ist schon Pensionär, ist über 72. Aber er setzt seine ganze Energie in die Aufgabe der Beweisbeschaffung für seine Landsleute. Ich habe Respekt vor ihm. Zusammen mit einem Fernsehteam fahren wir in einen Vorort, in einem dieser hässlichen Blocks aus der Breschnewzeit, die jetzt schon im Plattenbau siebenstöckig errichtet und dementsprechend verwahrlost sind, wohnt Frau Olga Jemelina, mit der ich schon seit langem in Briefkontakt stehe. Sie empfängt uns in ihrem rotem Festtagskleid, humpelt uns entgegen, seit der Deportation nach Deutschland hat sie ein lädiertes Bein. Ich lege ihr einen Brief von ihrem früheren Nachbarn in der Bauernstraße vor, zeige ihr Bilder von ihm, sie kann sich genau erinnern. An den Obstbaum der über den Zaun herüberwuchs, an die Nachbarn, die anderen Zwangsarbeiter auf dem Bauernhof, an ihr Bett beim Bauern im 2. Stock in der Kammer, das so weich und warm war. Sie hegt keinen Groll. Leben die beiden Töchter noch ? Sie kennt die Namen, ich solle einen Gruß an sie bestellen. Sie hat einen neuen Fernseher in ihrer Einzimmerwohnung. Ja, letzten Monat erhielt sie die 950 DM aus der ersten Rate der Entschädigung, wann die restlichen 350 Mark kommen, weiß niemand, dafür müssten erst einmal alle weiteren über 400 000 Anträge bearbeitet sein, erst dann kann sie mit der zweiten Rate rechnen. Ob Olga das noch erlebt ? Wir sind froh, ihr ein wenig Geld dalassen zu können. Sie hat in den letzten zehn Jahren nicht nur ihren Mann, sondern auch die beiden Söhne verloren, ihr ältester Sohn verstarb mit gerade 52 Jahren, der jüngere mit 40 Jahren. Nun ist sie allein. Frau Jemelina begleitet uns auf den Gang, verabschiedet uns mit Tränen in den Augen. Gott möge sie beschützen und segnen, übersetzt Lubov ihre letzten Worte.

