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composition no. 39 für Flöte und Kammerensemble - „Kalte Zeiten“

Es kommen kalte, harte Zeiten. „Bremer Podium“: Werkstatt und Konzert mit dem Komponisten Erwin Koch-Raphael

„Kalte Zeiten sind harte Zeiten“, kommentiert Erwin Koch-Raphael sein Kammerensemblestück „Kalte Zeiten“. Mit der frostigen Metapher reflektiert er auf den zeitgeschichtlichen Bezug des Stücks, das 1984 während der Nachrüstungsdebatte im Bundestag und der stark angespannten Ost-West-Beziehungen entstand. Jetzt, als „Kalte Zeiten“ in einem Konzert der Komponistenportrait-Reihe „Bremer Podium“ auf dem Programm stand, erfuhr das Stück eine tragische Aktualisierung durch den Golfkrieg.

... Und wenn man die Beschäftigung mit Musik der Aktion auf der Straße vorzieht – was viele taten, denn der Sendesaal von Radio Bremen war prall gefüllt: Kann man angesichts eines Krieges mit Kunst etwas bewirken? ... Erwin Koch Raphael (argumentierte) mit der allgemeinen kommunikativen Funktion von Musik ..., mit ihrer Fähigkeit, zu sensibilisieren und als Metasprache Verständigung, so rudimentär diese auch bleiben mag, zu ermöglichen. Als Komponist realisiert er seine Möglichkeiten zum Handeln im Komponieren und versteht seine Musik als ganz persönliche Reaktion auf das, was ihn betrifft.

... So markierten die in den letzten beiden Jahren entstandenen Werke „composition no. 40“ für Flöte, Viola und Gitarre sowie „composition no. 39“ für Flöte (Roswitha Staege) und Kammerensemble eine neue Station in der kompositorischen Entwicklung Erwin Koch-Raphaels.

Ein streng strukturalistischer Ansatz, der auf Zahlenspielen basiert, beherrscht diese Musik und wird so radikal durchgeführt, dass sogar auf Realisationsmöglichkeiten des Geschriebenen keine Rücksicht mehr genommen ist; ... Doch intendiert Koch-Raphael besonders mit der „composition no. 39“, die das Ensemble Modern unter Peter Rundel brillant uraufführte, nicht Einheitlichkeit durch Vorgabe einer Struktur, sondern Konfrontation durch das Formulieren extremer Kontraste, die das Potential des strukturellen Plans soweit wie möglich auszuschöpfen suchen.

Statische Flächen stehen neben Klangfarbenspielen und stark geräuschbetonten Abschnitten. Jazz- und Kirchenmusikidiome klingen sachte an, werden aber nicht ausgeformt, sondern wirken wie schwache Erinnerungen an vergangene Zeiten. Das lange Flötensolo dehnt mit extrem langen, meditativ getränkten Tönen die Zeit und löst ihren gleichförmigen Verlauf scheinbar auf. Die Brüche zwischen diesen Flächen und Musik/Klang-Fragmenten holen aber immer wieder in die Realität der streng fixierten Zeitstruktur des Werkes zurück und lassen die Musik trotz erheblicher Länge (25 Minuten) in ihrer Konstruktivität erfahren. Ihre Sperrigkeit, ihre Anstrengungen, mit verschiedenen Methoden Sprache zu finden, sei’s im leisen Schwingen, sei’s im aggressiven Hämmern, gestatteten den Rückbezug zum Beginn der Veranstaltung: Wenn Musik etwas bewirken kann, dann, wenn sie aus einer dumpfen Ruhe aufstört, sich bemerkbar macht und die Auseinandersetzung sucht;  wenn sie nicht gleichgültig lässt gegenüber sich selbst, sondern zu Aktivität anspornt.

 

(Hanno Ehrler, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.1991)