Warum so viel über das Schreiben geredet, aber zu wenig geschrieben wird.
Anlässlich unbefriedigender Testergebnisse bei baden-württembergischen Schülern hat die BW-Kultusministerin die „Implementierung eines Rechtschreibrahmens“ in die Wege geleitet.
Herzstück ist ein schulartenübergreifendes Spiralcurriculum für die Klassen 1 bis 10, es ist verbindlich ab dem Schuljahr 2018/2019. Hierfür wird das amtliche Regelwerk für die deutsche Orthographie didaktisch aufbereitet. Im Rahmen von regionalen Lehrerfortbildungen soll dieses Spiralcurriculum dann in die Schulen kommuniziert und dort im Rechtschreibkonzept der jeweiligen Schule verankert werden.
Angeregt durch dieses durchaus bedenkenswerte Projekt möchte ich ein paar Überlegungen zum Thema Schreiben in der Schule im weiteren Sinne anstellen. Sie können so zusammengefasst werden:
- Die Rechtschreiberziehung in der bisherigen Form hat ein riesiges Legitimationsproblem angesichts der neueren Geräte, mit/auf denen Jugendliche heute schreiben.
- Die Schreiberziehung ist in der schulischen Praxis ein gefährdetes Arbeitsfeld angesichts der Tatsache, dass immer weniger Zeit zum (schulischen) Schreiben zur Verfügung steht. Der Deutschunterricht, und nicht nur dieser, wird ‚vermündlicht‘ und vermutlich nicht nur in Baden-Württemberg.
Zu 1. Rechtschreiberziehung:
Die digitalen Schreibgeräte (PC, Tablets, Smartphones) benötigen immer weniger Regelkenntnis: Hier ist der Aspekt „gestütztes Schreiben“ besonders relevant. Das beginnt mit den integrierten Rechtschreib-, Grammatik – und Wortschatzhilfen gängiger Office-Programme und Apps. Das geht weiter mit der automatischen Vervollständigung von Zeichenketten (‚predictive text‘), die wir von den Smartphones gewohnt sind. Und das gipfelt in Programmen, die aus vorhandenem Sprachmaterial eigenständig Texte verfassen können. Der Computer schreibt mit, er übernimmt auch zunehmend das Schreiben selbst, dank Spracherkennung und Übersetzungsprogrammen. Schließlich entwickelt die KI-Forschung (KI = Künstliche Intelligenz) nicht nur selbstfahrende Autos, sondern (jetzt schon) Schreib- und Diktierprogramme, welche sich zunehmend selbst optimieren können.
Die Frage ist: Welchen Stellenwert haben in Zukunft grammatische und orthografische Regelkenntnisse? Wie einleuchtend muss es für Schüler sein, diese noch mühsam zu lernen. Henning Lobin, Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Uni Gießen schließt daraus: „Es ist klar, dass diese Fähigkeiten … verblassen werden. Wenn der Computer etwa für korrekte Orthografie und Interpunktion sorgt, wendet der Mensch die damit verbundenen Regeln allenfalls nur noch passiv an, falls ihm Fehler auffallen sollen.“ (Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt. Campus 2014, S. 164)
Darüber ist nachzudenken, je rascher, desto besser. Das könnte die Rechtscheibrahmen-Aktion um einige praxis- und zukunftsrelevante Dimensionen bereichern: Zuerst die WARUM-Überhaupt-Noch-Frage angehen und dann das WIE.
Zu 2. Die Schreiberziehung als das wohl gefährdetste Arbeitsfeld in der schulischen Praxis.
Das Reden verdrängt das Schreiben, oder anders: Die Mündlichkeit beherrscht zusehends die Leistungsbemessung. Hierfür sehe ich folgende Gründe, die Reihenfolge ist beliebig:
- Der Ganztagsunterricht steht in Konkurrenz zu den schriftlichen Hausaufgaben. Zum einen weil immer weniger Hausaufgaben erteilt werden können, zum anderen weil längere Schreibphasen in Ruhe und Konzentration sich besser zuhause als in der Schule ergeben.
- Die Aufwertung mündlicher Formen der Leistungsmessung z.B. durch Verschiebung des prozentualen Verhältnisses schriftlich-mündlich zugunsten der mündlichen Mitarbeit. In Baden-Württembergs Gymnasien kann ein Referat (GFS genannt) als zusätzliche schriftliche Note angerechnet werden. GFS steht für „Gleichwertige Feststellung von Schülerleistung“.
- Demgegenüber lässt die BaWü-Notenverordnung alternative Schreibprodukte, wie sie z.B. in Portfolios entstehen, nicht als gleichwertigen Ersatz für eine herkömmliche Klassenarbeit gelten. Wenn also eine Kollegin die Schüler über einen längeren Zeitraum ein Portfolio oder eine Dokumenten-Mappe erstellen lässt, in denen unterschiedliche Schreibformen (vom Protokoll bis zur Selbstreflexion) praktiziert werden, so hat sie, die Kollegin, einen sehr hohen Korrektur- und Feedback-Aufwand, als Ersatz für eine der vorgeschriebenen Klassenarbeiten darf es nicht werten.
- Zeitdruck im Regelunterricht: Zwar ist fortwährend von Entrümpelung und Verschlankung der Bildungspläne die Rede, „gefühlt“ steht dennoch immer weniger Zeit zur Verfügung zum Vertiefen, Üben und für längere Schreibphasen im Unterricht.
- Dazu kommt, dass „alles Geschriebene“ in irgendeiner Form auch kompetent gelesen und überarbeitet werden sollte, wie es die „prozessorientierte Schreibdidaktik“ zurecht postuliert. Jeder, der Erfahrungen mit „Schreibkonferenzen“, „Kommentarlawinen“ und „Textlupen“ gemacht hat, weiß, dass dies sehr produktiv sein kann, zugleich aber sehr zeitintensiv ist.
- Das Spiegelstrich-Schreiben an Tafel oder Smartboard und Heften ist typisch für Zeit- und Schreibknappheit. Mag dies in vielen Fächern und Situationen begründet sein, meistens durch die Fokussierung auf die notwendigen Informationen, so stellen sich dadurch weder automatisch logische Zusammenhänge her, noch die Fähigkeit zur Textproduktion mit sachlogischen Verknüpfungen. Diese werden aber am Schluss doch verlangt, und sei es spätestens im schriftlichen Abitur.
Wenn dies so ist, wie ich es darzustellen versucht habe, dann steht ein größeres Projekt ins Haus als die Verbesserung und Vereinheitlichung der orthografischen Fähigkeiten von Klasse 1 – 10.
Tatsache ist, dass richtiges Schreiben nur durch viel Schreiben erreicht werden kann, das ist mehr als Lückentexte, Wortlisten-, Lauf- und Büchsen-Diktate oder gelbe Kästen im Regelheft. Die Produktion guter Texte braucht Wortschatz-Arbeit, Schreibmuster, viel Rückmeldung durch kompetente Mit-Leser und angemessene Zeit.
Im Sprachförderkonzept eines nordeutschen Gymnasiums habe ich folgende Festlegung für die Klassen 5 – 7 gelesen: „Freies Schreiben: 1x pro Woche 7 Minuten im Deutschunterricht.“ Man mag das für etwas wenig halten und die Dimensionen ausdehnen wollen (z. B. 3x pro Woche 10 Minuten) und weitere Fächer dazu verpflichten, aber in diese Richtung darf schon mal gedacht werden, für den Anfang, meine ich.
(Die Bilder sind entnommen: H.Schiffler/R.Winkeler, Tausend Jahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens in Bildern, Belser Verlag 1994)