Reise zu ehemaligen Zwangsarbeitern in der Ukraine

Der Initiator des Zwangsarbeiterprojekts des Paul-Klee-Gymnasiums Gersthofen, Dr. Bernhard Lehmann besuchte in der Zeit vom 26. Februar bis 2. März 2006 in der Ukraine insgesamt 24 Personen, die vor über 60 Jahren Zwangsarbeit in Augsburg verrichteten und befragte sie zu ihrem Schicksal. 2 der besuchten Personen wurden in Augsburg geboren, 5 von ihnen befanden sich im Alter zwischen 3 und 12 Jahren, zwei Mädchen waren 13 und 15 Jahre alt, alle weiteren Personen waren nicht älter als 20 Jahre, als sie nach Deutschland deportiert wurden.


Dank der Erlöse aus den Veranstaltungen mit Reinhard Mey und Senta Berger, die ihre gesamte Abendgage zur Verfügung stellten, konnte der Pädagoge den Opfern als Geste der Versöhnung insgesamt einen Gesamtbetrag von 12 000 Euro ausbezahlen. Weitere Besuche bei ehemaligen italienischen Militärinternierten (IMIs) folgen im April 2006.


Mit im Gepäck hatte der Gymnasiallehrer Briefe von der Augsburger Bürgermeisterin Eva Leipprand und ihres Gersthofer Kollegen Siegfried Deffner, in welchem diese ihr Bedauern über das Schicksal der Zwangsarbeiter zum Ausdruck brachten und sich bei den Opfern im Namen der Gemeinden entschuldigten.

Frau Khadjalowa arbeitete vom Juni 1942 bis zur Bombardierung im Februar 1944 in einer Baumwollspinnerei in Augsburg, dann in der Nähe von Schwabmünchen bei einem Bauern.

Am Montag, den 27. Februar besuche ich gemeinsam mit Lubov Sochka von der ukrainischen Stiftung und Herr Kuchar von der örtlichen Zweigstelle die Frau in ihrer Eigentumswohnung in Chmelnitzkyj. Anfangs der 90-er Jahre wurden die städtischen und staatlichen Wohnungen für einen symbolischen Preis an die Mieter übereignet.

Wie fast alle solchen „Wohnsilos“ ist die Anlage arg heruntergekommen, die Außenanlagen sind verwahrlost, innen im Gang gibt es kein Licht, die Wände sind beschmiert, seit vielen Jahren sind offensichtlich keine Reparaturen vorgenommen worden.

Anders die Eigentumswohnungen selbst. Hinter einer gepolsterten Türe mit Spezialschloss sind die meisten Wohnungen liebevoll eingerichtet und restauriert, niemand könnte ahnen, dass hinter einer solch verwahrlosten Außenfassade so sorgfältig renovierte Wohnungen zu finden sind. Eine Umkehrung der Potemkinschen Dörfer also.<(p>

Frau Khadjalowas Enkel empfängt uns an der Tür und geleitet uns ins Zimmer der Oma, die zwei Gehstöcke benötigt und stark gehbehindert ist. Es ist 8.20 Uhr morgens, wir kommen gleich zur Sache, denn wir haben ein dicht gedrängtes Programm.

Durch einen Gestellungsbefehl musste sich Olena am 22. Juni 1942 bei den Ortsbehörden melden und kam dann mit anderen jungen Frauen nach Deutschland. In der Baumwollspinnerei arbeitete sie gemeinsam mit 34 anderen ukrainischen Mädchen, sie war gerade mal 20 Jahre alt. Das Lager befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fabrikgelände, nach ihren eigenen Angaben erhielt sie sogar 20 Mark im Monat. Anfangs durfte sie das Lager nicht verlassen, aber ab 1944 verbesserten sich die Verhältnisse und sie konnte am Wochenende hin und wieder für eine Stunde in die Stadt. Die Versorgung im Lager war elendiglich, die Mahlzeiten in der Fabrik war nahrhafter. Eine gutmütige deutsche Köchin versorgte sie mit größeren Portionen.

Olena Khadjalowa, geb. Kuschnir, geb. am 11.06.1922

Für die Ukrainer war das Ostabzeichen eine Kränkung, sie erreichten im Laufe der Zeit schließlich, dass sie nur noch das Abzeichen der Fabrik tragen mussten (BSS)

Vor ihrer Deportation nach Deutschland hatte sie lediglich 5 Schulklassen besuchen können, sie hatte keine Schuhe und konnte daher im Winter nicht einmal die Schule besuchen.

In der Nacht des Bombenangriffs im Februar 1944 verbrannten ihre sämtlichen Habseligkeiten; der Bunker, in dem sie sich aufhielt, wurde verschüttet, aber dank der Franzosen und Kriegsgefangenen konnte sie gerettet werden.

So kam sie schließlich zum Bauer Josef Steckmann in Schwabmünchen- Schwabegg. Der Bauer war schon 62 und behandelte sie wirklich gut, aber seine zweite Ehefrau schlug sie schon hin und wieder. Als sie nach dem Krieg über verschiedene Filtrierungslager nach Hause zurückkehrt, war die Mutter verstorben.

Olena Fischtschuk, geb. Gorbatjuk, geb. am 25. Januar 1926

Olena arbeitete in Augsburg in der gleichen Fabrik wie Olena Khaidalowa. In Kaliniwka, einem Dorf in der Nähe von Khmelnitzkyj bestimmte der Dorfälteste, wer entsprechend den Befehlen der Besatzungsmacht nach Deutschland zur Zwangsarbeit verbracht werden sollte. So brachte der Vater seine älteste, 16-jährige Tochter nach Khmelnitzky, von wo der Transport nach Deutschland seinen Anfang nahm.

3 Jahre arbeitet Olena in der Spinnerei, nach der Bombardierung des Betriebes wird sie in einem Rüstungsbetrieb zugeteilt. Sie erinnert sich noch genau, welche Tätigkeiten sie dort gemeinsam mit anderen ukrainischen Frauen zu vollbringen hatte, nämlich Munition in Patronen zu füllen. Aber Olena ist noch jung und häufig unkonzentriert, kann keine Qualitätsarbeit leisten, so wird sie bald in eine andere Abteilung versetzt.

