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THEMA:   Wieviel Rechenfertigkeit wird gebraucht ?

 14 Antwort(en).

Heinz-Jürgen Harder begann die Diskussion am 04.12.00 (21:42) mit folgendem Beitrag:

Durch den Einzug immer leistungsfähigerer Taschenrechner im Mathematikunterricht stellt sich mir die Frage, wie sich die Inhalte des Mathematikunterrichts auch in der Sekundarstufe I in der Zukunft verändern. Müssen die Schülerinnen und Schüler weiterhin z.B. den Lösungsalgorithmus für quadratische Gleichungen in der gleichen Ausführlichkeit beherrschen wie bisher, wenn leistungsfähige CAS-Rechner wie z.B. der TI 92 zur Verfügung stehen ? Hier können alle Gleichungen, die im Schulunterricht der Sekundarstufe I auftreten mit dem „solve“-Befehl gelöst werden. Ich bin daher überzeugt, dass diese Fertigkeiten in Zukunft, wie jetzt schon das schriftliche Wurzel ziehen u.ä., in den Hintergrund gedrängt werden. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung findet man unter der u.a. Internetadresse.

(Internet-Tipp: http://www.kutzler.com/bk/a-is-g/rech-komp.htm)


Jürgen Geißelbrecht antwortete am 05.12.00 (18:36):

Das ist ein Thema, das mich momentan auch sehr brennend beschäftigt, da ich eine 10. Klasse mit dem TI-89 unterrichte.
Anfangs wollte ich die Rechenfertigkeit ziemlich minimieren; mittlerweile tendiere ich wieder stärker zu erhöhter Rechenfertigkeit, weniger aus fachlicher Notwendigkeit, sondern zur Erhaltung und Ausweitung der geistigen Beweglichkeit.
Wirklich komplizierte Rechenmonster sind wohl tatsächlich passe, aber grundlegende Rechenfertigkeiten sollten sehr sicher und auch in großer Geschwindigkeit beherrscht werden.


Alexander Thon antwortete am 05.12.00 (19:40):

Auch ich unterrichte zur Zeit eine 10. Klasse mit dem TI-89 an einem Geraer Gymnasium. Ich bin dabei eine Examensarbeit über die Unterrichtseinheit Potenzfunktionen zu schreiben. Ich bin der Meinung, dass es nach wie vor sehr wichtig ist, den Schülern gute Kenntnisse in den Rechenfertigkeiten zu vermitteln. Der Rechner kann eigentlich nur zusätzlich eingesetzt werden. Er kann allerdings in Erarbeitungsphasen durchaus nützlich hilfreich und sehr effizient sein. Eine Erarbeitung von Eigenschaften von Funktionen kann sehr anschaulich vorgenommen werden. Auch können Veränderungen an der Funktionsgleichung sofort visualisiert werden. Bei der Anwendung des Rechners für Berechnungen sollte man allerdings vorsichtig sein und darauf achten, dass die Schüler die Rechenfertigkeiten auf selbem Niveau beibehalten und nicht alles an den Rechner delegieren müssen, weil sie es selbst nicht mehr rechnen können.

(Internet-Tipp: http://www.uni-muenster.de/ZKL-t3)


WTH Lentner antwortete am 08.12.00 (00:58):

Solange der Lehrer quadratische Gleichungen behandelt und es ist Fakt, dass ein Teil der Schüler keinen solve-Befehl zur Verfügung hat, hat er manuelle Methoden zu unterrichten, klar! Habe ich eine Klasse mit kompletter TI92-Ausrüstung, kann ich natürlich ganz andere Dinge besprechen (eben TI92-Handhabung) und andere Dinge etwas oberflächlicher behandeln. So flexibel kann man als Lehrer doch sein, da würde ich keine Glaubenssache daraus machen. Vor allem sollte wenigstens eine manuelle Methode (am besten die klassische x1,2-Formel) besprochen worden sein, weils ja wirklich nicht viel Zeit kostet und man nie weiß, welcher Lehrer nachkommt und auf was der rumzureiten gedenkt.


