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Portrait NZfM 2005

In Grenzräumen - der Komponist Erwin Koch-Raphael

von Monika Fürst-Heidtmann

Aus: "Neue Zeitschrift für Musik", September/Oktober 2005
copyright:  www.musikderzeit.de

Als der Geiger Thomas Zehetmair zusammen mit dem von Hans-Christian Euler geleiteten Musica Viva-Ensemble im Juni 2004 in Hannover Erwin Koch-Raphaels „composition no. 55“, ein „Concertino“, (ur)aufführte, waren die Zuhörer wie gebannt von den fragilen, am Rande des Spiel- und Hörbaren angesiedelten und doch ungemein ansprechenden Klanggespinsten. Nicht weniger fasziniert waren sie von der stimmigen Ausdruckswelt, die der Komponist da aus der Verbindung seiner durchaus zeitgemäßen musikalischen Sprache mit so entfernten, disparaten Elementen wie etwa dem Wehklagen der Feenfrau „Banshee“ aus der irischen Mythologie oder den im 16. und 17. Jahrhundert in England gepflegten “Fancies“ geschaffen hatte.

Solche Beziehungen bzw. Grenzüberschreitungen sind typisch für Erwin Koch-Raphael. Seine Kompositionen sind weder entstanden noch zu verstehen als rein musikalische Produkte; sie sind Ergebnis eines ganzheitlichen Denkens, Resultat einer unaufhörlichen Auseinandersetzung mit Ideen und Problemen, die gleichermaßen das eigene Ich wie das soziale Umfeld, die Welt von heute, Philosophie und Religionen, Kunst und Naturwissenschaften betreffen. Ausgestattet mit einem beweglichen, leicht entzündbaren Geist, vielseitig interessiert und gebildet, fängt er mit gleichsam ausgefahrenen Antennen Vibrationen von allen Seiten her auf, um daraus etwas Eigenes zu machen. „Für mich ist Komponieren Entdecken und Aufdecken, das Umsetzen von Erfahrungen und Erlebnissen in eine musikalische Sprache, die zwar auf rationale Strukturen bezogen ist, aber auch viel freien Raum lässt für Unmittelbares, Ungebundenes.“

So ist z. B. der 1983 komponierte Klavierzyklus „Septembertage“ nicht nur ein Kompendium der damaligen kompositorischen Möglichkeiten, sondern ebenso eine Art „Tagebuch“ subjektiver Befindlichkeiten, in dem freilich auch der Protest-Kanon der „Friedensbewegung“ vorkommt. Selbst mit dem Tod setzt sich Koch-Raphael auseinander, wie u. a. aus „composition no. 40“ (1989) hervorgeht, einem Trio für Gitarre, Viola, Flöte, das mit seinen leisen, lang ausgehaltenen „Schattenklängen“ das „memento mori“ und den Stillstand der Zeit zum Ausdruck bringt. „Darin liegt für mich das Ethische der Musik und der Kunst, an existentiellen Dingen zu arbeiten ohne Angst, uns vertraut zu machen damit wie im Spiel und daraus Kraft zu gewinnen.“

Der „Trieb zu politischen Ereignissen“ war es, der den 1949 in Kempen am Niederrhein geborenen und am humanistischen Gymnasium sowie im Klavier-, Geigen- und Orgelspiel ausgebildeten Erwin Koch-Raphael 1968 nach Berlin gezogen hatte, damals Zentrum gesellschaftskritischer Auseinandersetzung. Neben seiner Ausbildung zum Tonmeister an der TU absolvierte er dort an der Hochschule der Künste von 1972-1979 - ab 1975 als Assistent - ein Kompositionsstudium bei Isang Yun, eine Zeit, die tiefe Spuren hinterlassen sollte. So verwendet er seit seinem op. 2, dem Orchesterwerk „Trollebotn“ (1974), bis heute Yuns „Haupt“- bzw. „Zentralklänge“ als Ausgangs- und Bezugspunkt. Und wie jener fasst Koch-Raphael im Sinne des Taoismus „Musik als einen unendlichen Strom“ auf. „Ich arbeite nicht auf einen bestimmten, einzigen  Höhepunkt hin, sondern jeder Augenblick meiner Musik ist auf einer anderen Ebene intensiv. Im Tao ist alles beseelt, belebt, durch alles fließt das Tao, also Zeit.“