Es ist ganz ruhig im Bus, der uns nach einstündiger Fahrt zu Herrn Pawel Kotlarow bringt. Er empfängt uns am Straßenrand und geleitet uns in sein winziges Häuschen, Toilette im Garten. Ich nehme seine Hand, die nicht mehr aufhört zu zittern. Es ist die Aufregung, sagt seine Frau. Ich überreiche Herrn Kotlarow die Bilder der Schüler, die das historische Projekt mit mir bearbeitet haben. Er schaut lange darauf und ist sichtlich gerührt. Es gibt ein Deutschland, das sich für ihn und sein Schicksal interessiert, junge Menschen, die seine Vergangenheit aufgearbeitet haben. Ich erzähle ihm von meiner sechsten Klasse, die spontan kurz vor meiner Abreise in die Ukraine noch 200 Mark gesammelt hat. Auch ihr Bild übergebe ich an Herrn Kotlarow.
Wie er nach Deutschland kam? Der erste Ort war Dachau, dort war er anfangs im KZ, sie zeigten ihm eine Leiche in den Verbrennungsöfen, dann arbeitete er in der Nähe der Alpen, dann wieder in der Nähe Münchens, dann kam er nach langer Krankheit von Dachau aus nach Gersthofen. Er erinnert sich genau an die beiden Vorarbeiter, Pieler und Dotterweich. Ich erzähle ihm, dass Frau Hery noch lebt, er sagt, sie sei eine sehr schöne Frau gewesen. Dann überreiche ich ihm die Broschüre, die wir zum Thema Zwangsarbeit erstellt haben, zeige ihm die Seiten über das Holz- und Sägewerk Hery. Kann er sich an Arsen Karatschun erinnern, frage ich ihn, der damals die Mandoline spielte, die er von Ludwig Kroll erhalten habe? Arsen sei ihr Dolmetscher gewesen, aber nicht dieser, sondern er selbst habe die Mandoline gespielt. Er holt eine Mandoline hervor und beginnt auf ihr zu spielen. Wir sind alle sehr betroffen. Der alte Mann spielt ganz zittrig aber ungeheuer eindrucksvoll eine Melodie, dann noch eine.
Hat er schon Geld von der Stiftung erhalten? Nein, aber hier ist ein Schreiben der Stiftung, die ihn auffordert, zur Bank zu kommen. Der Betrag, den er bekommt, ist nicht genannt. Zu oft hat sich das im Dorf herumgesprochen, wenn jemand von den Nemetzki eine Entschädigung bekommen hat. Da ist die Gefahr groß, dass man bestohlen wird. Nein, ein Konto hat Herr Kotlarow wie fast alle ukrainischen Bürger nicht, er wird erst eines eröffnen müssen. Soviel Geld wagt er nicht im Hause zu behalten. Wir verlassen Herrn Kotlarow, er geleitet uns ganz langsam zu seiner Gartentüre, lässt sich mit mir photographieren, dankt mir nochmals ganz herzlich. Ich verabschiede mich von ihm, er zittert nicht mehr. Obwohl von schwerer Krankheit gezeichnet, hinterlässt er bei mir den Eindruck eines überaus würdevollen Menschen.
Am Nachmittag zeigt uns unser im Herzen Kommunist gebliebener örtlicher Leiter der Stiftung das 1928 bis 1932 erbaute Elektrizitätswerk. "Bolschewismus ist Sowjetsystem plus Elektrifizierung", zitiere ich Lenin und er ist selig. Die Führung durch einen Betriebsangehörigen ist geradezu mystifizierend. Ein großes Bild hängt von der Decke des Elektrizitätswerkes, dort ist das Werk abgebildet mitsamt seinen Erbauern, die ihre rote Fahne hissen, dahinter ein Regenbogen. Hier in Saporoshjie scheinen die Uhren noch stehen geblieben zu sein.
Nach 2-stündiger Führung dann endlich gegen 16.30 Mittagessen. Arme Lubov, die kaum zum Verschnaufen kommt, der örtliche Leiter räsoniert über Weltpolitik. Dabei kommen wir uns näher, Bier versagt er mir und serviert viel Weinbrand. Als er uns nach einem weiteren Gespräch über die Arbeit der regionalen Stiftung schließlich zum Bahnhof bringt, umarmt er mich und bietet mir den sozialistischen Bruderkuss dar, ich nenne ihn Towarisch, Genosse. Lubov lacht von ganzem Herzen, sagt, sie habe diesen Ausdruck seit 10 Jahren nicht mehr gehört.
Es ist dunkel, als wir den Zug besteigen. Eingedeckt mit ein paar Äpfeln, Würsten und Flaschenbier geht es zurück nach Kiew, weitere Gespräche über die Probleme der Stiftung folgen, wenn ich schon so kurz nur da bin, will ich schon alles wissen.

