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Grenzräume, Grenzzeiten, Übergänge

Ich bewege mich gerne in Grenzräumen, Zwischenbezirken, arbeite in und an Übergängen aller Art. Manchmal zeigt sich das ganz äusserlich in  meinem Engagement für schöpferisch-musikalische Arbeit mit Kindern, Schulen oder Publikum, das noch nicht vertraut ist mit den neuen Künsten. So lassen sich meine Tätigkeiten als Dozent in den Response-Projekten in Frankfurt oder in Bremen, ebenso auch in „ambi“, das ich in Bremerhaven mit engagierten Lehrern habe ins Leben rufen können, meiner kompositorischen Arbeit  zuordnen, da ich beeinflusst von Joseph Beuys und John Cage in einem erweiterten Kunstbegriff Komponieren eben nicht nur als das Schreiben von Noten verstehe. Das Gleiche gilt auch für meine Musiktheaterprojekte mit Schulen (wie „Kassandra“) und die Auftritte mit meinen StudentInnen in unserer Performancegruppe „ganZeit“ (1985-1989).

 

Für mich ist Kunst und damit auch  Musik  der Grenzraum zwischen Wildnis und Zivilisation,  zwischen Chaos und Ordnung. Kunst spiegelt unser Dasein zwischen Tod und Leben. In meiner kompositorischen Arbeit drückt sich dies zwischen den Polen strenger Konstruktion und Spontaneität, zwischen freier intuitiver Gestaltung und strukurellem Arbeiten aus. Was mich interessiert, sind also die Übergänge zwischen diesen existentiellen Extremen.  In diesem Sinne hat der Begriff der Stille als der des Übergangs schlechthin schon von Anfang an  in meinem Schaffen eine zentrale Rolle gespielt: mein erstes, der Öffentlichkeit präsentiertes Werk, das Stück „Klaviersolo“ von 1972 dauert nur eine Minute und entwickelt sich von einem turbulenten Anfang her zum Höhepunkt hin, der in einer ausgedehnten Generalpause, in absoluter Stille, besteht. Natürlich habe ich auch aus diesem Grunde einen Lehrer wie Isang Yun gewählt, damals, in Berlin, da mich das asiatische Konzept von Stille schon früh sehr fasziniert und als Ausdrucksmittel für die heutige Zeit überzeugt hatte, einer Zeit, in der zuviel Information jeder Art in zu kurzer Zeit zu aufdringlich auf uns einströmt und es Vielen schwer fällt, dagegen noch eine eigene Identität zu bewahren. Die Stille ist für mich auch ein Grenzraum, dessen Gestaltung mir als Komponist obliegt.

 

Mit diesem Grenzraum assoziiere ich einen Raum, wo das Individuum als solches fast nicht mehr zu existieren scheint: einen Bereich ohne bewussten Sinneseindruck, ohne Erfahrung, Hoffnung und Befürchtung. Das optische Pendant, das damit oft verbunden wird, ist das der Dunkelheit, der Schwärze, im Hörbereich ist es das der Lautlosigkeit, der Stille. Für mich bedeutet Stille einen Grenzfall von Musik, der auf das Sinnbild des Todes hinweist. Das ist der Punkt, wo die Musik zu sterben scheint, wo sie nicht mehr da ist. Wenn unser bewusstes biologisches Leben aufhört, sind wir körperlich nicht mehr da, wir klingen nicht mehr, es schwingt keine Saite mehr.

 

In der Musik,  beispielsweise in meinem "grenzRaum 2" für Gitarre solo, ist die Stille letztendlich nicht absolut, sondern man erinnert sich des vorausgegangenen musikalischen Ereignisses. Insofern ist auch der Tod für mich letztendlich keine endgültige Stille, denn die Verstorbenen existieren weiter in der Erinnerung der Menschen, die sie gekannt haben. Wenn man das transzendent sehen will, wie die Gnostiker und Mystiker des Mittelalters, kann man sagen, dass die Menschheit in der Erinnerung Gottes ewig weiterlebt. Die Stille ist in meiner Musik somit auch als Existenz von Erinnerung zu verstehen, als etwas geistig substantiell Bleibendes. Sie vermag dem Tod und der Vergänglichkeit dadurch zu widerstehen, dass sie Teil oder Spiegelung der unvergänglichen Harmonie des Kosmos ist. Ich ziele als Komponist auf eine Bewusstseinserweiterung beim Hörer.

 

 

Erwin Koch-Raphael

(Weiteres auch in: Vorträge/Stilgenese & Interkulturalität)