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Kapitel 34: Neurogenetik | ![]() |
34.5.3.3 In fosB-knock-out-Mäusen ist das Brutpflegeverhalten gestört Transkriptionsfaktoren der Fos-Klasse gehören zu den Genprodukten, die unmittelbar nach einer visuellen Lernerfahrung in Mäusehirnen vermehrt exprimiert werden. Diese Gene nennt man immediate-early-Gene (IE-G) und spricht ihnen eine Rolle bei der Bildung von adaptiven neuronalen Reaktionen zu. Die Aktivität dieser Gene hält für Stunden nach der Stimulation an und führt zur Expression verzögerter Gene, die man für die eigentlichen zellulären Effektoren der Reizantwort hält. IE-G codieren für Transkriptionsfaktoren und sind anatomisch konzentriert in Regionen des ZNS, denen eine kognitive Funktion zugesprochen wird. Speziell Transkriptionsfaktoren der Fos-Klasse mit Leucin-Zipper-Motiven, die mit Proteinen der Jun-Familie dimerisieren können, haben die Aufmerksamkeit der Neurogenetiker auf sich gezogen. Einige der fünf bekannten Mitglieder der Familie werden nämlich in Hirnregionen der Maus exprimiert, denen eine besondere Rolle im Verhalten zugeschrieben wird. Das spezifische Deletieren des fosB-Gens durch genetisches "knock-out" führt zu einem erstaunlichen verhaltensbiologischen Defekt: Die Mäuse kümmern sich praktisch nicht mehr um ihre neugeborene Nachkommenschaft. Die Weibchen schnüffelten zwar an den Jungen ihres eigenen Wurfs oder an fremden Mäusebabies, die ihnen angeboten wurden, unterließen es jedoch, die Nachkommenschaft zusammenzutragen, in einem Nest zu behüten und zu beschützen; alle Jungen gingen als Konsequenz ein. Um sicher zu gehen, daß nicht allgemeine kognitive Funktionen von der Ausfallmutation betroffen waren, wurden die Mäuse einer ganzen Reihe von Verhaltenstests unterworfen, die ohne signifikante Unterschiede zu Kontrollgruppen verliefen. Es wurde auch die Möglichkeit von anatomischen Defekten untersucht oder die von olfaktorischer Wahrnehmungsempfindlichkeitsänderung. Die Olfaktorik spielt eine große Rolle bei der Erkennung und Pflege des Wurfs. Alle diese Tests verliefen aber ohne Hinweise auf pleiotrope Effekte der fosB-Deletion. Darüber hinaus wird FosB sowohl bei Männchen wie bei Weibchen in den Neuronen der sogenannten präoptischen Region des Hypothalamus vermehrt exprimiert, wenn sie mit oder ohne eigenen Wurf mit Neugeborenen konfrontiert werden. Aus physiologischen Experimenten ist schon länger bekannt, daß es beim Brutpflegeverhalten sowohl eine Erfahrungskomponente als auch eine angeborene Komponente gibt. Erstere ist abhängig von Proteinsynthese und damit wird FosB zu einem Kandidaten, der diese Reizantwort vermitteln könnte. Der Bericht, daß ein einzelnes Gen einen so gravierenden verhaltensspezifischen Phänotyp zeigen sollte, wurde mit großer Skepsis aufgenommen, speziell weil sich in den vergangenen Jahren mehr die Einsicht der polygenen Vererbung komplexer Verhaltensweisen durchgesetzt hat. Andererseits ist das Brutpflegeverhalten so essentiell und so wesentlich für die Arterhaltung, daß eine möglichst kurze Reaktionskette für die Induktion des Verhaltens von evolutionärem Vorteil sein könnte. Zusammenfassung: Sowohl viele der untersuchten angeborenen reflektorischen Verhaltensweisen, als auch komplexeres, erfahrungsabhängiges Verhalten hängen ab von der Aktivität bestimmter Gene. Eines dieser Genprodukte ist FosB, das einen Transkriptionsfaktor darstellt. Mäuse, denen FosB fehlt, weisen einen sehr spezifischen Defekt des Brutpflegeverhaltens auf. Viele komplexe Verhaltensmuster lassen sich in kleinere Abläufe unterteilen, deren Ausprägung oft stereotyp ist, und die sich quantitativ besser beschreiben lassen. Dazu gehört insbesondere Sexualverhalten und sexuelle Orientierung. In Organismen, in denen die Genetik der Geschlechtsbestimmung gut bekannt ist, lassen sich durch ektopische Expression oder andere genetische Methoden Individuen erzeugen, die aus einem Mosaik von weiblichen und männlichen Zellen bestehen. Solche Tiere erlauben es, den anatomischen Sitz geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen genauer zu definieren. Mehrere Gene mit geschlechtsspezifischer Expression wurden identifiziert, darunter das fruitless-Gen aus Drosophila, das über die sexuelle Orientierung von Männchen mitbestimmt. Fruitless ist ein Transkriptionsfakor, dessen Zielgene noch unbekannt sind. Persönlichkeitscharakteristika und pathologische Persönlichkeitsveränderungen des Menschen sind durch viele Gene bestimmt, deren Beitrag zum Phänotyp quantitativ beschrieben werden kann. Der statistisch komplexen quantitativen Analyse von Loci mit nachhaltigen Effekten auf den Phänotyp muß eine molekulare Anlyse von Genen vorausgehen. Einige solcher Loci, zum Beispiel mit Einfluß auf "Neugier" und depressive Gemütsstimmung wurden bereits identifiziert. Der Begeisterungsrausch bei der Erstürmung der letzten unbezwungenen Bastion der Genetik - Verhalten und kognitives Vermögen - sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine signifikante Komponente der Umwelt und der Entwicklung bei der Expressivität und Penetranz von Merkmalen gibt. Auch die Ergebnisse der monozygotischen Zwillingsforschung belegen, daß die Umweltkomponente bei der Entstehung neurotischer und psychiotischer Symptome nicht vernachlässigt werden darf. Weil Umweltfaktoren aber schlechter quantifizierbar und kontrollierbar sind - speziell was die Humangenetik anbelangt - sollte man den Wert der modernen Genetik auch darin sehen, daß sie es besser als bisher gestattet, den Einfluß eben auch der epigenetischen Faktoren zu quantifizieren.
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