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Stilgenese & Interkulturalität

Erwin Koch-Raphael

Der Kopf ist  rund, wie die Erde


     Ariadne wird von Theseus auf Naxos sitzen gelassen, nachdem sie ihn zuvor mithilfe ihres Fadenknäuels vor dem Schlimmsten bewahrt hatte – vor dem Minotaurus. In dieser alten, bekannten Geschichte stoßen zwei Kulturen unsanft aneinander, die von Theseus repräsentierte helladische und die durch Ariadne vertretene minoische. Der zweifelhafte mythologische Held Theseus missbraucht die Gastfreundschaft der Kreter, nutzt die Prinzessin Ariadne aus und lässt sie dann links liegen.  Dieser in der Sage geschilderte Vorgang  ist mit Sicherheit kein Vorbild für den Umgang der Kulturen miteinander. Vielleicht deshalb, oder aber, weil das Schicksal Ariadnes auch an tief verwurzelte Ängste der Menschen erinnert, schreibt der Dichter Hugo von Hofmannsthal 1911 zu dieser Geschichte ein Werk, das Richard Strauss dann zur Oper „Ariadne auf  Naxos“ ausarbeitet. Interessant für mich ist in dieser Oper, wie hier zwei Ebenen ineinander gesetzt werden, seltsam unvermischt und doch eins in der Darstellung. In-Eins gesetzt sind hier bei Hofmannsthal und Strauss die Stilistik und alte Kultur der Commedia del arte und die der Opera seria. Es entsteht durch diese gewagte  Kombination ein seltsames Gebinde, das die Tragik Ariadnes im Grunde nicht ernst nimmt. Das Komödiantische überwiegt. Bemerkenswert aber ist – so wie es in Straussens Oper  dargestellt wird - der Auslöser dieser „Straßenmischung“  theatraler Kulturen: Es ist ein reicher, snobistischer  Mäzen, der den Auftrag zu diesem Machwerk gibt, um seine Geschäftsfreunde mit dem unverschämt Schrecklich-Schönen   bestens zu amüsieren. Für uns Heutige, die wir die Oper auf der Bühne erleben, offenbart sie die Macht des Geldes über die Kunst, eine Macht, welche auch heutigentags - oft genug - die hergebrachte Tradition und Kultur der Nationen  nicht wert schätzt sondern sie unbedenklich zum Gegenstand des Amüsements der Sorglosen macht und diesen Umgang – selbstgerecht und nicht selten begründet mit Einschaltquoten - für vollkommen richtig hält. Theseus und Ariadne: ein Beispiel genau dafür, wie eine Begegnung  von  Kulturen nicht vonstatten gehen darf.

    Angesprochen mit diesem Mythos ist auch das berühmte Labyrinth des Königs Minos, ein passendes Bild für den Anfang meiner – wie sie sehen werden etwas „labyrinthischen“ – Ausführungen. Denn bei meinen Vorüberlegungen  zum Thema dieses Vortrags stellte ich sehr rasch fest, dass das vorgegebene Thema eine ungeheure Komplexität besitzt und ich sah zunächst nicht, wie ich dieser Komplexität in der vorgegebenen  Zeit auch nur annähernd gerecht werden könnte. Ich kam darauf, Teile dieser Komplexität einfach zu zeigen, das Labyrinth zu akzeptieren, mich durch seine Gänge durchzuwinden und Sie - soweit möglich - dabei mitzunehmen. Auf diesem Weg durch das Labyrinth begegne ich auch Ariadne, deren Fadenknäuel unverzichtbar bleibt.

    Francis Picabia sagte einmal,  „Unser Kopf ist  rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ : Ein ermutigender Ausspruch, der hoffentlich nicht ironisch gemeint war. Folgen wir Picabia, so können wir also im Denken in alle Richtungen gehen, wenn wir wollen, sogar ganz um die Erde.