Olena verspürt oft großes Heimweh, und natürlich schreibt sie ihren Eltern, die auch antworten, so lange dies möglich ist und das Gebiet unter deutscher Militärverwaltung steht.

Das neue Lager (es handelt sich offensichtlich um das MAN-Lager in der Schönbachstraße) war in der Nähe eines Flusses, in dem sie des öfteren baden gingen. Eines Tages plant Olena, ihre Cousine auf dem Land zu besuchen, die auf einem Bauernhof tätig ist. Mit dem Zug fährt sie dorthin, wird aber ohne Fahrschein und Reiseerlaubnis ertappt, verhaftet und unter Arrest gestellt. Die Lagerführerin wird benachrichtigt und so kommt sie gegen die Bezahlung einer Strafe wieder frei.

Sie hat nicht nur schlechte Erinnerungen an Deutschland. Sie denkt oft an Barbara Schickener, eine Deutsche, die in der gleichen Abteilung wie sie arbeitete und immer sehr fröhlich und herzlich zu ihr war. Sie hatte einen Sohn im gleichen Alter wie Olena.

Als Olena nach den Verhören in den Filtrierungslagern wieder in die Ukraine zurückkehrt, besucht sie die Realschule. In der Heimat werden nach dem „Großen vaterländischen Krieg“ die Zwangsarbeiter verachtet und der Kollaboration bezichtigt. Olena muss sich viele Vorwürfe anhören. Wenn immer möglich, vermeidet sie es, auf ihren Zwangsaufenthalt in Deutschland hinzuweisen. Aber einen angemessene Arbeit wird ihr nicht gewährt, die Verdachtsmomente gegen sie und die anderen Zwangsarbeiter bleiben bis in die 90-er Jahre bestehen. Daher haben viele Zwangsarbeiter auch kein Geld bei der Stiftung beantragt, denn bis zu dieser Zeit galt man als gesellschaftlich geächtet.

Besuch bei Iwan Dwirko geb. am 10.05 1925 aus Lisniaki, Jahotyn, der bei Hery in Gersthofen arbeitete

Über zwei Stunden sind wir mit dem Auto von Kiew aus nach Jahotyn unterwegs in Richtung Charkow, der heftige Schneefall scheint Gift für den nagelneuen Lada unseres Fahrers zu sein, der Tachometer fällt aus, zeitweilig auch die Scheibenwischeranlage. Unter diesen Umständen scheint der Lada doch mehr Kilometer als die angezeigten 550 auf dem Buckel zu haben. Aber der junge Mann ist ein vorzüglicher Fahrer, der nicht einmal trotz der tiefen Fahrrillen ins Rutschen kommt.

Herr Dwirko wohnt in Dwirkowshyna, in der Dwirkowastrasse. Der Ort und die Straße sind nicht im zu Ehren so benannt, der Name ist einfach sehr geläufig in der Gegend. Wenige Kilometer weiter südlich wohnen Familien aus Tschernobyl, die hier nach der großen Atommeilerkatastrophe neu angesiedelt wurden.

Wer Philosoph werden will und die Einsamkeit mag, der sollte sich hierher begeben. Er muss allerdings auf ein Spülklosett im Haus und auf fließendes Wasser verzichten, das gibt es hier nicht.

Bereits vor 4 Jahren habe ich Herrn Dwirko in Kiew getroffen , überreichte ihm eine symbolische Summe und tat dies auch vor zwei Jahren nochmals.

Es war sehr eindrucksvoll, als Herr Dwirko auf meiner ersten Reise in die Ukraine mit seinem ehemaligen Kollegen Tadeusch Malinowski zusammentraf.

„Mein Gott, ist der alt geworden“, flüsterte Iwan mir ins Ohr, um dann gemeinsam mit Herrn Malinowski die Namen der Personen aufzuzählen, die gemeinsam mit Ihnen bei Hery in Gersthofen gearbeitet hatten. Fernsehreporter von CNN und des ukrainischen Fernsehens staunten ungläubig, dass die beiden keinen der 10 anderen Namen vergessen hatten. Ich saß mit meiner Liste aus dem Archiv daneben und konnte nur noch staunen über das phänomenale Gedächtnis der beiden älteren Herren. Die Namen der 80 russischen Kriegsgefangenen kannte er natürlich nicht, die waren separat von den zivilen Gefangenen untergebracht gewesen.

Tadeusch Malinowski und Iwan Dwirko im Februar 2002 in Kiew . Beide arbeiteten bei der Firma Hery in Gersthofen

Vier Jahre später. Iwan Dwirko empfängt uns freundlich an der Türe, er muss erst mal 5 Minuten Schnee schaufeln, dass der Fahrer sein Auto parken kann. Dann bittet er uns hinein, stellt uns seiner Frau vor. Hanna kommt uns entgegen, sie lächelt liebenswert und schüttelt uns die Hand. Ich erschrecke ein wenig. Sie läuft vorn übergebeugt und ist unendlich klein. Ich wusste von der Tochter, dass sie krank ist, sich von ihrer Ziegenmilch ernährt, , aber so krank hatte ich sie mir nicht vorgestellt.

Hanna hat aber großen Humor, ich zeige ihr die Bilder ihres Mannes von vor vier Jahren. „Ja, das ist er , mein Greis“, sagt sie gutaufgelegt. Iwan frage ich, ob er sich noch an seine Zeit in Gersthofen erinnere, an die Namen, die er mir vor 4 Jahren alle nennen konnte. Er nickt nur verständnislos. Seine Erinnerung ist wie weggeblasen!

