Textblatt
Sigmund Freud: Religion als Illusion
Worin liegt der besondere Wert der religiösen
Vorstellungen? Wir haben von Kulturfeindseligkeit gesprochen,
erzeugt durch den Druck, den die Kultur ausubt, die
Triebverzichte, die sie verlangt.Wie für die Menschheit im
ganzen, so ist für den Einzelnen das Leben schwer zu
ertragen. Ein Stuck Entbehrung legt ihm die Kultur auf, an
der er Teil hat, ein Maß Leiden bereiten ihm die anderen
Menschen, entweder trotz der Kulturvorschriften oder infolge der
Unvollkommenheit dieser Kultur. Dazu kommt, was ihm die
unbezwungene Natur — er nennt es Schicksal — an Schädigung
zufugt. Ein ständiger ängstlicher Erwartungszustand
und eine schwere Kränkung des naturlichen Narzissmus
sollte die Folge dieses Zustandes sein. Wie der Einzelne gegen
die Schädigungen durch die Kultur und die Anderen reagiert,
wissen wir bereits, er entwickelt ein entsprechendes Maß von
Widerstand gegen die Einrichtungen dieser Kultur, von
Kulturfeindschaft. Aber wie setzt er sich gegen die Übermächte
der Natur, des Schicksals, zur Wehr, die ihm wie allen anderen
drohen‘? Die Kultur nimmt ihm diese Leistung ab, sie besorgt
sie für alle in gleicher Weise, es ist auch bemerkenswert,
dass so ziemlich alle Kulturen hierin das gleiche tun. Sie macht
nicht etwa halt in der Erledigung ihrer Aufgabe, den Menschen
gegen die Natur zu verteidigen, sie setzt sie nur mit anderen
Mitteln fort. Die Aufgabe ist hier eine mehrfache, das schwer
bedrohte Selbstgefuhl des Menschen verlangt nach Trost, der
Welt und dem Leben sollen ihre Schrecken genommen werden, nebenbei
will auch die Wissbegierde der Menschen, die freilich von dem
stärksten praktischen Interesse angetrieben wird, eine
Antwort haben. Mit dem ersten Schritt ist bereits sehr viel
gewonnen. Und dieser ist, die Natur zu vermenschlichen. An die
unpersönlichen Kräfte und Schicksale kann man nicht
heran, sie bleiben ewig fremd. Aber wenn in den Elementen
Leidenschaften toben wie in der eigenen Seele, wenn selbst der Tod
nichts Spontanes ist, sondern die Gewalttat eines bösen
Willens, wenn man überall in der Natur Wesen um sich hat, wie
man sie aus der eigenen Gesellschaft kennt, dann atmet man
auf, fuhlt sich heimisch im Unheimlichen, kann seine sinnlose
Angst psychisch bearbeiten. Man ist vielleicht noch wehrlos, aber
nicht mehr hilflos gelähmt, man kann zum mindesten reagieren,
ja vielleicht ist man nicht einmal wehrlos, man kann gegen diese
gewalttätigen Übermenschen draußen dieselben
Mittel in Anwendung bringen, deren man sich in seiner Gesellschaft
bedient, kann versuchen, sie zu beschwören, beschwichtigen,
bestechen, raubt ihnen durch solche Beeinflussung einen Teil ihrer
Macht. Solch ein Ersatz einer Naturwissenschaft durch
Psychologie schafft nicht bloß sofortige Erleichterung, er
zeigt auch den Weg zu einer weiteren Bewältigung der
Situation. Denn diese Situation ist nichts Neues, sie hat ein
infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des
früheren, denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon
einmal befunden, als kleines Kind einem Elternpaar gegenüber,
das man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen
Schutzes man aber auch sicher war gegen die Gefahren, die man
damals kannte. So lag es nahe, die beiden Situationen einander
anzugleichen. ... Das Volk, dem zuerst solche Konzentrierung
der göttlichen Eigenschaften gelang, war nicht wenig stolz
auf diesen Fortschritt. Es hatte den väterlichen Kern, der
von jeher hinter jeder Gottesgestalt verborgen war, freigelegt; im
Grunde war es eine Ruckkehr zu den historischen Anfängen
der Gottesidee. Nun, da Gott ein Einziger war, konnten die
Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des
kindlichen Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen. Wenn
man soviel für den Vater getan hatte, wollte man aber auch
belohnt werden, zum mindesten das einziggeliebte Kind sein, das
auserwählte Volk. Wenn ich sage, das alles sind
Illusionen, muss ich die Bedeutung des Wortes abgrenzen. Eine
Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auch nicht
notwendig ein Irrtum. Die Meinung des Aristoteles, dass sich
Ungeziefer aus Unrat entwickle, an der das unwissende Volk noch
heute festhält, war ein Irrtum. ebenso die einer früheren
ärztlichen Generation, dass die Tabes dorsalis2 die Folge von
sexueller Ausschweifung sei. Es wäre missbräuchlich,
diese Irrtumer Illusionen zu heißen. Dagegen war es
eine Illusion des Kolumbus, dass er einen neuen Seeweg nach Indien
entdeckt habe. Der Anteil seines Wunsches an diesem Irrtum ist
sehr deutlich. Als Illusion kann man die Behauptung gewisser
Nationalisten bezeichnen. die Indogermanen seien die einzige
kulturfähige Menschenrasse, oder den Glauben. den erst die
Psychoanalyse zerstört hat, das Kind sei ein Wesen ohne
Sexualität. für die Illusion bleibt charakteristisch
die Ableitung aus menschlichen Wunschen, sie nähert sich
in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet
sich, abgesehen von dem komplizierteren Aufbau der Wahnidee, auch
von dieser. An der Wahnidee heben wir als wesentlich den
Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muss nicht
notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der
Realität sein. Ein Burgermädchen kann sich z. B.