    Bevor ich darauf eingehe, warum gerade ich mich in der bisherigen Weise besonders stark auf asiatische Kulturen beziehe,  möchte ich den Diskurs doch noch etwas weiter in die Welt lenken. Interkulturelles Arbeiten in der Komposition: vielleicht ist genau dies der „Sprung in die Welt“, von dem Claus-Steffen Mahnkopf schreibt in der „Musik & Ästhetik“ Heft 36 vom Oktober 2005,  und wo er  am Ende seine Überzeugung ausdrückt, dass „der Musik wieder möglich sein wird und möglich sein muss, mit ihren so unendlich tiefen und eindringlichen Mitteln an der Verständigung darüber, wie wir leben und was wir sind, teilzunehmen.“ Für mich heißt das, sowohl im gesellschaftlichen Miteinander als auch beim Komponieren, sich des Eigenen bewusst zu werden und gleichzeitig offen für das Fremde sein und: Beides miteinander zu etwas Neuem zu verbinden. Ich meine hierbei jetzt nicht nur Eigenes in mir und Fremdes außerhalb von mir, sondern es gilt auch, Fremdes in mir und Eigenes außerhalb von mir zu erkennen und mit Achtung  zu behandeln.

     Damit ist auch der Umgang  mit Differenz in unserer Gesellschaft angesprochen. Die in diesem Zusammenhang häufig eingeforderte Toleranz endet dabei nicht selten in Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit. Besser ist es, von Respekt für die Differenz zu sprechen und dazu gehört auch,  neben der Wahrnehmung des Fremden, des Anderen - wesentlich - sein Eigenes wirklich zu kennen und zu respektieren. Die - viel zu oft zitierten - Rechtsextremen heute haben in diesem  Sinne kaum Eigenes  und um diese Tatsache nicht wahrnehmen zu müssen, werten sie Fremdes ab.  Daran wird deutlich, wie wichtig Wertschätzung in unserer Gesellschaft ist: Wir brauchen eine Kultur der Wertschätzung. Theseus hat Ariadne nicht  wert  geschätzt, nicht respektiert. - Dieser Mythos ist im Übrigen  auch ein Exempel für die Beziehung von Frauen und Männern. Auch das ist eine interkulturelle Achse. Doch diesen Abzweig im Labyrinth werde ich jetzt auch  nicht weiter verfolgen, ebenso wenig den der Beziehungen zwischen Geld, Macht, und Kultur, wie er bei Hofmannsthal angedeutet wird.

    Beim Betrachten von Interkulturalität ist man heute gleich schnell beim Reizthema „Globalisierung“, im Blickfeld  hier besonders die angeblich neuen Beziehungen zwischen  Asien und Europa. Vielleicht  aber ist heutzutage die Gegenüberstellung von Asien und Europa weniger interessant, ergiebig  und neu als das Nachspüren unserer internen interkulturellen Spuren heute. In unserem Falle: Hie die neue Musik, die bestimmte Kreise anspricht – aber auch gern unter  sich bleibt, dort eine große Menge Jugendlicher, für die schon der Besuch eines normalen, „klassischen“ Konzerts eine wenig geliebte Aktion darstellt. Interkulturell arbeiten heißt hier, auf diese Jugendlichen zugehen, sie einbeziehen in den Schaffensprozess unserer Musik und gleichzeitig - seitens der Erwachsenen - die Elemente der ihnen eigenen Kultur wert schätzen, einbeziehen, aufnehmen. So wie mein Projekt "ambi" („Abenteuer Musik – Bremerhavener Initiative“ siehe: www.ambi.de) in Bremerhaven, wo sich Schülerinnen und Schüler  und die Hochschule für Künste Bremen im Schaffen neuer, abenteuerlicher Musik begegnen, also in Berührung gehen, sich zusammenfügen, aber auch fremd sein lassen und sich so der Öffentlichkeit selbst bewusst präsentieren. Beide Seiten gewinnen  hier, lernen und erfahren voneinander.  Ein Zukunftsmodell?

    Nach den bisherigen verschiedenen Abzweigungen im Labyrinth führe ich Sie jetzt auf den Hauptweg, der meine eigene Arbeit im interkulturellen Bereich sichtbar macht. Für meine Person gilt, dass mir aufgrund meiner Sozialisation als Komponist  manches in der ostasiatischen Kultur näher ist als in meiner eigenen europäischen und meine musikalische Sprache ist  eng verflochten mit der ostasiatischen musikalischen Idiomatik. Die Grundlinien meiner asiatisch orientierten Musiksprache habe ich  bei  meinem Lehrer Isang Yun als bereits europäisierte kennen gelernt.