Bernhard Lehmann zeigt Iwan Dwirko seinen Namen auf der Gedenkstätte in Gersthofen
Seine Tochter Ludmilla versichert mir aber, dass er nach meinem Besuch noch wochenlang in den Erinnerungen schwelgen werde, er sei nur zu aufgeregt wegen unseres Besuches. Als er hörte, dass ich ihn besuchen wolle, sei er in Tränen ausgebrochen: „ Dass sich nach 60 Jahren noch jemand an mich erinnert und etwas von mir wissen will, ist unglaublich, unfassbar!“

Seine Frau Hanna erinnert sich an ihren Zwangsaufenthalt in Deutschland genauer. In Arnsberg, als die Stadt bombardiert wurde, sei sie auf einem Laster gesessen, der den Bomben entkommen wollte. Ein Ast habe sie auf dem offenen LKW erfasst, sie sei vom Laster heruntergestürzt und dann 40 Tage im Koma gelegen. Seit dieser Zeit hat sie eine Schädigung des Rückenmarks, kann weder aufrecht sitzen noch gehen, Sie verlässt das Haus nur, um die Ziege zu melken. Einkaufen muss ihr Mann Iwan.

Hanna Dwirko mit Lubov Sochka von der ukrainschen Stiftung und Iwan Dwirko in Yahotyn , März 2006

Letztes Jahr, als Iwan ins Krankenhaus musste, war sie völlig auf sich alleine gestellt und wollte sterben. Die Tochter besucht sie jedes Wochenende, sie arbeitet in Kiew, der Weg ist doch sehr weit. Die Enkelkinder sind mittlerweile der wichtigste Lebensinhalt.

59 Jahre ist sie nun mit ihrem Iwan verheiratet, den sie seit der Kindheit kennt. Der sei ein rechter Treibauf gewesen, habe ihr versprochen, ihr das Schwimmen zu lernen, aber habe sie doch nur immer getaucht. Ihr Iwan sei gerne mit seinem Motorrad alleine unterwegs gewesen, bis sie ihm die Zündkerzen herausgeschraubt habe. Aber findig wie er nun einmal sei, habe er sich schnell beholfen. Erst als sie Zucker in den Tank geschüttet habe, sei er ein wenig ruhiger geworden.

Heute benutzen die beiden 81-jährigen den Zucker lieber für den Wodka, den sie für den Eigenverbrauch brennen. Ob ich den einmal versuchen dürfe, der schmecke doch sicherlich noch besser als die drei Gläser, die ich bisher getrunken habe?

Da eilt Iwan hinaus, holt eine zwei Literflasche Wodka, den er mir für zuhause mitgibt. Ich versuche vorsichtig, denn ich bin kein Freund von hochprozentigen Sachen. Aber der Wodka schmeckt fabelhaft! Das ältere Paar hält beim Wodka vorzüglich mit, sie haben auch bereits ihr drittes oder viertes Glas.

Voller Stolz zeigen die beiden mir auch noch ihre eingelegten Früchte und das Gemüse und ich darf auch die wundervollen Birnen und Tomaten verkosten. Dann heißt es Abschied nehmen von diesem einmaligen Paar, das sich nach fast 60 Jahren noch immer schätzt und respektiert und liebt.

Iwan Dwirko aus Yahotyn mit seiner Frau Hanna im März 2006

Ich habe auf meine Reise historische Lektüre mitgenommen: Hermann Graml, Die Reichskristallnacht. Dort lese ich auf Seite 214:

„Die Einsatzgruppe A .... verzeichnete bis zum 25. November 1941 229 052 exekutierte Juden. Die Einsatzgruppe B berichtete bis zum 14. November 1941 die Erschießung von 45467, Gruppe C bis Anfang Dezember 1941 von 95 000, Gruppe D bis 8. April 1942 bis 92 000 Juden. Dazu kamen die von den Polizeiformationen der Höheren SS- und Polizeiführer ermordeten Juden, z.B. im August 1941 rund 23 600 karpato-ukrainische Juden bei Kamenezk-Podolsk, am 13. Oktober 1941 etwa 10 000 in Dnjepropetrowsk, Anfang November 1941 mindestens 15 000 in Rowno. Dem Massaker von Kiew (Babi Jar), an dem neben Teilen der Einsatzgruppe C mehrere andere Einheiten beteiligt waren, fielen im Laufe dreier Septembertage des Jahres 1941 nicht weniger als 33 771 Juden zum Opfer. „

Diese Massaker fanden unweit der Orte statt, die ich besuchte. Ob die Ukrainer und die Deutschen über diese unglaubliche Barbarei Bescheid wissen? Unrecht kann nicht mehr gutgemacht werden, aber vergessen dürfen wir es keinesfalls.

Bericht über das Treffen mit ukrainischen Opfern des Nationalsozialismus, die in Deutschland geboren wurden oder mit 3 bis 13 Jahren nach Deutschland deportiert wurden.

Bei den Besuchen ehemaliger Zwangsarbeiter in der Ukraine fiel mir auf, dass zum Zeitpunkt der Deportation keiner der 24 Betroffenen älter als 20 Jahre war. 3 Personen waren in Deutschland geboren worden, weitere 7 Personen befanden sich zwischen dem 3 bis 13 Lebensjahr. Würden sie eingeladen werden, kämen sie alle gerne nach Augsburg zu einem Besuch.

Lubov Sochka von der ukrainischen Stiftung „Erinnerung und Verantwortung“ erzählte mir, dass die Kinder von Zwangsarbeitern lediglich durch die öffnungsklausel der ukrainischen Stiftung in den Genuss von 498 Euro „Entschädigung“ gekommen waren, sofern sie einen Antrag gestellt hatten. Dies wiederum geschah auf Kosten der anderen drei Entschädigungsgruppen (KZ-Häftlinge, Industriearbeiter, Landwirtschaftliche Arbeiter). Auch die letzte Gruppe war auf Kosten der anderen beiden „entschädigt“ worden. Man stelle sich vor: 498 Euro für drei Jahre Zwangsaufenthalt im Lager, verlorene Geborgenheit und versäumte Kindheit und Ausbildung!

Es bedurfte bei mir keiner langen Überlegungen, diesem Personenkreis zu helfen, sofern sie in Augsburg und Umgebung gearbeitet bzw. gelebt hatten.