Karin Karsch antwortete am 09.12.00 (17:51):

Es ist gerade in der SekII zu beobachten, dass Schüler dem neuen Stoff nicht folgen können, weil einfache Rechenfertigkeiten für sie nach Einführung des Taschenrechners auf der Strecke geblieben sind. Nachgewiesen ist auch, dass das menschliche Gehirn nur gut trainiert auch gut denken kann. Für mich sind gute Rechenfertigkeiten ein wesentlicher Bestandteil niveauvoller Unterrichtsstunden. Bereits in der SekI stelle ich immer wieder fest, dass tägliche Übungen zum Kopfrechnen ab 6 oder 7 auf der Strecke bleiben. Sie werden neuer Stoffvermittlung geopfert. Das Unverständnis in den Schülerköpfen wird immer größer, weil sie statt der Anwendung der Integralregeln vorher erst krampfhaft überlegen müssen, was zB. 12² ist oder bei 13*12 die Flinte ins Korn werfen und krampfhaft nach ihrem Rechner suchen. :-)))
Meine Schüler berechnen auch größere Produkte (98*102) dank Binomischer Formeln innerhalb von Sekunden und dies ist mir auch das Training wert.
Die Intervallschachtelungen selbst fördern das logische Denkvermögen und sollten nicht gänzlich wegfallen.
Die goldene Mitte halte ich für angebrachter.

Karin Karsch


Jürgen Geißelbrecht antwortete am 10.12.00 (11:18):

Ich kann Katrin zustimmen. Das Kopfrechnen halte ich gerade in Zeiten algebrafähiger Rechner für wichtiger denn je. Kutzler (http://www.kutzler.com/bk/a-is-g/rech-komp.htm) schreibt mir aus der Seele, wenn er die Rechner mit Autos vergleicht: Gerade weil wir Technik zur Verfügung haben, die vieles bisher Unmögliche jedermann zugänglich machen, ist Training (Joggen bzw. Kopfrechnen) umso wichtiger.


Isolde Laake antwortete am 16.12.00 (00:26):

Kopfrechenübungen durch alle Schulstufen und Schuljahre halte ich im Zeitalter der TR und PC`s für wichtiger denn je. Ich schaffe meine Schüler durch meine täglichen Übungen, die zu Beginn einer Stunde nur dann fehlen, wenn ein Test oder eine Klausur geschrieben werden. Hier wiederhole ich all das, was man als "normaler Mensch" eigentlich im Kopf lösen müßte. Von der Malfolge über das Rechnen mit rationalen Zahlen und Prozentrechnung bis zu Flächen- und Rauminhaltsberechnungen. Bis zu 10 Kleine Aufgaben in ca 5 Minuten als ständige Wiederholung.


Heinz-Jürgen Harder antwortete am 18.12.00 (22:09):