    Die Wurzeln meiner Nähe zum fernöstlichen Denken liegen in der Zeit, als ich 13 Jahre alt war und zufällig den Hinduismus kennen lernte. Ich bin in meiner Entwicklung seitdem durch etliche  labyrinthische Gänge gezogen, allerdings mit einer bemerkenswerten, vielleicht zufälligen,  Zielrichtung:  Mein geistiger, so früh begonnener  interkultureller Weg führte von einem kleinen niederrheinischen Städtchen aus durch meine intensive Auseinandersetzung mit dem Hinduismus nach Indien, von dort 1968 zu Beginn meiner  Studienzeit in Berlin durch den Menschen und Lehrer Isang Yun nach Korea und von dort weiter über Mitstudenten und spätere Freunde in der Kompositionsklasse von Isang Yun nach Japan, wo diese Entwicklung  bisher endet. Meine geistige Reise führte mich also von West nach Ost. In richtiger Reihenfolge. Das ist ausnahmsweise mal nicht labyrinthisch. Sieht jedenfalls zunächst so aus. Mich hat am Hinduismus früh fasziniert, wie selbstverständlich man dort mit großen  Zahlen, unendlichen Räumen und Zeiten umgeht, wie sich dort sicher geglaubte Erscheinungsformen  laufend verändern und umgestalten, wie alles im Fluss ist, ständig, in ewigem  Werden und Vergehen.  Die Auseinandersetzung mit dieser Weltperspektive hat mich mein Leben lang begleitet, das Wissen darum, wie aus diesen hinduistischen Urquellen später am Ende der Zen-Buddhismus herauswuchs, den ich in der japanischen Kultur kennen lernte und da auch in der Musik so sehr wertschätze, hat mich fasziniert.

    Ich begann  mein Studium bei Isang Yun im Jahre 1972, und die erste Komposition, die ich bereits im folgenden Jahr aufführen konnte, war mein Trio „Kalpa“, ein Stück, das bezeichnenderweise vom hinduistischen Weltzyklus handelt.

    1974 schrieb ich für ein Tourneeensemble meine „Nacht-Stücke nach Ideen von E.T.A. Hoffmann“ für Sopran, Flöte, Cello, Klavier und Schlagzeug,  bei dem ich meine individuelle Weiterentwicklung der seriellen Kompositionstechnik, den von mir so genannten  „Prinzipalrhythmus“, entdeckte und seither anwende. Ich habe mich für dieses Stück am Vorbild des KASA orientiert, ein mit Kopfstimme gesungenes erzählendes koreanisches Kunstlied, das nur von Flöte und Trommel begleitet wird: und auch bei mir ist der Sopran mit Vokalen und Konsonanten gleichsam  instrumental in den Gesamtsatz integriert.

    Ein weiteres auch noch relativ frühes Beispiel meiner interkulturellen Spurenlegungen  ist mein Orchesterstück „Land der Nacht“, das ich im Auftrag des WDR im Anschluss an meinen mehrmonatigen Koreaaufenthalt 1980 komponierte und das bereits gleich mit einem charakteristischen  Zitat beginnt.

    Dem Zitat zugrunde liegt eine - normalerweise lyrisch ausgeführte -  Melodie aus der koreanischen Hofmusik, der Satzanfang aus der traditionellen Suite  „P’yongjo hoesang“. Allerdings habe ich  in „Land der Nacht“ den Charakter dieser Melodie entschieden verändert, ich habe ihn wild, ruppig gesetzt, um den Hintergrund meiner Komposition, nämlich die Empörung für die Inhaftierung des koreanischen Dichters Kim Chi Ha durch die damalige südkoreanische Regierung und meinen Protest gegen das Massaker von Kwangju 1980  auszudrücken. Ich erwähne dieses Zitat deshalb, weil seitdem dieses melodische  Element in unzähligen Varianten immer wieder Keimzelle für elementare Tonfolgen oder melodische Entwicklungen in anderen Kompositionen von mir wurde.

