ZUM
 

Sie befinden sich hier: Pressestimmen

"composition no. 39" für Flöte und Kammerensemble - „Kalte Zeiten“ - "Sekitei" für Violine Solo (1979) - "Nachtstücke"

Als Erwin Koch-Raphael dieses Stück mit dem Titel „Kalte Zeiten“ Ende 1984 unter dem Eindruck des bitterkalten Winters, der Nachrüstungsdebatte im Bundestag und einer persönlichen Krise schrieb, ahnte er wohl nicht, dass es sechs Jahre später, am Vorabend des Golfkrieges, zu erneuter beklemmender Aktualität gelangen würde. Insbesondere die resignative Spannung des Epilogs, die in eine Klang-Explosion mündet, ohne sich recht eigentlich zu lösen, traf so sehr den Nerv jener bangen Stunden nach Ablauf des Ultimatums, als ob das Werk gerade entstanden wäre. ...

Fünf Werke, die seine Entwicklungslinie am besten verdeutlichen, wurden zunächst von Koch-Raphael selbst im workshop, darauf im Konzert vom Ensemble Modern vorgestellt. So das 1979 komponierte Violin-Solo „Sekitei“, Koch-Raphaels Versuch, europäisches und asiatisches Denken zu verbinden. Daß dieser so überzeugend ausfiel, war freilich auch dem Geiger Mathias Tacke zu verdanken, der den Spannungsbogen von der anfangs in höchster Lage, körperlos, abstrakt und entrückt erscheinenden Melodie über ihr allmähliches Zerbrechen bis zu ihrem erneuten Wiederauftauchen in der tiefen, warmen Lage mit äußerst differenzierter Ausdruckskraft gestaltete.

Daß Erwin Koch-Raphael seine Aufgabe als Komponist drin sieht, Abstraktes zu verlebendigen, war auch aus den „Nachtstücken“ zu erkennen, die trotz ihres romantischen Tones auf einem strengen, von Koch-Raphael „Prinzipalrhythmus“ genannten Konstruktionsprinzip beruhen. Während der Arbeit an den „Nachtstücken“ entdeckt, hat er dieses auf dem Rhythmus aufgebaute, serielle Techniken fortführende, wenn auch freier gehandhabte Kompositionsmodell danach in fast allen folgenden Stücken verwandt. ...

Konstruktion nicht als Endzweck einer Komposition, sondern als ihr Fundament, auf dem sich Spontanes, Improvisiertes ereignen kann – das war denn auch und vor allem die Formel für die 1988 in Paris während des Studiums bei Donatoni komponierte und beim „Bremer Podium“ uraufgeführte „composition no. 39“. Ebenfalls auf dem Prinzipalrhythmus und auf Zahlen, deren Proportionen, Zerlegungen und Symbolen aufgebaut und ausgehend von der Cageschen Einsicht, dass das Komponieren eines Stückes etwas anderes ist als seine Aufführung, hat Erwin Koch-Raphael das Stück, dem strukturellen Ansatz folgend, ohne Rücksicht auf Spielbarkeit angelegt, als Experiment also, mit dem die Interpreten in eigener Verantwortung verfahren sollen. Und so enthält denn diese Komposition manches Utopische, andererseits aber auch eine gestaltbare Spannbreite unerhörter musikalischer Ausdrucksqualitäten zwischen Bewegung und Stille, Zartem und Brutalem, Sphärischem, Kreatürlichem  und Menschlichem, ist mit diesen Antinomien wieder ein typischer Koch-Raphael und doch wieder etwas Neues.

 

(Monika Fürst-Heidtmann, „Musikjournal“ im Deutschlandfunk, 24.01.1991)