"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"
167. Brief
Potsdam, 15. April 1886.
Mein geliebtes Dornröschen! Nachdem du nunmehr 5
Tage die süße Ruhe genossen hast, die nach der Abreise Deines unruhigen
Ehe-Gesponstes in Villa Medusa einzutreten pflegt, darf ich dieselbe
wohl durch einige Mitteilungen zu stören mir erlauben. Ich traf Samstag
(10.) nach 9stündiger Fahrt über Magdeburg wohlbehalten hier
ein . . . Die Natur sieht hier noch mehr winterlich aus
als bei uns, nicht einmal die Anemonen blühen. Recht kalt und häßlich
waren die beiden letzten Tage (3-5 Gr.). Dienstag fuhr ich mit Karl nach
Berlin und besuchte zunächst Reimers.
Die Flügel-Frage wurde sehr ausführlich
besprochen. Alle rieten zu einem schwarzen Salon-Flügel von
Duysen zu 1500 Mk. Er ist nicht breiter, aber länger und viel besser als
ein Stutz-Flügel. Der ganze Familien-Rat meinte aber einstimmig,
Du müßtest selbst aussuchen, da die einzelnen Flügel im Klang zu
verschieden seien. Auch wollte Dein
Schwesterlein . . . keine Verantwortung üfr die
Wahl übernehmen, ebensowenig natürlich Dein unmusikalischer
Gatte!
Dienstag abend war ich mit Karl und Tante Bertha im
Zirkus Renz, sehr schöne Pferde, Nixen und Amazonen, die ersteren viel
vernünftiger als die letzteren! - Mittwoch morgen eine Stunde bei Carus
Sterne, dann Fürbringers im Hospital im Friedrichshain begrüßt, sie
nahmen diesen Besuch (den ersten aus Jena) sehr hoch auf. Dann zwei
Stunden in der National-Galerie geschwelgt (Prometheus!). Abends im
Camerum-Panorama und mit Tante Bertha im hübschen Walhalla-Theater,
wo wir das komische Potpourri-Stück "Das lachende Berlin" sahen (das
alte Berlin von 1800-1830 und darauf als Gegensatz das neue!)
Heute morgen 6 Stunden in Kunst geschwelgt, erst
Aquarell-Ausstellung bei Gurlitt (international, großartig!), dann
die heute eröffnete Ausstellung des berühmten russischen Malers
Wereschtschagin: prachtvolle Bilder aus Indien und dem Orient,
höchst originell, kühn und flott, grausige Bilder aus dem russisch-
türkischen Krieg, ferner das berühmte naturalistische Bild "Die heilige
Familie". Darauf im Panoptikum 1 Dutzend lebendige Exemplare von 2
höchst interessanten Menschenrassen, Bella-Coola-Indianern aus
Nordamerika, und kleinen Zwergmenschen aus der Kalahari-Wüste in
Südafrika, büschelartig.
Berlin ist doch höchst anregend und großartig, und
ich freue mich schon jetzt, im Sommer hier mit Euch Lieben die
großartige Jubiläums-Ausstellung zu sehen! Der alte Haeckel
war am Ende doch ein großer Esel, daß er in dem kleinen Jena-Neste an
der Saale sitzen blieb!
Sonntag muß ich - auf allseitiges Verlangen - noch
hierbleiben. Montag nachmittag 5 1/4 hoffe ich von meinen lieben
Kinderchen im Paradiese empfangen zu
werden . . .
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