     In dieser Komposition verwende ich mehrfach den lyrischen Modus des „u-cho“, eine halbtonlos pentatonische traditionelle koreanische Tonfolge, eine der vier, welche die elegante, verfeinerte Hofmusik (a-ak) konstituieren mit den Tönen: es-f-as-b-c-es. Ebenso verwende ich hier wie später den in der schamanischen Ritualmusik Koreas häufig anzutreffenden dreigliedrigen pathetischen und klagenden Modus des „Kyemyòn-cho“ mit seinen charakteristischen Kerntönen e-a-h und den „Satellitentönen“ - wie Yun sie nannte -  c und d. Im Mittelteil dieser Orchesterkomposition habe ich eine buddhistische klösterliche Gebetszeremonie  fast zitathaft  wiedergegeben, eine der Zeremonien, die ich während meines Tempelaufenthaltes im Hae-in-sa zwischen Nacht und Sonnenaufgang  erlebt hatte.

    Im Frühjahr 1979, unmittelbar nach dem offiziellen Abschluss meines Studiums, habe ich im Auftrag der Geigerin Akiko Tatsumi eine Komposition für Violine solo mit dem Titel „Sekitei“, das heißt übersetzt „Der steinerne Garten“, geschrieben.  

    „Sekitei“ hat deutlich  japanisches  Idiom und enthält als Konzept die Idee des kontemplativen „Steinernen Gartens“ in den Zen-Klöstern Japans. Zu Beginn entfalte ich eine ruhig fließende melodische Bewegung in hoher Lage der Solovioline, schließe an sie aber, diese Linie auszugsweise variierend, mehrere gegensätzliche Teile von virtuosem Charakter an, die selber dann wieder für kurze Momente von Teilen der anfänglichen Melodie unterbrochen werden. Diese virtuoseren Zwischenteile (oder sind sie eher die Hauptteile?)  habe ich nach musikalisch-rhetorischen Figuren gestaltet, die man im deutschen Barock – besonders schön im Werk von Heinrich Schütz – immer wieder finden kann und die sich als die Darstellung - aber auch Evokation - von Gemütsbewegungen beim Menschen verstehen. Mir ging es hier unter anderem darum, die Selbstwahrnehmung,  die sich beim Meditieren in den Gärten einstellt, mit der europäischen Form von Selbstwahrnehmung in der alten abendländischen Musik in einem gemeinsamen   musikalischen  Erleben  zusammen zubringen.

    Im September 1983  schrieb ich  in relativ kurzer Zeit meinen 45minütigen Klavierzyklus „Septembertage“,  in dem ich alle mir damals bekannten und vertrauten Stilarten der zeitgenössischen Musik in mindestens einem kurzen Klavierstück reflektierte. Besonders wichtig in diesem Kreis von 24 Kompositionen sind mir hier zwei, in denen ich eine Art Quadratur des Kreises versuche: ich übertrage den in der Tongebung sehr fein-beweglichen  Stil der japanischen Bambusflöte Shakuhachi  - nach konkreten traditionellen Vorbildern - in den im Grunde stark mechanisch bestimmten Klavierklang.   

    Im gleichen Zyklus gibt es eine Komposition, in der ich musikalische Traditionen einer ganz anderen Ecke dieser Welt verwende:  ich  verbinde den Typ des argentinischen Tangos  mit  meinem  prinzipal-rhythmisch -  also europäisch-seriell  - geprägten Stil aus den 70er Jahren.

    1993 schrieb ich für den „Steirischen Herbst“ im Auftrag des ORF  „composition no. 46“ für 10stimmigen gemischten Chor und Flöte solo, die Uraufführung fand ein Jahr später in Graz statt. Während der Zeit, in der ich das Stück schrieb, fanden in Gorazde und fast zeitgleich in Kigali grauenhafte Massaker an der Zivilbevölkerung statt, an beiden, so weit voneinander entfernten Orten wurden um diese Zeit auch Insassen in Krankenhäusern brutal niedergemacht.  Ich entschied mich, meine ursprünglichen Kompositionspläne zu ändern und komponierte einen fast 30minütigen Klagegesang  im Andenken an die Opfer dieser Massaker. An mehreren Stellen aus diesem Werk finden sich die bereits erwähnten stilistischen Übergänge, so beispielsweise gleich anfangs eine, die einen klagenden Abschnitt im europäisch vertrauten Idiom darstellt, später eine andere in einem  eher asiatisch geprägten Idiom.

