Philippe Wampfler hat mit „L’école, c’est moi“ ein Buch geschrieben, das nicht nur informiert, sondern auch fordert – intellektuell, emotional und in der Konsequenz für die schulische Praxis. Die Lektüre hat mich immer wieder innehalten lassen, um das Gelesene sacken zu lassen und seine Bedeutung für das aktuelle Bildungssystem zu reflektieren. Mit beeindruckender Klarheit zeigt Wampfler, warum unser Schulsystem in vielen Bereichen überholt ist und welche strukturellen Veränderungen notwendig wären. Exemplarisch greife ich hier drei zentrale Punkte heraus, die mich besonders intensiv zum Nachdenken gebracht haben.
Ein wesentliches Konzept ist die agile Didaktik, die sich von starren Lehrplänen und traditionellen Unterrichtsformaten löst. Stattdessen plädiert Wampfler für eine flexible, prozessorientierte Lehr- und Lernkultur, in der Lehrkräfte situativ auf die Bedürfnisse der Schüler:innen eingehen. Lernen wird als dynamischer Prozess verstanden, bei dem Unterricht nicht strikt durchgeplant ist, sondern sich in Interaktion mit den Lernenden entwickelt. Diese Denkweise erfordert eine Umstellung – für Lehrkräfte bedeutet das, Kontrolle abzugeben, Unsicherheiten zuzulassen und Reflexion als festen Bestandteil des Unterrichts zu verankern. Genau das macht diesen Ansatz anspruchsvoll, aber auch lohnend. Für mich persönlich ist die Umstellung auf eine agile Didaktik ein Prozess, über den ich noch länger und intensiver nachdenken muss. Besonders gelungen finde ich, dass Wampfler hier nicht bei Schlagworten bleibt, sondern durch konkrete Beispiele zeigt, wie agile Didaktik im schulischen Alltag tatsächlich umgesetzt werden kann.
Eng damit verbunden ist der Umgang mit Lernprodukten, die Wampfler als Alternative zur klassischen Prüfungskultur diskutiert. Statt Wissen lediglich für Tests abrufbar zu machen, sollten Schüler:innen in der Lage sein, sinnvolle und anwendungsorientierte Ergebnisse zu erarbeiten – sei es durch Erklärvideos, Blogartikel, kreative Präsentationen oder praktische Projekte. Diese Lernprodukte ermöglichen tiefere Reflexion und fördern nachhaltiges Lernen, weil sie mit echter Selbstwirksamkeit und Relevanz verbunden sind. Wampfler zeigt deutlich, dass Prüfungen oft nur das Abhaken von Standards fördern, während die Arbeit mit Lernprodukten eine aktive, individualisierte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff ermöglicht.
Ein weiteres Schlüsselthema ist die Individualisierung des Lernens. Wampfler argumentiert, dass Schule aufhören muss, alle Schüler:innen nach dem gleichen Maßstab zu bewerten. Stattdessen sollten Räume geschaffen werden, in denen individuelle Stärken sichtbar werden und Lernprozesse flexibel an persönliche Bedürfnisse angepasst sind. Das bedeutet nicht nur eine Differenzierung im Tempo oder in den Aufgabenformaten, sondern auch eine grundlegende Veränderung in der Haltung gegenüber Schüler:innen: Sie sollen nicht bloß Objekte eines Systems sein, sondern als Gestalter:innen ihrer eigenen Bildung ernst genommen werden.
Was mich beim Lesen besonders beschäftigt hat, ist die Ganzheitlichkeit der von Wampfler skizzierten Veränderungen. Er zeigt, dass es nicht genügt, einzelne Methoden zu überdenken – es geht um eine tiefgreifende Transformation, die viele als funktionierend empfundene Strukturen infrage stellt. Dabei wird auch deutlich, dass jede Veränderung das Verlassen von Komfortzonen erfordert. Es reicht nicht, neue Methoden einfach „auszuprobieren“; sie müssen konsequent und reflektiert in die Schulkultur integriert werden. Wampfler bleibt dabei nicht bei der Theorie, sondern macht konkrete Vorschläge, wie Schule schrittweise stärker auf die Lernenden ausgerichtet werden kann.
Insgesamt ist L’école, c’est moi ein Buch, das nachwirkt. Es hält der aktuellen Bildungspolitik den Spiegel vor und fordert zum Mitdenken und Handeln auf. Wer sich mit Schule und Lernen auseinandersetzt, sollte dieses Buch nicht nur zur Hand nehmen, sondern sich ernsthaft mit seinen Impulsen beschäftigen.
Alex Weller
Autor und Verlag