ZUM
 

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Variation über Wittgenstein - Ergänzungen

ergänzendes (1)

 
 
"philosophische bemerkungen", angelegt an die
kompositorische technik und ästhetik in der musik von
erwin koch-raphael
     
 

welt und bedeuten


Immer wieder ist der Versuch, die Welt in der Sprache abzugrenzen
und hervorzuheben - was aber nicht geht. Die Selbstverständlichkeit
der Welt drückt sich eben darin aus, dass die Sprache nur sie
bedeutet und nur sie bedeuten kann.
Denn, da die Sprache die Art ihres Bedeutens erst von ihrer Bedeutung,
von der Welt, erhält, so ist keine Sprache denkbar, die nicht diese Welt
darstellt.
 
 

anwendung

 
Unter Anwendung verstehe ich das, was die Lautverbindungen oder
Striche überhaupt zu einer Sprache macht. In dem Sinn, in dem es
die Anwendung ist, die den Stab mit Strichen zu einem Massstab
macht. Das Anlegen der Sprache an die Wirklichkeit.
 
 

der fall sein

 
"Ich habe keine Schmerzen" heisst: Wenn ich den Satz "ich habe
Schmerzen" mit der Wirklichkeit vergleiche, so zeigt sich, dass er
falsch ist. - Ich muss ihn also mit dem, was tatsächlich der Fall
ist, vergleichen können. Und diese Möglichkeit des Vergleichs -
obwohl er nicht stimmt - ist es, was wir mit dem Ausdrucke meinen:
das, was der Fall ist, müsse sich im gleichen Raum abspielen wie
das Verneinte; es müsse nur anders sein.
 
 

grenzen des raums

 
Gesichtsraum und Retina. Es ist, wie wenn man eine Kugel
orthogonal auf eine Ebene projiziert, etwa in der Art, wie die
beiden Halbkugeln der Erde in einem Atlas dargestellt werden,
und nun könnte einer glauben, dass, was auf der Ebene ausserhalb
der beiden Kugelprojektionen vor sich geht, immerhin noch einer
möglichen Ausdehnung dessen entspricht, was sich auf der Kugel
befindet. Hier wird eben ein kompletter Raum auf einen Teil eines
andern Raumes projiziert; und analog ist es mit den Grenzen der
Sprache im Wörterbuch.
 
 
 

wirklichkeit, notenschrift und neue musik

 
An einem Beispiel: denken wir uns zwei Ebenen, auf der Ebene I
seien KlangFiguren, die wir auf der Ebene II durch irgentwelche
Projektionsmethoden (z.B. Noten) abbilden wollen.
Wir haben dann die Möglichkeit, eine Projektionsmethode festzulegen,
und dann die Bilder auf der zweiten Ebene dieser Methode der
Abbildung entsprechend zu deuten. Wir können aber auch einen
ganz anderen Weg einschlagen: Wir bestimmen etwa aus irgentwelchen
Gründen, dass die Bilder in der zweiten Ebene sämtlich Kreise sein sollen,
was immer die Figuren in der ersten Ebene sein mögen.
... d.h., verschiedene Figuren der ersten Ebene werden durch verschiedene
Projektionsmethoden in die zweite Ebene abgebildet. Um dann die
Kreise in II als KlangBilder zu verstehen, werde ich zu jedem
Kreis sagen müssen, welche Projektionsmethode zu ihm gehört.
Die blosse Tatsache aber, dass sich eine Figur in II als Kreis
darstellt, wird noch garnichts sagen. -
 
So geht es mit der Wirklichkeit, wenn wir sie in musikalischen
SÄTZEN abbilden. Dass wir z.B. bestimmte musikalische Sätze
(SATZFORMEN) brauchen, ist nur eine Angelegenheit unserer
Zeichengebung. Die musikalische Satzform ist an sich noch keine
logische Form und ist AUSDRUCKSMITTEL unzähliger
grundverschiedener logischer Formen, wie die Kreise auf der Ebene II.
 