    Ich habe hier beide Stilistiken voneinander separiert und nicht, wie in andern Werken, amalgamierend  zusammengefügt  und zu einem einheitlichen Stil verschmolzen.

    Ähnlich verfahren bin ich in meinem Stück „composition no. 60: Shôgo/noonday“ für Koto und Renaissanceblockflöte aus dem Jahre 2005.  Stilistisch orientiert sich die Komposition am traditionellen japanischen Koto-Stil und beruht auf einem kurzen Gedicht, das ich für dieses Stück selbst verfasst habe und das Makiko Goto (Koto) ins Japanische übersetzte. Die Kotospielerin ist es auch, die dieses Gedicht, von längeren Vor-,  Zwischen- und Nachspielen umrahmt, während des Spiels vorträgt und sich dabei traditioneller japanischer Gesangstechniken bedient. Die spezielle Kombination und Proportionierung der Gesangsteile mit dem  solistischen Kotospiel habe ich dabei ans traditionelle „tegotomono“ angelehnt, eine Gestaltungsform, bei der ein ausgedehntes instrumentales Zwischenspiel, das „tegoto“, zwischen zwei in der Regel kürzeren Gesangsabschnitten steht. Die Renaissanceblockflöte  übernimmt in dieser Komposition die Rolle der einfühlsam und bildhaft kommentierenden Shakuhachi, also die der traditionellen japanischen Bambusflöte,  wozu sie sich dank  ihrer weit mensurierten Struktur meiner Ansicht nach  bestens eignet.

    „composition no. 60: Shôgo/noonday“ besteht aus 8 kurzen Einzelstücken, die unmittelbar aufeinander folgen mit jeweils nur einer sehr kurzen Spannungspause dazwischen. In dieser Komposition habe ich,  hörbar mit dem Gestaltungsprinzip von Jo-Ha-Kyu gearbeitet, das eine wesentliche Grundlage des -Spiels darstellt und das seit meinen 1974 entstandenen „Nacht-Stücke(n)“ zu den Grundelementen meiner formalen Konzeptionen wurde. Dieses Prinzip regelt in sehr differenzierter Form den Auf- und Abbau von musikalischer Spannung in der traditionellen japanischen  Musik. „composition no. 60: Shôgo/noonday“ artikuliert diesmal bewusst eher das Gegeneinander der Kulturen und Welten  und nicht so sehr das Ineinander, es ist eine besondere Form des Zusammenspiels, ein “eigen-zusammen”. Ursprünglich wollte ich in diesem Stück ein einheitlich durchgehendes Stück komponieren, ein Stück wie "aus einem Guss", in einer Stilistik und Idiomatik, aber es wurde daraus während der Arbeit eine separative Folge von 8 charakteristischen Teilen, die hier „gegeneinander  different“ sind. Auch von der Idiomatik her. Diese stilistische Brechung anstelle von stilistischer Verschmelzung war mir wichtig, ich wollte sie als Äquivalent zur auch äußerlich sichtbaren Gegenüberstellung von japanischer und europäischer alter Musik. Dennoch ist es eine Musik.

    Die Fragen, die in unserer Gesellschaft um  das multikulturelle Zusammenleben und um das Phantom einer Leitkultur aufgeworfen werden, haben sich in der Musik nie so gestellt, die Integration verschiedener Kulturen wird hier gelebt. Denn es gab in der europäischen Musikgeschichte kaum eine Zeit, von der Gregorianik bis heute, in der nicht immer  wieder rege Kontakte und damit verbundene stilistische Verschmelzungen  zwischen allen Kulturen der jeweils bekannten Welt stattfanden, und zwar in alle Richtungen. Wir Künstler, Komponistinnen und Komponisten waren immer auf der Suche nach Neuem, neuen Welten, neuen Erfahrungen, neuen Reizen und neuen Menschen. Wir wollten immer schon mehr wissen über uns, unsere Kultur und über die Anderen. Und weil kein System sich ganz nur aus sich selbst verstehen kann, waren Übergänge in andere Welten unverzichtbar, um das Eigene zu finden, um es sicherer zu haben. „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt rund um die Welt“, wie es beim Philosophen Hermann Graf  Keyserling so schön heißt, ergänzen  möchte ich:  und der Kopf ist rund wie die Erde.


(Darmstadt 2006, IMD)