die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie
heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art
haben sich ereignet. Dass der Messias kommen und ein goldenes
Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich; je
nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er
diesen Glauben als Illusion oder als Analogie einer Wahnidee
klassifizieren. Beispiele von Illusionen, die sich bewahrheitet
haben, sind sonst nicht leicht aufzufinden. Aber die Illusion der
Alchimisten, alle Metalle in Gold verwandeln zu können,
könnte eine solche sein. Der Wunsch, sehr viel Gold, soviel
Gold als möglich zu haben, ist durch unsere heutige Einsicht
in die Bedingungen des Reichtums sehr gedämpft, doch hält
die Chemie eine Umwandlung der Metalle in Gold nicht mehr für
unmöglich. Wir heißen also einen Glauben eine Illusion,
wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung
vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur
Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre
Beglaubigungen verzichtet.
Ich widerspreche Ihnen also, wenn Sie weiter folgern, dass der
Mensch überhaupt den Trost der religiösen Illusion nicht
entbehren kann, dass er ohne sie die Schwere des Lebens, die
grausame Wirklichkeit, nicht ertragen wurde. Ja, der Mensch
nicht, dem Sie das suße — oder bittersuße
— Gift von Kindheit an eingeflößt haben. Aber der
andere, der nuchtern aufgezogen wurde? Vielleicht braucht
der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation³,
um sie zu betäuben. Gewiss wird der Mensch sich dann in einer
schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze
Hilflosigkeit, seine Geringfugigkeit im Getriebe der Welt
eingestehen mussen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung,
nicht mehr das Objekt zärtlicher fürsorge einer gutigen
Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches
das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich
war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt,
überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind
bleiben, er muss endlich hinaus, ins »feindliche Leben«.
Man darf das »die Erziehung zur Realität« heißen,
brauche ich Ihnen noch zu verraten, dass es die einzige Absicht
meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts
aufmerksam zu machen?
Sie fürchten wahrscheinlich, er wird die schwere Probe
nicht bestehen? Nun, lassen Sie uns immerhin hoffen. Es macht
schon etwas aus, wenn man weiß, dass man auf seine eigene
Kraft angewiesen ist. Man lernt dann, sie richtig zu gebrauchen.
Ganz ohne Hilfsmittel ist der Mensch nicht, seine Wissenschaft hat
ihn seit den Zeiten des Diluviums viel gelehrt und wird seine
Macht noch weiter vergrößern. Und was die großen
Schicksalsnotwendigkeiten betrifft, gegen die es eine Abhilfe
nicht gibt, die wird er eben mit Ergebung ertragen lernen. Was
soll ihm die Vorspiegelung eines Großgrundbesitzes auf dem
Mond, von dessen Ertrag doch noch nie jemand etwas gesehen hat?
Als ehrlicher Kleinbauer auf dieser Erde wird er seine Scholle zu
bearbeiten wissen, so dass sie ihn nährt. Dadurch, dass er
seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen
Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er
wahrscheinlich erreichen können, dass das Leben für alle
erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdruckt.
Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen
sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir den Engeln
und den Spatzen (H. Heine).
1) Narzissmus: Stark ausgeprägte Selbstbezogenheit;
Selbstliebe. In der gr. Sage verliebt sich der Jungling
Narzissos in sein eigenes Spiegelbild. 2) Tabes dorsalis:
Ruckenmarkschwindsucht 3) Intoxikation: Vergiftung
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