 

identität und analyse

 
Wenn ein Tisch braun angestrichen ist, so ist es leicht, sich das
Holz als den Träger der Eigenschaft Braun zu denken, und man kann
sich das vorstellen, was bleibt, wenn die Farbe wechselt. Ja,
auch im Falle eines bestimmten Kreises, der einmal rot, einmal
blau erscheint.
 
Es ist also leicht, sich vorzustellen, was rot ist, aber schwer,
was kreisförmig ist. Was bleibt hier,wenn Form und Farbe
wechseln? Denn die Lage ist ein Teil der Form, und es ist
willkürlich, wenn ich festsetze, der Mittelpunkt soll fest
bleiben und die Form sich nur durch den Radius ändern.
 
 
 

zeichen

 
Beiläufig gesprochen, ist die Gleichung eines Kreises das Zeichen
für den Begriff Kreis, wenn keine bestimmten Werte für die
Mittelpunktskoordination und den Radius eingesetzt sind, oder
auch, wenn diese nur als ingewissen Intervallen liegend gegeben
sind. Der Gegenstand, der unter denBegriff fällt, ist dann der
nach Lage und Grösse bestimmt gegebene Kreis.
 
 

komposition

 
Die Komposition redet nicht von Tönen, sondern sie arbeitet mit
Tönen.
 
 

operation, individualität, das neue

 
"Mit Tönen arbeiten": das FUNDAMENTALE ist nur die Wiederholung
einer Operation. Jedes Stadium dieser Wiederholung hat seine
INDIVIDUALITÄT.
Nun ist es nicht etwa so, dass ich durch die Operation von einer
Individualität zur andern fortschreite. Sodass die Operation das
Mittelwäre, um von einer zur andern zu kommen. Etwa das Vehikel,
das bei jedem WORTKLANGBILD anhält, das man nur betrachten kann.
Sondern die n-malige (und n-dimensionale) Operation {N} erzeugt
und ist das Wortklangbild " N ".
 
 

raum und zeit

 
Wir wissen natürlich alle, was es heisst, dass es eine unendliche
Möglichkeit und eine endliche Wirklichkeit gibt, denn wir sagen,
die Zeit und der physikalische Raum seien unendlich, aber wir
könnten immer nur endliche Stücke von ihnen sehen oder durchleben.
Aber woher weiss ich dann überhaupt etwas vom Unendlichen?
Ich muss also in irgenteinem Sinne zweierlei Erfahrungen haben:
Eine des Endlichen, die es nicht übersteigen kann (diese Idee des
übersteigens ist an sich schon unsinnig), und eine des Unendlichen.
Und so ist es auch. Die ERFAHRUNG als Erleben der TATSACHEN
gibt mir das ENDLICHE; die Gegenstände enthalten das UNENDLICHE.
 
Natürlich nicht als eine mit der endlichen Erfahrung konkurrierende
Grösse, sondern intensional. Nicht als ob ich den Raum
sähe, der beinahe ganz leer ist und nur mit einer ganz kleinen
endlichen Erfahrung in ihm. Sondern ich sehe im Raum die
MÖGLICHKEIT für jede endliche Erfahrung. D.h., keine Erfahrung
kann für ihn zu gross sein oder ihn gerade ausfüllen. Und zwar
nicht etwa, weil wir alle Erfahrungen ihrer Grösse nach kennen und
wissen, dass der Raum grösser ist als sie, sondern wir verstehen,
dass es im WESEN des Raumes liegt. -
 
Dieses unendliche Wesen des Raumes erkennen wir im kleinsten
Stück.
 
Das Unsinnige ist schon, dass man so oft denkt, es wäre eine grosse
Zahl dem Unendlichen doch näher als eine kleine.
 
