Kapitel 34: Neurogenetik

34.5.3.2 Sexualverhalten von Drosophila

Die Ausbildung geschlechtlicher Dimorphismen ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, daß die gleiche genetische Ausstattung zu augenscheinlich sehr unterschiedlichen Phänotypen führen kann. Geschlechtsspezifische Strukturen wie Reproduktionsorgane und sekundäre Geschlechtsmerkmale entstehen aus den gleichen Anlagen, oftmals nur durch unterschiedliche Zellteilungsprogramme. Eine brisante Frage ist die von Verhaltensunterschieden und möglichen Unterschieden in der Gehirnstruktur zwischen den Geschlechtern. Die politisch neutrale Taufliege hat gezeigt, daß es solche Unterschiede gibt. Bei der Suche nach geschlechtsspezifischer Genexpression wurden z.B. Transkripte gefunden, die ausschließlich in den Zellen von Pilzkörpern männlicher Fliegen exprimiert werden. Die Pilzkörper sind prominente Strukturen im Fliegengehirn und Schaltstelle für olfaktorische Informationen, für Lernverhalten (s. 34.5.4) und offenbar auch der Sitz für zahlreiche Aspekte des Sexualverhaltens der Fliege.

Das Paarungsverhalten von Drosophila läßt sich in etwa fünf definierte Subroutinen einteilen, die jeweils einen Austausch von Information zwischen Weibchen und Männchen beinhalten (Abb. 34-63); läuft eine dieser Verhaltensweisen nicht befriedigend ab, findet die restliche Verhaltenssequenz mit abschließenden Kopulation nicht mehr statt. Die Mutantenanalyse erlaubte erste Einblicke in das grundlegende Wirkgefüge dieses Verhaltenskomplexes. Eine Reihe von Mutationen, die zu sehr spezifischen Defekten führen ( z.B. fruitless, cacophony, dissatisfaction) wurden auf klassische Art, d.h. durch Beobachtung, isoliert.

Allele des fruitless-Gens, z.B., verursachen bisexuelles Verhalten in männlichen Fliegen. Das Balzverhalten wird normalerweise dadurch eingeleitet, daß sich ein Männchen zu einem Weibchen orientiert und ihm nachläuft (Abb. 34-63). Da Weibchen Männchen nicht hinterherlaufen, kommt es zur Pärchenbildung. Anders bei fruitless-Mutanten. In Kulturgefäßen mit ausschließlich männlichen Tieren bilden sich kreisförmige Ketten aus mehreren Tieren, in denen jedes Männchen von einem anderen verfolgt wird, während es selbst einem anderen Tier den Hof macht. Diese Männchen kopulieren nicht und sind demzufolge genetisch steril.

Die Geschlechtsbestimmung in Drosophila wird initiiert vom Sex-lethal-Gen, das für einen RNA-Splicing-Faktor codiert, welcher das Verhältnis der Autosomen zu den Heterosomen registriert. In Weibchen erfolgt darauf die Expression von zwei transformer-Genen (tra, tra-2), welche wiederum das doublesex-Gen aktivieren. Letzteres ist für die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale verantwortlich, je nachdem, welche Spleißform gebildet wird. Ektopische Expression des transformer-Gens führt zur Feminisierung entsprechender Gewebebezirke, da dieses Gen nur im weiblichen Pathway eingeschaltet wird (s. 33.8). Demgegenüber kontrolliert doublesex nicht alle Aspekte der Gechlechtsdifferenzierung. Zum Beispiel führt ektopische Expression der männlichen Spleißvariante von doublesex in Weibchen zu Individuen, die zwar äußerlich männlich sind, aber kein Paarungsverhalten zeigen. Dieser Befund führte zu einer Suche nach weiteren Genen, die downstream von transformer existieren und neuronale Aspekte der Geschlechtsdifferenzierung kontrollieren. Einer der Kandidaten für diese Rolle ist das fruitless-Gen.

Das fruitless-Gen codiert für einen Transkriptionsfakor mit einem charakteristischen Zinkfinger-Motiv-Paar am Carboxyterminus und einer für viele Transkriptionsfaktoren typischen Dimerisierungsdomäne. Das Gen weist eine typische doublesex-Wiederholungssequenz in der 5’-Region auf, die das Ziel des Transformerproteins ist. Mehrere Spleißvarianten und verschiedene Promotoren des Gens existieren, wobei einige dieser Varianten geschlechts- und gewebespezifisch in nur etwa 500 von den etwa 100.000 Neuronen des ZNS exprimiert werden. Kleine Gruppen solcher Nervenzellen finden sich in Regionen, deren zentrale Rolle bei Balzverhalten und Kopulation nachgewiesen ist, einschließlich einiger Interneurone, denen eine Relaisfunktion zwischen chemosensorischen Neuronen des Antennallobus und höheren Zentren wie der Calyx des Pilzkörpers zugesprochen wird. Obwohl zahlreiche Allele des fruitless-Gens keinerlei sichtbare Defekte in homozygoten Weibchen zeigen, ist die vollständige Deletion des fruitless-Gens in beiden Geschlechtern letal, woraus sich eine Rolle des Gens über das geschlechtsspezifische Verhalten hinaus ableitet.

Es ist bisher unbekannt, wo genau das Produkt des fruitless-Gens molekular eingreift, um das Verhalten zu ändern. Bis Anfang der 90er Jahre war die einzige Möglicheit des Studiums solcher Gene die Mosaikanalyse in Gynandern, die in den Labors von Jeff Hall und Ralph Greenspan durchgeführt wurde. Gynander sind Individuen, die wegen des Verlusts eines Ring-X-Chromosoms bei der ersten Kernteilung der Zygote in der Hälfte der Körperzellen (X0) männliche und in der anderen Hälfte (XX) weibliche Merkmale ausprägen. Da die Kernteilungsspindel der Zygote rein zufällig orientiert ist, verläuft in individuellen Gynandern die Grenze zwischen männlichem und weiblichem Gewebe verschieden. Das kann einerseits analytisch genutzt werden, um Korrelationen zwischen Verhalten und dem genotypischen Zustand eines Gehirnbereichs aufzustellen, andererseits stellt es jedoch auch eine experimentelle Hürde dar, da keine Fliege der anderen gleicht und die genauen Abmessungen der betroffenen Gewebebezirke deshalb nur schwer festzustellen sind.

Durch die bereits besprochene Methode der ektopischen Expression unter dem pUAST-System (s. 34.1.1) ist es inzwischen möglich, reproduzierbare Gynander zu erzeugen, indem das Produkt des transformer-Gens in genau definierten Bezirken des Nervensystems exprimiert wird. transformer führt zur Feminisierung ansonsten männlicher Gewebe, also zu einer ähnlichen Situation, wie sie bei der Gynanderbildung stattfindet, mit dem entscheidenden Unterschied, daß die Expression des Gens sehr definiert und reproduzierbar durch die Wahl der GAL4-Linien stattfindet. Die Ergebnisse dieser Experimente waren erstaunlich: Einige der transformierten Fliegen verloren die Fähigkeit, zwischen weiblichen und männlichen Fliegen zu unterscheiden, speziell, wenn die Antennalloben oder die Pilzkörper das transformer-Gen exprimierten.

Die Studien belegen, daß es geschlechtsspezifische neuronale Unterschiede im Gehirn gibt, und daß dabei die transkriptionelle Kontrolle der Genaktivität ein große Rolle spielt. Speziell dieser Aspekt wird durch neue Befunde an der Maus erhärtet.

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