Am Donnerstag vor meiner Abreise traf ich mich mit 5 Personen in der Stiftung in Kiew: Herrn Genadi Tütajew, Frau Galina Wassilewska, Herrn Iwan Welitschko, Herrn Victor Orlow und Frau Katerina Beznikina.

Herr Gennadj Tütajew ist am 5. August 1940 in Witewsk in Weißrussland geboren, er wurde im Alter von 3 Jahren zusammen mit der ganzen Familie nach Augsburg verschleppt, mit der Mutter, zwei Tanten sowie den Großeltern seiner Mutter. Die gesamte Familie arbeitet bei Messerschmitt, dort gibt es im Lager mehrere Kinder, seine Oma passt auf Gennadi auf. Das Lager ist mit Stacheldraht und Türmen umgeben, der junge Knabe kriecht einmal unter dem Zaun heraus. Die Wachen wittern eine Falle und sperren den 4-jährigen in den Keller, ein Wächter schlägt ihn auf den Kopf.

Erst auf Intervention der Insassen, die sich über die Behandlung des unschuldigen Jungen empören, wird Gennadi vom Lagerleiter wieder freigelassen. Aber seine Oma bleibt wegen unterlassener Aufsichtspflicht im Karzer.

Victor Orlow , ist am 13. Januar 1944 in Augsburg geboren. Seine Mutter Papaskowia Orlowa , geb. am 23.Oktober 1923 und sein Vater (den Namen kennen wir nicht) wurden am 27.06.1942 nach Augsburg deportiert.

Victor ist seit Geburt geistig und körperlich behindert. Nach seiner Aussage mussten die Eltern in der Landwirtschaft in der Nähe von Augsburg arbeiten. Sein Vater ist 1983 verstorben. Die Mutter lebt noch, ist aber sehr schwer krank, so dass sie nicht mit Victor zur Stiftung gekommen ist. Ärztliche Hilfe wäre dringend vonnöten, aber die Familie schein sehr verarmt zu sein. Die Arzneien sind lediglich im Krankenhaus frei erhältlich, ambulant muss er dafür bezahlen. Arbeiten kann Victor nicht. Mutter Papaskowia und Victor sind auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen, sowohl finanziell wie ideell.

Galina Wassiliewskaja, geb. am 4.11.1930

Galinas Mutter wird am 15.05.1942 in Kiew bei einer Razzia festgenommen. Sie sagt aus, dass sie zuhause ein kleines Kind habe, deshalb wird sie nicht gleich deportiert , sondern darf ihre Tochter zuhause abholen. Am nächsten Tag wird sie aufgefordert, zur Sammelstelle zu kommen. Galina ist erst 12 Jahre alt, als sie mit der Mutter nach Augsburg kommt. In Dachau ist das Verteilungslager, von dort werden die Gefangenen auf die einzelnen Ortschaften verteilt.

In Augsburg arbeitet Galina in der Streichholzfabrik, ihre Mutter auch, aber in einer anderen Abteilung. Anfangs steht Galina am Fließband, am Nachmittag muss sie einfache Dinge erledigen und aufräumen.

Erna Bier ist die Frau des Direktors. Ihr gefällt das Mädchen so gut, dass sie Galina mit nach Hause nimmt. Künftig darf sie am Nachmittag bei Frau Bier arbeiten. Dort muss sie gänzlich unkomplizierte Arbeiten verrichten, schließlich ist sie ja noch ein Kind. Frau Bier zeigt ihr aber in der Freizeit auch Augsburg. Anfangs musste Galina das Ostarbeiterabzeichen tragen, aber als sie dann bei der Frau des Direktors arbeitet, darf sie das Zeichen abtrennen.

Nach Kriegsende wird Galina mit der Mutter wieder in die Heimat transportiert. Frau Bier kommt zum Abschied an den Bahnhof. Sie verspricht Frau Bier, ihr von der Ukraine aus zu schreiben. Sie hat heute noch ein schlechtes Gewissen, dass sie das nicht getan hat.

Nach ihrer Rückkehr verschweigt sie, dass sie in Deutschland gearbeitet hat, anderenfalls hätte sie keine Möglichkeiten erhalten, eine solide Ausbildung zu erhalten.

Galina Wassiliewskaja, geb. am 4.11.1930 in Kiew, deportiert nach Deutschland im Alter von nicht ganz 12 Jahren
Katerina Beznikina, geb. am 1.09.1940 Katerina war zusammen mit ihrer Mutter in Augsburg, zuvor in Dachau, dann arbeitete die Mutter in München in der Rüstungsindustrie. Beide waren am 9.07.1943 nach Deutschland deportiert worden.

Iwan Welitschko, geb. am 5.07.1932 : die Gersthofener Gymnasialklasse 7c hat Geld für ihn gesammelt

Iwan wurde am 15. September 1943 nach Deutschland deportiert, zusammen mit der gesamten Familie. Seine Oma, seine Mutter, seine Schwester und er selbst. Die Schwester war gerade einmal 4 Jahre alt. Mit der Familie waren sie im Eisenbahndepot in der Bahnhofstraße 53 in Augsburg untergebracht, die Belege für sich und seine Familie erhielt er aus dem Stadtarchiv Augsburg. Iwan war gerade mal 11 Jahre alt, als er nach Augsburg kommt. Er wird von den Experten der Stiftung befragt, ob er habe arbeiten müssen. Nur hin und wieder habe er das Depot aufräumen müssen, erwidert er.

Für die ukrainischen Experten ist das die falsche Antwort. Er hat ohnehin den Antrag auf Entschädigung zu spät gestellt und die Dokumente aus Augsburg reicht er auch erst später ein. Seine Berufung wird abgelehnt, und jetzt war er zu ehrlich, daher bekommt er dafür, dass er in Deutschland zwangsweise im Lager leben musste und keine Ausbildung erhielt, 498 Euro Entschädigung. Ist das gerecht?

Nach Deutschland kehrt er 1945 nur mit seiner Oma zurück. Die Mutter hat es vorgezogen, nicht in die Ukraine zurückzukehren und nimmt seine Schwester mit nach Australien. Er aber lehnt es ab, will in seine Heimat zurück.

