Liebesroman, Entwicklungsroman, Gesellschaftsroman?

  • In Gero von Wilperts 'Sachwörterbuch der Literatur' (Stuttgart 1969) ist unter dem Stichwort "Bildungsroman" zu lesen:
    "spezifisch deutsche Art des Entwicklungsromans, bei der weniger die Persönlichkeit- und Charakterentwicklung im Laufe der Lebensschicksale des Helden, als vielmehr der Einfluß der objektiven Kulturgüter und der personalen Umwelt auf die seelische Reifung und damit die Entfaltung und harmonische Ausbildung der geistigen Anlagen (Charakter, Willen) zur Gesamtpersönlichkeit im Mittelpunkt steht (z.B. Goethes 'Wilhelm Meister'); meist mit dem Erziehungs- oder Entwicklungsroman verschmolzen."

  • Im selben 'Sachwörterbuch der Literatur' ist unter dem Stichwort "Enwicklungsroman" zu lesen:
    "Roman, der in sehr bewusster und sinnvoller Komposition den inneren und äußeren Werdegang eines Menschen von den Anfängen bis zu einer gewissen Reifung der Persönlichkeit mit psychologischer Folgerichtigkeit verfolgt und die Ausbildung vorhandener Anlagen in der dauernden Auseinandersetzung mit den Umwelteinflüssen in breitem kulturellemRahmen darstellt. (...) Das Streben und Irren des Helden führt aus eigener Kraft auf einen Stand gewisser Vollkommenheit, der dem subjektiven Idealbild des Dichters und seiner Zeit entspricht."
    Welche dieser Merkmale des Genres Bildungs- und Entwicklungsromans treffen auf Christa Wolfs Buch zu? Nehmen Sie bei Ihren Ausführungen Bezug auf das Romangeschehen.
    Schlagen Sie auch den Begriff "Gesellschaftsroman" nach und vergleichen Sie.

  • Gibt es eine F R A U E N L I T E R A T U R ? Gehört Christa Wolfs Roman dazu?

    Zunächst einige Ausführungen zum Thema Frauenliteratur: Übereinstimmung besteht (weitgehend) darin, dass nicht alleine der Tatbestand, dass eine Frau Autorin ist, ausreicht, dass von F. gesprochen werden kann - genauso wenig, wie eine inhaltliche Bestimmung (Thema: Frau, Stellung der Frau etc.) dazu veranlassen darf, das Werk der F. zuzuordnen.
    F. muss - verdient sie die Bezeichnung als eigenständigen Begriff - eine eigene Art des Schreibens sein, die vor folgenden Problemen steht:

    - es muss eine weibliche Erzählästhetik gefunden werden, die sich nicht der vorgegebenen patriarchalischen Ich-Form bedient und sich den herrschenden Ästhetik-Normen nicht unterwirft;
    - eine neue Sprache muss geschaffen werden, die es erlaubt, weibliche Erfahrungen zu vermitteln (vgl. die Einleitung zu Verena Stefan: Häutungen); wobei hier wohl eher die Mittel der Verfremdung u.a. angewendet werden müssen, da eine lexikalisch neue Sprache nicht gefunden werden kann;
    - es gilt sich spezifisch weiblichen Widersprüchlichkeiten zuzuwenden, wie z.B. dem Eroberungswillen (z.B. in der schöpferischen Leistung) UND dem Erobert-werden-Wollen im sexuellen Bereich;
    - es gilt den herrschenden Literaturbetrieb zu bekämpfen, da dieser immer auch ein patriarchalisch geprägter ist.

    Nur wenige Merkmale von F. lassen sich auf diesem Hintergrund erkennen - und auch hier ist Vorsicht geboten:
    1. Im Gegensatz zum "fokussierten (männlichen) Bewusstsein" steht die "ahnende (weibliche) Wahrnehmung".
    2. Die Form der F. ist (noch) nicht gefunden, sondern wird noch gesucht und besteht zunächst auch in einem Aufbrechen des überlieferten literarischen Stils - so z.B. durch Episodenhaftes, durch gestellte Dialoge, Lehrgedichte, repräsentative Selbstbefragungen usw.;
    3. Die F. bewegt sich in konkreten Situationen: "Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant, um anderen mitgeteilt zu werden." (Maxie Wander: "Guten Morgen, du Schöne". Darmstadt 1978, Vorbemerkung, S. 8)

    Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus möglich, dass auch Männer F. schreiben bzw. geschrieben haben. So entdeckte Ruth-Eva Schulz-Seits in der von Friederike J. Hassauer und Peter Roos herausgegebenen Sammlung `Ver-Rückte Rede - Gibt es eine weibliche Ästhetik?' bei Hölderlin einen "verschlüsselten Feminismus" und Brigitte Lühl-Wiese (ebd.) bei Kafka ein antipatriarchalisches "Paradies jenseits der Logik".

    Einige Literaturhinweise zur Frauenliteratur: Verena Stefan: Häutungen (1975); Karin Struck: Die Mutter (1975); Lieben (1977); Gertrud Leutenegger: Gouverneur (1981); Gabriele Wohmann: Abschied für länger (1965); Das Glücksspiel (1981); Christa Wolf: Moskauer Novelle (1961); Der geteilte Himmel (1963); Nachdenken über Christa T. (1968);

    Zusammengefasst aus Manfred Jurgensen: Was ist Frauenliteratur? (vorläufige Anmerkungen), in: Frauenliteratur: Autorinnen - Perspektiven - Konzepte, München 1983, S. 13-39

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht ganz themengerecht sein sollte.
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