"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"
12. Brief
Jena, 24. Juli 1867.
Wenn nicht zufällig das beifolgende Diplom der
Londoner zoologischen Gesellschaft heute hier eingetroffen wäre, welches
den Dir ja wohlbekannten Dr. Ernst Haeckel zu ihrem auswärtigen
Mitglied ernennt, so würde ich Dir wahrscheinlich (?) heute noch nicht
geschrieben haben, Du böser, arger, schlimmer Schatz! So lange hast Du
Deinen armen, sehnsüchtigen Liebsten vergeblich auf einen Brief warten
lassen. Sonntag schickte ich Dir zwei (vermutlich Dir gar nicht liebe?)
Briefe und bekam dafür - keinen! Montag hoffte ich bestimmt und bekam
dafür - keinen! Dienstag abend endlich - gestern - im mikroskopischen
Kurse, als ich schwankte, ob ich der ungetreuen Braut telegraphieren
oder ihr kurzweg Adieu schreiben und nach der Südsee (mit der gleich
zu erwähnenden Expedition) gehen sollte, da endlich! endlich brachte
mir der getreue Neffe Karl den Brief, der wenigstens einigermaßen
meinen hellen Zorn besänftigt, meine innere Angst beruhigt und mich
sehr, sehr erfreut hat. Zur Entschuldigung der kleinen Agnes
läßt sich allerdings anführen, daß die Briefe von Sulza nach Jena (und
vielleicht auch ungekehrt?) mehr Zeit zu brauchen scheinen als von
Berlin nach Jena. Meinen vorletzten Brief hatte ich Sonnabend abend,
meinen letzten (die "gebundenen" Zeilen des "ungebundenen" Ernst an
Agnes) Sonntag morgen auf die Post gegeben. Dein letzter Brief scheint
gar 30 Stunden gegangen zu sein! Das ist doch zu toll! Oder ist das auch
eine der vielen "Segnungen des norddeutschen Sonderbundes"? - Nun bin
ich froh, liebster Schatz, Daß es Dir gut geht; ich fürchtete allen Ernstes,
Du seiest krank geworden, und ängstigte mich sehr! Inzwischzen
verlebe ich hier sehr, sehr langweilige Tage, bin unruhig und ungeduldig
und weiß doch gar nicht, warum; ich glaube, am Ende fehlt mir die
abendliche, vortreffliche "anderweitige gute Verköstigung" im Hause der
Geh. Hofrätin Huschke! Nicht? Zu Hause wenigstens will es mir gar nicht
mehr schmecken, trotzdem ich täglich großes Diner habe, selbst häufigen
Damenbesuch! (Denk´ Dir, Du arme, treulos Verlassene!) Also:
Sonnabend Frl. Clara, Sonntag 3 Herren: stud. Schipman, Dr.
Bessels, Dr. Brand (ich schlief beinahe ein und gähnte mörderlich),
Montag Frl. Clara, Dienstag 2 Herren (Naumann, stud. med., und Gräser,
ein Siebenbürge, stud. theol., übrigens eifriger Zoologe), Mittwoch Herr
Hofrat Gegenbaur. - Mutter behauptet, ich wäre sehr unliebenswürdig,
und schiebt die Schuld - Du arme, Unschuldige (?) - auf Dich! Ich bin
sehr froh, daß übermorgen über 14 Tage das Semester zu Ende geht, ich
werde täglich zerstreuter, gedankenloser und fauler, daß ich mich
wirklich vor mir selbst schäme! Doppelt beschämend erscheint mir daher
heute das Diplom der Londoner zoologischen Gesellschaft, welches
eigentlich meinen Ehrgeiz in nicht geringem Grade kitzelt. Du mußt
nämlich wissen, liebster Schatz, daß nur wenige Ausländer jener Ehre
teilhaftig werden, und daß es etwas Andres zu bedeuten hat als das
neulich aus Wien erhaltene Ehrendiplom. Mutter ist natürlich ganz
glücklich über diese neue Verherrlichung ihres ungeratenen
Goldsöhnchens und läßt Dir sagen, Du möchtest nur nicht zu stolz
auf Deinen Bräutigam werden: Das Beste an ihm sei doch das Herz!!