Neben dem für ihn „zentralen“ Einfluss Yuns macht sich in Koch-Raphaels Musik auch das europäische Erbe bemerkbar. Es bildet gerade ihren besonderen Reiz, dass sie zwischen Ost und West vermittelt. Etwa in dem 1979 entstandenen Violinsolo „Sekitei“, in welchem die an Landschaftsgärten japanischer Klöster orientierte Vorstellung von „gefrorener Zeit“, hinter der Leben fließt, mit westlichen Techniken wie der rhetorischen Figurenlehre der Barockzeit und der entwickelnden Variation verknüpft wird. Bevorzugt bedient sich Koch-Raphael eines „Prinzipalrhythmus“, eines der seriellen Technik nahe stehenden, auf Zahlen aufgebauten Strukturprinzips, das er bereits während der Arbeit an seinem Kammermusikwerk „Nachtstücke“ (1974) für sich entwickelt hatte. „Der künstlerische Ausdruck wird stärker, wenn man ‚Maschinen’ hat, die das Unbewusste heraufholen, wie die Surrealisten es sagten. Zahlen sind für mich solche ‘Aufzüge’. Ich brauche dieses Abstraktum, um zu noch tieferem Nachdenken und zu genaueren Lösungen zu kommen. Andererseits binde ich auch immer wieder Störmomente ein, die das Ganze in Frage stellen.“

Das Studium in Paris (1987-88) bei Donatoni (IRCAM) und Xenakis (Universität/ CEMAMU) sowie Bilder von Kandinsky und Malewitsch, die er dort im Centre Pompidou sah, verstärkten diese Tendenz zur Abstraktion. An die Stelle narrativer musikalischer Werke treten nun konstruktivistische, nur noch mit Nummern versehene Kompositionen. Das Schlüsselwerk jener Zeit, „composition no. 39“ (1988), ist gänzlich auf Zahlenbeziehungen aufgebaut. Bestätigt wurde diese Wendung zum Logisch-Analytischen durch die Beschäftigung mit der Philosophie Ludwig Wittgensteins. Vor allem dessen Überlegungen zur Zeit als „unendliches Möglichkeitsfeld, in dem wir immer nur eine endliche Auswahl, eine begrenzte Zeit erleben,“ fielen bei Koch-Raphael auf fruchtbaren, durch den asiatischen Zeitbegriff bereits vorgeprägten Boden.

Da es für den im Taoismus Geschulten keine „leere Zeit“ ohne Inhalt bzw. Sinn gibt, kommt seit „composition no. 39“ (1988) auch der Stille zusammen mit sehr leisen Tönen und Klängen eine wachsende Bedeutung zu. Der Komponist nutzt dies jedoch nicht nur als Raum zum Nacherleben und –klingen, sondern ebenso zur Kritik am Übermaß von Lärm und Geschäftigkeit in unserer Umwelt, wie u. a. aus der während eines Siemens-Projektstipendiums im Karlsruher ZKM entstandenen Klang-Performance „to open ears“ (1992) hervorgeht. Wenn er die Spieler auffordert, sich „immer genau an der Grenze zum Nichts (zu) halten“ – so in einer Reihe von z. T. graphisch notierten Instrumentalsoli mit dem bezeichnenden Titel „grenzRaum“ bzw. „grenzZeit“ - , hat das freilich auch mit dem für Koch-Raphael charakteristischen Denken in Utopien zu tun. Aber auch John Cages gesellschaftlich-emanzipatorische Ästhetik, die dem Interpreten gewisse Freiheiten einräumt, steht dahinter.

Dessen Einfluss konnte man freilich schon am Musiktheater-Projekt „Jabberwhorl Cronstadt“ (1978) erkennen, das mit offener Form und happeningartigen Elementen experimentiert. „Ich denke beim Komponieren nicht nur an Hörbares, sondern auch stark an andersartige sinnliche Erfahrungen. Für mich ist der Kunstbegriff dem Musikbegriff überlegen.“ Nach seiner Übersiedlung nach Bremen, wo Koch-Raphael 1982 zunächst als Dozent, seit 1996 als Professor für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Künste eine Anstellung bekam, führte er seine schon in Berlin begonnenen interdisziplinären Ansätze mit der performance-Gruppe „ganZeit“ fort. Seit „Engel der Zeit“ (1995) für  Kammerensemble und 2 Schauspieler beginnt er zudem einen Dialog mit alten Meistern. Die vier „Lichthaus-Passagen“ (1997) z. B., ein multimediales „work in progress“, basieren auf J. S. Bachs Cellosuiten, von denen jedoch nur die formale Struktur, d.h. die Proportionen der Takte, Rhythmen oder Motive bewahrt wird. Daneben versucht der Komponist in seinen Arbeiten mit Schülern - etwa bei den „Response“-Projekten in Frankfurt und Bremen sowie in dem bei der „Expo 2000“ in Hannover aufgeführten Musik-Theater „heart.brain.hamlet“ - , Jugendliche zu kreativem Tun und zur Selbstfindung anzuregen. Immer weiter dehnt Koch-Raphael den Radius seiner Themen und Ansätze aus, entwirft in seiner Musik teils aus Tradiertem, teils aus Neuem immer reichere Visionen von sinnerfülltem Leben, „Don Quijote“ vergleichbar, auf den sich sein jüngstes Werk, „composition no. 59: El sueño del caballero“ , bezieht.


Dr. Monika Fürst-Heidtmann









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