Begegnung mit Tadeusch Malinowski und Iwan Dwirko

Keineswegs ermüdet durch die nächtliche Bahnfahrt bleibt mir gerade Zeit zum Duschen, dann geht es in die Stiftung. Im Erdgeschoss treffe ich bereits Tadeusch Malinowski, der mit seinem Sohn aus dem nahegelegenen Dorf angereist ist. Das Geld hierfür haben sie sich von den Nachbarn ausgeliehen. Viele der älteren Menschen haben nicht einmal das Geld, um eine Briefmarke zu kaufen. Wenn ich den ehemaligen Zwangsarbeitern schreibe, lege ich stets einen frankierten Rückumschlag bei, erklärt mir Lubov. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Lubov hat viele Briefe für mich an die in Gersthofen tätigen Zwangsarbeiter nicht nur übersetzt, sondern auch für mich frankiert. Aus eigener Tasche. Ich habe kaum Zeit, mit Herrn Malinowski und den Töchtern von Frau Barabasch (die Mutter ist krank und liegt zu Hause) zu sprechen. Pressetermin ist angesagt. Ich traue meinen Augen kaum. Vier Fernsehteams der ukrainischen Anstalten, dazu mehr als 30 Reporter, die kaum im Konferenzzimmer Platz finden. Reporter von Associated Press, CNN und der Times sind anwesend. Da kommt auch Herr Iwan Dwirko, der gemeinsam mit Herrn Malinowski und Kotlarow bei Hery gearbeitet hat. Tadeusch Malinowski wird darauf aufmerksam gemacht, dass dies Herr Dwirko sei. "Der ist aber alt geworden" meint er unter dem Schmunzeln der Reporter. Dann unterhalten sie sich ungerührt und lange, als ob niemand sonst anwesend wäre. Unglaublich, nach 57 Jahren zählt Herr Iwan Dwirko die Namen der Mitgefangenen auf. Tadeusch Malinowski stimmt ein und nennt weitere Namen. Ich zeige ihnen ein Originaldokument, in welchem ihre Namen und diejenigen der genannten Personen verzeichnet sind. Es gibt ein Blitzlichtgewitter; das scheint genau das zu sein, was die Reporter erwartet haben.
Dann die Pressekonferenz. Ich begründe, weshalb ich in die Ukraine gekommen bin, überreiche den beiden Herren und in Stellvertretung für ihre Mutter der Tochter einen Umschlag und das Bild meiner beiden Schulklassen und vor allem unsere Broschüre.
"Wir wollten mit unserer Ausstellung und dem Sammeln von Spenden ein Zeichen der Versöhnung setzen. Die Ausstellung sollte unsere Form der Entschuldigung für das ihnen in Deutschland angetane Unrecht sein." Lubov übersetzt, spontan erwidert Herr Malinowski, wir trügen keine Schuld, er freue sich über die Geste der Schüler und fühle sich geehrt, dass sich jemand mit seinem Schicksal beschäftigt habe, das sei für ihn überaus wichtig.
Dann folgen die Fragen der Reporter. Ich bin überrascht, wie gut sie über unser Projekt informiert sind. Weshalb wir anfangs nicht ins Gersthofer Archiv zugelassen worden seien? Aus welchen Gründen habe der Bürgermeister einen Empfang der eingeladenen Zwangsarbeiter verweigert? Ich gebe nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft. Danach bleibt Zeit, sich in Ruhe mit Herrn Dwirko und Malinowski zu unterhalten. Sie überreichen mir Honig, eingelegtes Fleisch und andere Kostbarkeiten.

Abreise und offene Probleme

Ein letzter Tag bleibt, den ich nutze, die Stadt Kiew ein wenig zu erkunden und ein Gespräch mit den beiden Vorsitzenden der ukrainischen Opferverbände zu führen. Sie fühlen sich zu Recht von der deutschen Stiftung übergangen, klagen, dass ihre Interessen nicht gehört werden. Ich verspreche, alles zu tun, um sie nach Deutschland einzuladen, um ihnen Gehör zu verschaffen.

Unser Spendenkonto besteht immer noch. Es soll aufgefüllt werden aus weiteren Spenden sowie dem Erlös aus unserer Broschüre zum Thema. Den gegen ihren Willen nach Gersthofen verbrachten Zwangsarbeitern ist nicht durch eine Einmalspende geholfen. Sie bedürfen unserer konstanten Zuwendung und Aufmerksamkeit, insbesondere was ihre Gesundheit angeht.
Wie ich in der Ukraine erfahren habe, liegen der ukrainischen Stiftung Anträge von noch lebenden 900 Zwangsarbeitern vor, die in Augsburg wohnten und auf "Entschädigung" hoffen. Vielleicht können die Verantwortlichen der Stadt Augsburg, vielleicht auch die Gersthofens davon überzeugt werden, dass spontane humanitäre Soforthilfe vonnöten ist.

Unser Spendenkonto lautet:
Kreissparkasse Augsburg BLZ 720 501 01
Kontonr. 200 419 802

Gersthofen, den 19.12.2002

Dr. Bernhard Lehmann


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