Ich denke, ich muss hier ein Missverständnis ausräumen. Mit dem Begriff „Rechenfertigkeit“ meine ich nicht das Kopfrechnen, das jeder „normale Mensch“ (was muss ich darunter eigentlich verstehen ?) beherrschen sollte. Auch ich meine, dass zumindest Überschlagsrechnungen und Größenabschätzungen auch zur Ergebniskontrolle bei Anwendung eines TR notwendig sind. Allerdings glaube ich nicht, dass man die Schüler damit „schaffen“ muss, sondern dass es Möglichkeiten gibt dieses mit Spaß und Engagement bei den Schülerinnen und Schülern zu erreichen (Literaturtipps: U.Diekert - Kopfrechnen um die Wette - macht den Schülern in den unteren Klassen viel Spaß, wenn es als Wettbewerb in der Klasse durchgeführt wird - Preise nicht vergessen, oder W. Herget - Messen, Schätzen, Überlegen - Dort ( http://blk.mat.uni-bayreuth.de/blk/blk/material/mathe.html) findet man Anregungen zu Übungen mit sinnstiftendem Inhalt, keine öden Aufgabenplantagen).
Bei meinem Beitrag habe ich bei dem Begriff Rechenfertigkeit eher an das Einpauken von Algorithmen wie z.B. das Lösungsverfahren für quadratische Gleichungen oder viele der Termumformungen gedacht, die heute noch einen Großteil der Zeit im Mathematikunterricht in Anspruch nehmen, die man für viel spannendere Untersuchungen verwenden kann. Es ist sicher richtig, dass die heutige Situation noch nicht erlaubt, vollständig darauf zu verzichten, dazu ist die Ausstattung der Schüler mit entsprechenden Geräten noch zu lückenhaft und außerdem sind wir Mathematiklehrer von unserer Ausbildung und unserem Werdegang her oft noch zu zu „konservativ“. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass wir offen für Innovationen sein müssen und nicht nur die Gefahren sehen dürfen, sondern auch die Chancen für die Weiterentwicklung des Mathematikunterrichts ergreifen und die Zukunft aktiv gestalten müssen.
Zum Schluss ein keines Beispiel: 9. Klasse, Satzgruppe des Pythagoras, Frage: Kann man aus den Längen a und q die restlichen Größen im rechtwinkligen Dreieck bestimmen ? Auf den Einwurf des Lehrers, dass dazu leider die Lösung quadratischer Gleichungen notwendig aber noch nicht bekannt ist, meinte ein Schüler: „Wieso, wenn ich aus den Bedingungen die Gleichungen aufgestellt habe, kann ich diese ja von meinem TI lösen lassen.“


Jürgen Geißelbrecht antwortete am 20.12.00 (19:20):

Vielleicht nur ein Beispiel dazu, wo wir schon bei den quadratischen Gleichungen sind. Wir haben mit dem TI-89 bereits am Anfang des Jahres quadratische Gleichungen gelöst und es war sehr entspannend, dies dem Rechner zu übergeben und nicht sagen zu müssen, das geht jetzt noch nicht und wir müssen zuerst die Lösungsformeln erarbeiten.
Später dann haben wir uns quadratische Gleichungen näher angeschaut und die indische Methode (eine rein geometrische) kennen und anwenden gelernt. Das war eigentlich ganz nett, weil man bei einfachen Beispielen bleiben konnte, die das Wesentliche zeigen; wir haben ja gewusst, dass im Ernstfall der TI89 die Arbeit übernimmt.
Kutzler nennt dies die "Gerüstmethode". Hat man früher das mathematische "Haus" unbedingt in der richtigen Reihenfolge aufbauen müssen, so kann jetzt für eine gewisse Zeit der TR als "Stützgerüst" fungieren. (Und ehrlich gesagt: Ich vertraue lieber einem festen Gerüst als brüchigem Ziegelwerk.)


Hans Ostalbler antwortete am 06.07.01 (11:08):

Rechenfertigkeit scheint mir auch in Zeiten des Taschenrechners eine Fertigkeit zu sein, die grundsätzlich vorhanden sein muss. Die Frage kann m. E. nur lauten, w i e ausgeprägt diese Fertigkeit vom Schüler beherrscht werden soll.


Willi Zimmermann antwortete am 26.08.01 (12:05):

Ich finde es langsam beängstigend, wie wenig Rechenfertigkeit sehr viele Schülerinnen und Schüler haben. Ich unterrichte an einer Realschule und habe mir (schon öfter und in diesem Schuljahr wieder) den Spaß erlaub, am Ende der 9. Kl. den HS-Grundaufgaben-Satz BW zu den Bedingungen der HS rechnen zu lassen. Die Ergebnisse waren schrecklich !