(N. B. Ich bezweifle das sehr! Ich fände seine Augen und
Lippen viel hübscher!) Wie steht es denn mit Ihrer Herren-
Unterhaltung, mein Fräulein? Hoffentlich werden Sie uner den vielen
Anbetern, die Ihnen im Bade Sulza zu Füßen liegen, schon viele bessere,
nettere und hübschere gefunden haben als den garstigen, wilden und
unbändigen Professor, der neulich so unverschämt war, sich Ihr
Herzchen auszubitten! Man sagt inzwischen in Jena, benannter Professor
wolle jetzt aus Verzweiflung seine hiesige Stellung aufgeben und an einer
kürzlich angekündigten englischen Südsee-Expedition teilnehmen. Das
wäre ja für die kleine Agnes vortrefflich! Sie hätte ihre volle Freiheit
wieder und brauchte sich nichts mehr von jenem unbändigen und gar zu
"eingebildeten" 33jährigen Senator gefallen zu lassen. Andere Leute
behaupten gar, die kleine Agnes habe ihr Herz heimlich an einen
canarischen Medusenfischer verschenkt, und da ich zufällig in der Lage
bin, Dir ein Bild jenes Seeräubers (in Begleitung seines Adjutanten,
eines jungen Russen, Miclucho) senden zu können, will ich dies nicht
verfehlen. Die Hauptsache ist, liebste Agnes, daß Du notwendig nächsten
Sonntag an die Eisenbahn (um 11 1/4 Uhr) kommen mußt, um Dir den
unendlich sehnsüchtigen Schreiber dieser Zeilen
abzuholen . . . Da das Diplom lateinisch gedruckt ist,
schicke ich Dir die Übersetzung mit. Clara, die gerade hier ist (abends 7
Uhr), grüßt schönstens, ich aber noch
schöner! . . .
Ich komme nun zum zweiten, sehr
ernsten (?) Teil meines Briefes, der auf weißes, nicht auf
rosa Papier geschrieben werden muß. Denke Dir, Agnes, daß ich
jetzt, gerade jetzt, in die Lage versetzt bin, meinen
idealsten Jugendwunsch zu realisieren, an dessen Erfüllung ich in
früheren Jahren alles gesetzt haben würde. Vorgestern (als ich
gerade recht sehnsüchtig und recht böse auf meine schreibfaule Braut
war!) lese ich in der Zeitung, daß in England eine Erforschungs-
Expedition nach der Südsee ins Werk gesetzt wird, an welcher auch
Naturforscher teilnehmen sollen. Nun habe ich schon vor drei Jahren
brieflich (durch Darwin und Huxley) mich zu einer solchen Stelle
gemeldet und noch dazu im vorigen Jahre mich persönlich in London
darum beworben. Die Aussichten sind jetzt für mich sehr günstig, da ich
als Naturforscher in England weit mehr gelte als in Deutschland.
Möglicherweise hängt damit sogar die Sendung des inliegenden Diploms
zusammen. Wenn ich nun an jener Expedition nach den herrlichen,
höchst interessanten Südsee-Inseln mit ihrer prachtvollen Natur
teilnähme, so würde ich jetzt auf 2-3 Jahre fort müssen und Europa Ade
sagen! Nun lege ich aber die ganze Entscheidung in Deine
Hand, liebstes, bestes Mädchen. Wenn du mich jetzt heiraten
willst, so entgeht mir natürlich jene Entdeckungsreise - der
sehnsüchtige Traum meiner ehrgeizigen und wanderlustigen Jugend! Ich
bleibe dann hier ein obskurer Professor, mit dem Du ganz so vorlieb
nehmen mußt, wie er ist! Wenn Du dagegen erst in 2-3 Jahren heiraten
und inzwischen (wie die guten Leute zu sagen pflegen) Deine
ungebundene Jugend in Freiheit "genießen" willst, so gehe ich mit der
englischen Expedition nach Australien, sehe ein prachtvolles Stücke
Erde, sammle reiche Schätze der Anschauung und des Wissens - und
kehre als hochberühmter Weltumsegler heim, - und wenn Du mich dann
noch haben willst, sollte Du mich 2-3 Jahre später haben. Du hast die
Wahl, liebe Agnes, - nun wähle! Du kannst mich ja auch bei dieser
Gelegenheit auf gute Manier ganz loswerden! - Jedenfalls aber
schreibe mir gleich morgen (Donnerstag), wie Du darüber denkst,
liebstes Herz. Inzwischen . . . Ob mir wohl jetzt Agnes
oder Australien mehr gilt?
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