Hätte er geahnt, dass er verschweigen muss, dass er in Deutschland war, um eine Ausbildung zu machen , hätte er gewusst, welchen Pressionen seine Oma nach der Rückkehr ausgesetzt war, dann wäre er wirklich lieber mit der Mama nach Australien ausgewandert. Die Oma bekam keine Rente, so musste er schließlich bei einer entfernten Verwandten aufgezogen werden.

Ich übergebe Iwan das Geld, das meine Geschichtsklasse 7c für ihn gesammelt hat, gemeinsam mit einem Bild der Klasse. Iwan ist hocherfreut, die Tränen stehen im in den Augen. Sagen Sie viele liebe Grüße an Ihre Klasse, es ist wichtig, dass die jungen Menschen unser Schicksal nie vergessen! Spassiba! Die anderen anwesenden Opfer sind von der Initiative der Klasse 7c des Paul-Klee-Gymnasiums so gerührt, dass sie alle ein Photo von der Klasse haben wollen.

Iwan Welitschko aus Kiew mit einem Bild der Klasse 7c des PKG, die Geld für ihn gesammelt hat.

Besuch einer Zwangsarbeiterin in Kiew

Bilenko, Maria, geb. 2. November 1924, geb. Wassiliew


Maria Bilenko in ihrer Wohnung in Kiew

Frau Bilenko wohnt in einem Außenbezirk von Kiew . Sie ist völlig vereinsamt, seit ihr Sohn vor einem Jahr im Alter von 53 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben ist. Ihr Mann, Berufssoldat in der Roten Armee ist seit über 10 Jahren verstorben, ein Alkoholiker, der viele Frauen liebte und sie immer und immer wieder betrog, wie sie verbittert anmerkt. Ihre Tochter besucht sie äußerst selten, obwohl sie ja die Erbin der Eigentumswohnung ist und auch schon Rentnerin.

Maria hat die Wohnung Mitte der 90-er Jahre für eine symbolische Summe als Eigentumswohnung erstanden. Die Wohnung ist spartanisch-schlicht, wenn nicht ärmlich eingerichtet, es gibt kein Bild an der Wand, nur wenige Möbel und keine Gardinen an den Fenstern. Die Wohnung scheint seit Jahren nicht mehr renoviert worden zu sein. Maria wohnt im 5. Stock und muss sämtliche Einkäufe selbst tätigen. Aufzug gibt es keinen, und wenn sie nach Hause kommt, gibt es kein Licht im Gang, sie kann sich nur am Treppengeländer nach oben tasten. Das ehemalige Mietshaus ist völlig verwahrlost, niemand kümmert sich um die Renovierung der Außenanlagen oder um das Treppenhaus, die Toiletten spotten jeder Beschreibung. Offensichtlich fehlt das Geld selbst für kleinste Reparaturen.

Frau Bilenko hat ein hervorragendes Erinnerungsvermögen. Gemeinsam mit zwei weiteren ukrainischen Mädchen musste sie während des Krieges nach ihrer Deportation aus ihrem Heimatdorf Weremje, Kreis Obuchowsky in Hinterholz in der Gemeinde Eurasburg bei der Familie Viktoria und Michael Treffler arbeiten.

Die Arbeit scheint nicht einfach gewesen zu sein, denn einmal versucht Maria zu fliehen. Sie war gerade mal 18 Jahre alt, hatte ihre Schulbildung in Kiew gerade abgeschlossen. In Hinterholz muss sie täglich 12 Kühe melken, hat immer schwer zu tragen und schließlich übermannt sie ihr Heimweh und sie will sich aus dem Staube machen. Aber die Polizei greift sie sehr bald wieder auf und sie blieb eine Nacht bei der Polizei in Augsburg. Das Gefängnis, so erinnert sie sich, war ein 4-stöckiges Haus.

Schließlich wird sie nach Hinterholz zurückgebracht und muss nicht mehr beim gleichen Bauern arbeiten, sondern bei der Nachbarin, Frau Völk, die hat nur 7 Kühe und jetzt hat sie es doch leichter.

Aber sie schreibt ihrer Freundin in Danzig einen Brief, der wie folgt endet: „ Bald geht die Sonne auf und wir kommen nach Hause“. Die Zensur liest den Brief und sperrt sie für 2 ½ Monate ins Gefängnis. An Weihnachten darf sie wieder nach Hinterholz, die Bäuerin hat ein Kleid für sie genäht. Die Bäuerin behandelt sie gut, offensichtlich nimmt sie die Stelle der mit 4 Jahren an Diphterie gestorbenen Tochter ein.


Maria Bilenko aus Kiew mit Bernhard Lehmann, Gersthofen

Nach dem Krieg arbeitet Maria als Erzieherin in einem Kindergarten, der Mann ist so gut wie nie zuhause, arbeitet in Wladiwostok und in Leipzig. Die Rente die sie bezieht ist für ukrainische Verhältnisse nicht klein, der Ehemann bekam den Krieg dreifach als Pensionszeit angerechnet, ebenso die Jahre im Fernen Osten. Wegen seiner Auszeichnungen als Soldat und der Anrechnung ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin in Deutschland erhält sie insgesamt 480 Griwna, das sind immerhin 80 Euro. Die Nebenkosten für die Wohnung betragen 100 Griwna, sie ist zufrieden.

Mit dem erhaltenen Geld möchte sie sich einen neuen Fernseher kaufen. Sie hat niemanden, mit dem sie sich unterhalten könnte.

Reise zu ehemaligen Zwangsarbeiter/innen in Khmelnitzkyj

Bronislawa Kopatsch, geb. Kufel, geb. am 23. Juli 1923, arbeitete bei MAN in Augsburg


Dr. Bernhard Lehmann und Frau Bronislawa Kopatsch in Khmelnitzkyj

Herr Kuchar, der Leiter der örtlichen Stiftung in Kmelnitzkyj empfängt uns morgens um 5.47 am Bahnhof, es ist eisig kalt, aber die klare Luft macht uns munter. Herr Kusak rät davon ab, Frau Evdokyia Drosd und Frau Maria Frantschuk zu besuchen. Zu schlecht sind die Straßenverhältnisse dorthin. Zwar wohnen sie nur ca. 25 km von Chmelnitzkyj entfernt, aber die Nebenstraßen sind mit einer dicken Eisschicht überzogen , tiefe Fahrrillen haben sich gebildet.