Renate antwortete am 12.10.01 (11:39):

Hallo,
im allerneuesten Scientific American ist zu lesen, dass etwa 1/4 der High-school-Absolventen nicht über "Basic Skills" in Mathe verfügen, insofern schon zu fragen ist, was denn in den vielen Mathestunden passiert. Ich unterrichte Leute, die den Hauptschulabschluss nachholen wollen und hab diese mithilfe eines an den TIMSS angelehnten Tests (selbstgebaut) geprüft, was an Matheverständnis da ist. Schon bei der Vorstellung > und < in N gibts erste Schwierigkeiten, negative Zahlen sind schwieriger einzuordnen und beim Bruchrechnen hörts auf. Mein Ziel ist, den Zahlen "Sinn" mitzugeben, will sagen, mir nützt der Rechenweg nichts, wenn ich nicht weiß, wo er endet! Mit diesem Dilemma, dass bestimmte Maschinen auch ohne sie zu verstehen gut zu benutzen sind und es aber nicht schadet, um die Grenzen zu wissen, müssen wohl auch andere Disziplinen klarkommen...


Klaus dannetschek antwortete am 18.12.01 (15:36):

Wie werden denn die Ergebnisse von PISA in diesem Zusammenhang gesehen ?
PISA gibt doch allen hier zu Wort gekommenen Skeptikern ( GRUNDfertigkeiten müssen sein ) recht, auch wenn teilweise nicht von verschiedenen Welten, sondern Sternensystemen die Rede ist ( glaubt Renate allen Ernstes jemals auch nur in die Nähe einer quadratischen Gleichung zu kommen ? )


Heinz-Jürgen Harder antwortete am 18.12.01 (21:54):

PISA ist sicher alles andere als ein Argument für den traditionellen Mathematikunterricht an deutschen Schulen. Die Konzeption der Testaufgaben beruhte eben nicht auf der sturen Anwendung eines Kalküls, sonder wollte die kreative Anwendung von Mathematik auf Probleme testen.
Aus der Begleitschrift des PISA-Konsortiums:

Im realen Mathematikunterricht in Deutschland und in der Struktur der Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler bildet sich nicht die (gewünschte) Verbindung inhaltlicher und formaler Kenntnisse ab. Die konzeptuellen Seiten der Mathematik spielen - entgegen insbesondere dem internationalen „mathematical literacy" - Ansatz - eine eher unterentwickelte Rolle.
Leistungsnormen: Fertigkeitsorientierung anstelle einer fähigkeitsbezogenen Ausrichtung von zentralen Abschlussprüfungen (Bauer 1974: Abitur BY, Maier 1994: RS-Abschluss BW)
• Ebene der Leistungsvergleiche: Mathematik-didaktisch orientierte TIMSS-Analysen ergeben
- Schwierigkeiten beim inhaltlichen Durchdringen und Strukturieren von Sachkontexten,
- Verschiebung zu relativ schwächeren Leistungen in Deutschland, wenn begriffliche Verbindungen
herzustellen und Vernetzungen vorzunehmen sind (Blum & Neubrand 1997)
• Ebene der Unterrichtsanalysen: Überwiegende Kalkülorientierung; Aufgaben algorithmisch-prozeduraler Art bestimmen den deutschen Mathematikunterricht wesentlich; Aspektewechsel kommen nur selten vor
(Kaiser 1999, Neubrand 1999, DFG-Projekt Dörr & Zimmermann 1998)

(Internet-Tipp: http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa)


Klaus Dannetschek antwortete am 19.12.01 (23:12):

Soweit die 'schöne' Theorie. Den Link kannte ich natürlich schon und habe mir sofort die Matheaufgaben angeschaut.
Daher zwei Praxisbeispiele : Vom Ansatz her haben mir die Aufgaben sehr gefallen, weil eben eine 'Idee' gefragt war.
Am besten gelungen ist dies bei der Unit 'Geschwindigkeit eines Rennwagens', fraglicher ist dies bei der Unit 'Äpfel', wo es im Kern darum ging, die 'quadratische' Gleichung n * n - 8 * n = 0 zu lösen.
Auf die Gefahr hin, überheblich zu wirken, aber zu sehen, dass man n 'ausklammern' kann, halte ich für Grund- oder Basiswissen - dahinter steht nichts anderes als das Distributivgesetz !! Genauso die Tatsache, dass wenn ich fortlaufend entweder jede 'gezählte' Zahl mit sich selber, oder sie konstant mit 8 multipliziere, die erste Folge schneller wächst. Klar, auf die Gleichung musste man kommen, aber dann ...























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