Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.3.3 Otd und ems haben Doppelfunktion als Gap Gene und homöotische Selektorgene der Kopfregion

In Drosophila wird das Muster der Segmentierungsgene und homöotischen Selektorgene zunächst bestimmt durch einen maternal angelegten Gradienten des bicoid Genproduktes (vergl. Kap. 33.2.). Dieser bestimmt in der Rumpf- und Abdominalregion die Expressionsgrenzen der zygotischen Gap-Gene, vor deren Hintergrund die Kompartimente gebildet werden (Abb. 34-33).

In der Kopfregion jedoch werden die Gap-Gene (z. B. hunchback) nicht induziert. Statt dessen fungieren zwei Homöobox-Gene, orthodenticle (otd), empty spiracles (ems) gleichzeitig als anteriore Gap-Gene und homöotische Selektorgene für die cephalische Region. Das buttonhead(btd)-Gen, das für ein dem menschlichen Transkriptionsfaktor Sp1 homologes Zinkfinger Protein codiert, nimmt caudal im Anschluß an ems ebenfalls die Rolle eines Gap-Gens ein.

Die Expressionsmuster der drei Gene überlappen am Hinterende der jeweiligen Kopfsegmente (siehe Abb. 34-33) und respektieren die von engrailed definierten Compartmentgrenzen. Mutationen dieser Gene führen jeweils zu einem spezifischen Ausfall von Strukturen, der ihrem frühembryonalen Expressionsmuster entspricht und nicht zu homöotischen Transformationen. Das otd Gen ist danach überwiegend verantwortlich für die Bildung der Protocerebralanlage, die ems und btd Genprodukte sind notwendig für die Bildung von Deutero- und Tritocerebrum.

Bei ocelliless, einem schwachen Allel von otd, bei dem es sich um eine chromosomale Inversion handelt, die wahrscheinlich quantitative Aspekte der Transkription beeinflußt. Homozygote Träger der Mutation entwickeln sich bis zur Imago, aber es fehlt ihnen eine der charakteristischen Strukturen des Protocerebrums, die dorso-mediale Protocerebralbrücke, sowie die Ocellen. Erwartungsgemäß entwickeln Träger von Null-Allelen des otd-Gens nur rudimentäre neurale Strukturen anterior der Neuromere b2 und b3. Umgekehrt fehlen ems Mutanten die Neuromere b2 und b3 mit der Subösophagalkommissur. Die Mutationen in beiden Genen zeigen also morphologisch komplementäre Effekte; es kommt nicht zu homöotischen Transformationen von Gewebebezirken, sondern zu Ausfallerscheinungen, die eher typisch sind für Gap-Gene. In ems und btd Mutanten kommt es öfter unilateral oder bilateral zum Fehlen der Konnektive, welche das Gehirn mit den Ventralganglien verbinden. Ausfall des terminalen Gens tailless (tll) führt zum vollständigen Verlust des Protocerebrums.

Erwartungsgemäß werden die Expressionsdomänen von ems und otd im anterioren Bereich des Embryos vom Gradienten des bicoid Genproduktes gesteuert, was sich durch Erhöhen der Gendosis von bicoid eindrucksvoll demonstrieren läßt. Es gibt molekulare Hinweise dafür, daß bicoid die Expression von ems durch Bindung an upstream enhancer Elemente direkt beeinflußt. Auch diese Tatsache ähnelt der Regulation der Gap-Gene. Andererseits werden ems und otd, wie auch die homöotischen Gene bis in die späte Embryogenese hinein exprimiert, was auf eine enge Kopplung zwischen metamerer Kompartimentierung (engrailed) und segmentaler Spezifizierung im Kopf hinweist. Im Gegensatz dazu kann ektopische Expression von btd zwar den letalen Phänotyp von Mutationen retten, führt aber nicht zu homöotischen Transformationen, die man von einem Selektorgen erwarten würde.

Die Gap Gene der Cephalregion steuern in Drosophila die Expression des Proneuralgens lethal of scute (l’sc), welches wiederum die Signalkaskade der neurogenen Gene aktiviert (Abb. 34-33). Mit der anschließenden Bildung einer neurogenen Region (Neuromere) schließt sich der inhaltliche Kreis unserer Besprechung.

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