Da ich die beiden Frauen bei meiner letzten Reise bereits getroffen habe, stimme ich schweren Herzens zu und übergebe ihm das Geld für die beiden Damen, die fest mit unserem Besuch gerechnet haben. Aber da lässt sich nichts machen, wir haben ein dichtgedrängtes Programm, unser Zug fährt bereits um 17 Uhr weiter nach Lwiw, wo weitere ehemalige Zwangsarbeiter auf uns warten.

Nach dem Besuch von Frau Olena Kadjalowa und Frau Olena Fischtschuk nehmen wir daher eine besser befahrbare Straße zu Frau Bronislawa Kopatsch. Straßennamen gibt es auf den Dörfern nur selten, bei meinem letzten Besuch suchten wir im Donezkbecken einmal 3 Stunden nach dem Häuschen einer Frau.

Dieses Mal geht das viel schneller, nach einigem Nachfragen sehen wir eine Oma auf der schmalen schneebedeckten Straße in Hausschuhen stehen, sie winkt uns zu, hat seit Stunden schon auf unseren Besuch gewartet.

Dann geleitet sie uns ins Haus, zwei Töchter und die Enkelin sind da und haben die Vorbereitungen für diesen Tag getroffen, der anscheinend für die ganze Familie ein Festtag ist. Wortreich dankt sie mir für die in den letzten Jahren geleistete Hilfe. Dadurch habe sie sich einen Gasanschluss leisten können. Dennoch ist es höchste Zeit, dass ich sie besuche, denke ich mir, denn Bronislawa hat nicht einmal einen Wasseranschluss im Haus. Der Brunnen für alle Einwohner befindet sich auf der Straße, von dort beziehen sie ihr Wasser zum Kochen und Waschen. Unvorstellbar, aber hier wird das klaglos hingenommen, man kennt es nicht anders.

Die Häuser am Rande von Khmelnizkyj verfügen noch nicht alle über einen Wasseranschluss, so muss das Wasser aus einem Brunnen geschöpft werden.

Bronislawa kann sich erinnern, dass die Familie in den dreißiger Jahren schweren Hunger erleiden musste. 1932 rauben kommunistische Aktivisten die gesamte Ernte und lassen nicht ein Körnchen zurück. Die Mutter ernährt die Familie so gut es geht mit gehackten Wurzeln, sogar mit Mohnblättern. Die Oma bringt der schwangeren Mutter heimlich Zusatznahrung, um Neid in der Familie zu vermeiden.

Unter Stalin wird die Familie 1936 von Chmelnitzkyj nach Woroschilowgrad bei Lugansk nahe der heutigen Grenze zu Russland deportiert und dort angesiedelt. Sie kommen in ein Dorf, das ausgestorben war. Hungersnöte und die Säuberungsaktionen der Kommunisten haben die einheimische Bevölkerung dahingerafft.

Als die Deutschen 1942 kommen, befiehlt der Dorfälteste, dass die Familie zwei Kinder, Bronislawa und die jüngere, 17-jährige Maria nach Deutschland abstellen muss. Mitzunehmen gibt es nicht viel, denn sie haben keine Kleidung und keine Schuhe. Der Transport nach Deutschland erfolgt meist in der Nacht, tagsüber lassen sie die Militärtransporte passieren. Der Gedanke an Flucht erübrigt sich, überall im Land sind die deutschen Besatzer. Wohin hätten die jungen Mädchen da fliehen sollen?

Bronislawa hat eine genaue Skizze angefertigt, auf der ich erkennen kann, wo sie und ihre Schwester in Augsburg gewohnt und gearbeitet hat: bei MAN. Dort müssen sie Patronen ausstanzen und füllen, ganze Abteilungen von Ukrainerinnen und Russinnen arbeiten dort, die Deutschen in separaten Abteilungen.

Im MAN- Lager in der Schönbachstrasse wohnen 16 Personen in einem Zimmer, es gibt 4 Stuben pro Baracke, 3 Wohnräume und jeweils eine Krankenstation. Sie kann sich an einen russischen und einen kroatischen Arzt entsinnen. Im Lager gibt es viele Nationalitäten, Russen, Italiener, Polen, Franzosen, die Mädchenbaracken stehen unter Beobachtung, Männerbesuch ist verboten.

Anfangs fühlen sich Bronislawa und Maria minderwertig und provinziell, sie als Ukrainerinnen in Gummistiefeln, Mänteln und Kopftüchern. Die Freizeit verbringen sie im Sommer unten am Fluss, dort können sie baden. Oder sie stopfen Strümpfe und singen, um ihr Heimweh zu vergessen. Als sie ab 1944 in die Stadt dürfen, können sie weder Brot noch Kleider kaufen.

Maria Pusanova, die Schwester von Bronislawa Kopatsch, wohnhaft in Lwiw, arbeitete vor 60 Jahren ebenfalls bei MAN.

Im Lager lernt sie auch ihren Mann Wladimir Stigno kennen. Sie heiraten im Lager und Bronislawa wird schwanger. Einmal steht sie in der Stadt um Obst an, aber trotz ihres Zustandes bedient sie die deutsche Verkäuferin nicht. Nach der Geburt des Kindes Ludmilla ziehen sie in eine Familienbaracke, in der 8 Familien untergebracht sind. Vor und nach der Geburt ihres Kindes arbeitet sie in der Küche.

Sie leidet an Vitaminmangel und ist oft krank. Steckrübensuppe allein kann keine richtige Ernährung sein. Kein Wunder, dass im Lager ein Hungerstreik ausbricht, an dem sich anfangs alle beteiligen. Aber dann siegt doch der Hunger über den Trotz, der Streik wird gebrochen. Dennoch finden sich Formen des Widerstandes im Lager. Eine Russin namens Katharina zeigt den Bewachern die Faust, das wird als Widerstand sozialistischer Gruppen gesehen. Katharina wird abgeholt und ins KZ gebracht. Sie kommt nie wieder zurück.