Das UNENDLICHE - wie gesagt - konkurriert mit dem ENDLICHEN
nicht. Es ist das, was WESENTLICH kein Endliches ausschliesst.
 
Der RAUM hat keine Ausdehnung, nur die räumlichen Gegenstände
sind ausgedehnt, aber die Unendlichkeit ist eine EIGENSCHAFT des
Raumes.
(Das schon zeigt, dass sie keine unendliche Ausdehnung ist.)
 
Und dasselbe gilt von der ZEIT.
 
Es geht uns mit der ZEIT tatsächlich wie mit dem Raum. Die
erfüllte Zeit, die wir kennen, ist begrenzt (endlich). Die
UNENDLICHKEIT ist eine innere QUALITÄT der ZEITFORM.
 
 

suchen, system, bedeutung

 
Suchen kann man nur in einem System: Also gibt es unbedingt
etwas, was man nicht suchen kann.
 
Man kann in der Musik nicht allgemein von Systemen, sondern nur
in Systemen reden. Sie sind gerade das, wovon man nicht reden
kann. Also auch das, was man nicht suchen kann.
 
Ein System kann man also nicht suchen. Wohl aber den AUSDRUCK für
ein System, das mir in ungeschriebenen Symbolen gegeben ist.
 
 
Das System von Regeln, welche einen Kalkül bestimmen, bestimmt
damit auch die "Bedeutung" seiner Zeichen. Richtiger ausgedrückt:
Die Form und die syntaktischen Regeln sind äquivalent. Ändere ich
also die Regeln - ergänze ich sie etwa scheinbar - so ändere ich
die Form, die BEDEUTUNG.
 
Ein System ist sozusagen eine WELT.
 
 

kompositionslehre, pädagogik

 
Wenn man den Menschen lehrt, einen Schritt zu machen, so gibt man
ihm damit die Möglichkeit, irgendeine Strecke zu gehen.
 
 
 

klangraum, tonraum

 
Wie zeigt es sich, dass der Raum, zum Beispiel der TonRaum, keine
Kollektion von Punkten (Tönen), sondern die Realisierung eines
GESETZES ist ?
 
Man braucht - so kommt es mir vor - , um den Raum darzustellen,
gleichsam ein dehnbares Zeichen.
 
Ein Zeichen, das eine Interpolation erlaubt, analog dem Dezimalsystem.
 
Das KlangZEICHEN muss die Mannigfaltigkeit und Eigenschaften des
TonRaumes haben.
 
Man bekommt sicher die richtige Mannigfaltigkeit der Bezeichnungen,
wenn man sich der analytischen GEOMETRIE und der
strukturellen KlangRaumAnalyse bedient.
 
Dass ein Punkt in der Ebene durch ein Zahlenpaar, im
dreidimensionalen Raum durch ein Zahlentrippel, ein TonPunkt im
n-dimensionalen TonRaum durch "n" Parameterangaben dargestellt
wird, zeigt schon, dass der dargestellte Gegenstand garnicht der
Punkt oder TonPunkt, sondern das Punktgewebe beziehungsweise das
TonGEWEBE, der Klang ist.
 
Es gibt keinen "TON" ausserhalb eines Systems.
 
Man möchte sagen, die einzelnen Noten (die ja Töne bezeichnen)
sind immer nur die Resultate, die RINDE des fertigen Baumes. Das
Gleiche gilt für die VORSTELLUNG von Tönen, denen beispielsweise
die Notenschrift folgt.
 
Das, worauf es ankommt, oder woraus noch etwas NEUES wachsen
kann, ist im INNERN des Stammes, wo die TRIEBKRÄFTE sind. Eine
Änderung des Äussern ändert den Baum überhaupt nicht. Um ihn zu
ändern, muss man in den noch lebenden STAMM gehen.
 

Erwin Koch-Raphael

 
Liverpool, PennyLane
am 7.9.1990 (Ende Studienphase)
und Bremen, am 11.1.1991 (Abschluss)

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