Bronislawa erinnert sich auch daran, wie die Zwangsarbeiter auf dem Weg zur Arbeit von Kindern als Russenschweine beschimpft wurden, was sie als besonders demütigend empfinden.

Als die beiden Schwestern nach Kriegsende wieder heimkommen, ergeht es ihnen keineswegs besser. Eine Hochschulausbildung wird ihnen verwehrt. Um nicht unter weiteren Repressalien leiden zu müssen, lässt Bronislawa als Geburtsort für ihre Tochter Ludmilla Lugansk eintragen. Aber an der Diskriminierung der „deutschen Kollaborateure“ ändert sich bis zum Jahr 2002 wenig. Viele ehemalige Zwangsarbeiter beantragen aus Furcht vor Diskriminierung und Repressalien nicht einmal das Geld von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“.

Als wir gehen, zeigt Bronislawa, die uns herzlichst bewirtet, ein Heiligenbild. Das habe sie nach Deutschland mitgenommen und von dort wieder heimgebracht. Vielleicht habe sie das gerettet, meint sie. Aus Dankbarkeit küsst sie mir die Hände, ich kann mich nicht dagegen wehren. Verlegen küsse ich Bronislawa auf die Wange, sie will mich gar nicht mehr loslassen.

„Danke dass Sie mir zugehört haben, das habe ich bisher noch nie erlebt von einem Deutschen, danke, danke, danke, spassiba“ sagt sie und drück mich nochmals an sich. Sie bleibt noch lange in ihren Hausschuhen vor dem Brunnen auf der Straße stehen und winkt uns mit ihrem Gehstock nach.

Drei Generationen: Bronslawa Kopatsch mit ihrer Tochter Ludmilla und ihrer Enkelin

Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter in Lwiw

Maljarenko Serafina, geb. am 25.06.1929 (geb. Kostikowa): Mit 14 nach Augsburg deportiert

Serafina Maljarenko in Lwiw

Serafina wurde am 15.12.1943 gemeinsam mit ihrer Mutter aus Brjansk im heutigen Russland deportiert und kam im Alter von 14 Jahren zu Messerschmitt. Ihr Vater war bereits verstorben, als sie gerade einmal drei Jahre alt war.

Serafina in der Küche Dienste leisten und versuchte auch einmal, zu entkommen. Nach ihrer Aussage befanden sich ca. 20 weitere Kinder im Lager. Sie kann sich sehr gut an die Bombardierung bei Messerschmitt erinnern. Mit den anderen Kindern befand sie sich in einem Schulungsraum auf dem Werksgelände. An diesem Tag wurde mehrmals Bombenalarm gegeben und die Kinder begaben sich mehrmals in die Schutzräume. Den folgenden Bombenalarm nahm Serafina aber nicht mehr ernst und begab sich nicht in den Bunker, sondern legte sich mit Gesicht nach unten auf den Boden. Sie erinnert sich, dass sie keine Bombe hörte, sie hatte nur das Gefühl, als rolle eine Kugel über sie. Plötzlich konnte sie nur noch die Füße bewegen, ansonsten hatte sie kein Gefühl mehr für ihren Körper. Glücklicherweise hatte ein älterer Herr beobachtet, dass die Kinder die Aufforderung, in den Bunker zu gehen, nicht befolgt hatten und begab sich auf die Suche. Der Mann grub sie aus und befreite sie aus den Trümmern.

Da weitere Bomben fielen, bedankte sie sich nicht bei dem Mann und rannte fort, dann verlor sie das Bewusstsein und wachte erst nach zwei Wochen wieder im Krankenraum auf. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich nicht bei dem Mann für ihre Rettung bedankt hatte.

Nach ihrer Rückkehr nach Briansk fand sie den Ort völlig verwüstet vor, ihre Verwandten und Bekannten waren in alle Richtungen zerstreut. Gemeinsam mit ihrer Mutter begab sie sich nach Westen, im Arbeit zu suchen. Aus Zufall wurden in Lwiw Arbeitskräfte gesucht, mittlerweile war sie gerade mal 16 Jahre. Mit ihrer Mutter fand sie eine Anstellung im Elektrizitätswerk und holte in einer Abendschule ihre Schulbildung nach.

Als Russin war sie aber in Lwiw nicht gerne gesehen, viele Ukrainer forderten die beiden auf, nach Russland zurück zu kehren,.aber noch immer lebt sie in Lwiw, das ihr mittlerweile zur Heimat geworden ist.

Parchomtschuk, Tusja geb. am 1.11.1927

Verschleppt am 15. Juli 1942 nach Meitingen bei Augsburg

Tusja stand auf den Listen des Dorfältesten, also wurde sie gemäß den Stellungsbefehlen nach Deutschland deportiert. Sie konnte nur wenige Kleidungsstücke mit auf dir Reise nehmen, denn die Familie war sehr arm. Nach ihrer Ankunft in Augsburg kam sie in eine Fabrik in Meitingen, wo Grafit hergestellt wurde.

Das Lager befand sich gegenüber der Grafitfabrik, der Lagerführer war ein Herr Petrow. Dort standen einige Baracken für jeweils 25 Zwangsarbeiter. In der Nähe waren auch Kriegsgefangene und IMIs untergebracht, die auf einer Baustelle zu arbeiten hatten.

Nach einem Jahr kommt Tusja nach Augsburg und muss dort an der Bahnstation Aufladearbeiten verrichten.

Nach ihrer Rückkehr in die Ukraine beendet sie 7 Klassen Schule und absolviert die Realschule und arbeitet als Verkäuferin.

„Ich liebe Deutschland, deutsche Menschen sind gut, aber es war Krieg! Bitte grüßen Sie mir die deutschen Menschen“, sagt sie und küsst mir die Hände.

Sie weint sehr viel, sie ist von unserer Geste sehr angerührt und bedankt sich bei allen, die an sie denken und Geld für sie gesammelt haben. Das Geld kann sie gut gebrauchen, sie hat nur eine Rente von 350 Griwna, das sind nicht einmal 65 Euro. Sie hat nur noch wenige Zähne im Mund und bedarf dringend der medizinischen Hilfe.

Bilousova Hanna, geb. am 10. Februar 1924 geb. Topilko, aus Konjuschkiw bei Lwiw

Die kleine Frau ist sehr humorig und lächelt mich mit ihren hervorstehenden Zähnen freundlich an. Sie kommt aus dem Dorf Konjuschkiw aus der Nähe von Lwiw.

In Augsburg kam sie zu Hans Wohlwend in der Zugspitzstrasse 25 in Augsburg. Der hatte einen landwirtschaftlichen Betrieb und eine Gärtnerei, denn er verkaufte auch Kränze. Der Betrieb scheint nicht klein gewesen zu sein, denn es arbeiteten etwa 30 Zwangsarbeiter dort. Niederländer, Russen, Ukrainer. Alle schliefen in einem Raum, die Männer waren natürlich von den Frauen getrennt.

Es gab auch Familien mit Kindern, die in der Unterkunft wohnten. Hanna erhält für ihre Arbeit in der Gärtnerei 7 Mark, mit der sie sich aber kein Brot, allenfalls Limonade kaufen kann.

Als sie in die Heimat zurückkehrt, sind die Schwestern verstorben, so zieht sie als 21-jährige die Kinder ihrer älteren Schwestern groß. Für eine weiterführende Schule bleibt keine Zeit.

Kusmina Elsevieta, geb. am 25. September 1923, geb. Saizewa

Elsevieta wurde gemeinsam mit ihrer Mutter am 8. Juni 1942 aus dem Gebiet Kaluga deportiert und kamen anfänglich in eine Lager in Weißrussland, ehe sie nach Deutschland verbracht wurden.

Mit 19 Jahren arbeitete sie zuerst in der Kammgarnspinnerei, dann in der Fleischwarenfabrik Philipp Reiter. Durch erniedrigende Arbeiten verletzte sie sich dort so schwer am Bein, dass sie heute noch unter den Folgen zu leiden hat. Noch nach über 60 Jahren hat sie Schmerzen im Bein und ist Invalidin.

Sie erhält zwar im Krankenhaus die Arzneimittel umsonst, aber ambulant muss sie die dringend erforderlichen Medikamente bezahlen. Aber wie soll sie das mit einer Monatsrente von 380 Griwna, das sind etwa 68 Euro!

Nach ihrer Rückkehr durfte Elsevieta ein Jahr lang das Gebiet Kaluga nicht mehr verlassen, von den Nachbarn wurde sie mit Verachtung gestraft und beruflich kam sie wegen der Diskriminierung nicht auf die Beine.

Nedoljak, Dimitria, geb. am 2. Mai 1926, am 15. September auf offener Straße aufgegriffen und nach Augsburg deportiert

Dimitria wurde früher als alle anderen Mädchen aus der Ukraine deportiert, und zwar schon am 15. September 1941. Die durfte keine persönlichen Sachen mitnehmen und kam ohne Zwischenaufenthalt nach Ausburg.

Sie war in Lwiw an diesem Tage barfuß zur Kirche unterwegs, auf der Straße wurde sie von Deutschen festgenommen und in den Zug verfrachtet, sie hatte nicht einmal die Zeit, ihre Eltern zu verständigen. Sie war gerade einmal 15 Jahre alt.

In Deutschland brachte man sie auf einen Bauernhof in der Nähe von Augsburg, an den Ortsnamen kann sie sich nicht mehr entsinnen. Aber immerhin war der Bauer anständig zu ihr und behandelte sie gut, sie wurde nicht geschlagen. Er lernte ihr, wie sie Kühe melken muss.

Die Eltern schickten ihr ein Päckchen mit Wolle zum Strümpfe stricken, am Abend trafen sich die Ukrainerinnen im Pferdestall, um miteinander das Heimweh zu verscheuchen. Sonntags gingen die Ukrainerinnen gemeinsam mit dem Bauern zur Kirche, die Polen gingen alleine.

Bei Kriegsende warben amerikanische Soldaten, in die USA zu kommen, aber sie hatte schreckliches Heimweh und so kehrte sie in ihre Heimat zurück.

Seit dieser Zeit hat sie in der Ukraine drei Schlaganfälle erlitten, Geld für eine ständige Behandlung hat sie aber nicht.

Gerne würde sie eine Einladung mit ihrem Enkel nach Deutschland annehmen. Sie möchte Deutschland unbedingt noch einmal besuchen.

Sokurenko Wira, Geb. 6. Juli 1925 geb. Chimerik, arbeitete bei Messerschmitt, Augsburg, Lager Göggingen

v.l.n.r: Lubov Sochka, Wira Sokurenko

Wira arbeitete im Lager in Göggingen in der Küche und hatte viele Erniedrigungen zu erdulden. Mittlerweile ist sie Vollinvalide und weint, wenn sie an die Zeit in Augsburg denkt.

Heute lebt sie mit ihrem 88-jährigen Ehemann in de Nähe von Lwiw. Sie ist offensichtlich sehr krank und bedarf dringend der Hilfe. Wira lebt von € 60 Rente. Aber es gibt keine Sozialstationen in Lwiw.

Vor 1 Jahr wurde sie an der Gallenblase operiert, die Operation kostete 400 Dollar, die sie nur mit Hilfe der Kinder aufbringen konnte.

In Deutschland erlebte sie viele Erniedringungen, aber in der Ukraine erging es ihr nach ihrer Rückkehr nicht viel besser. Erst in den letzten Jahren konnten sich die ehemaligen Zwangsarbeiter frei über ihr Schicksal äußern. Die Zwangsarbeiter galten lange Zeit als Kollaborateure und wurden diskriminiert.


Bisher sind 110.000 € gesammelt worden und zur Verteilung gelangt.

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