"Ernst und Agnes Haeckel - Ein Briefwechsel"
223. Brief
München, 8. Oktober 1901.
Liebste Agnes! Heute am Hochzeitstage unseres
einzigen Sohnes gedenke ich Deiner hier mit besonders inniger
Liebe und bedaure von Herzen, daß Dein gewohntes Mißgeschick
Dich ans Zimmer fesselt und verhindert, an unserem Feste teilzunehmen.
Übrigens ist es bei dem schauderhaften Wetter gut, daß Du
nicht mitgefahren bist. Du würdest Dich sicher hier erkältet haben.
Unter strömendem Regen fuhr ich vorgestern nach München, dabei
solcher Sturm, daß in den Coupés trotz geschlossener Fenster
kalter Zug herrschte und man sich dick in Plaids hüllte. Der D-Zug fährt
zwar fabelhaft rasch (von J. nach M. in 7 1/2 Stunden, von Nürnberg an
ohne Aufenthalt), schüttelte aber stark, daß man kaum lesen konnte. Ein
junges Ehepaar wurde seekrank! Ich fuhr mit Hans und Lisbeth allein in
einem Coupé I. Klasse. H. hatte für mich noblerweise Zuschlag-
Billett genommen! Wir aßen Abendbrot im
Restaurationswagen . . . Am Bahnhof in München
erwarteten uns Walter und Josefa, außerdem meine neuen
Gastfreunde, kenntlich an einem großen Blumenstrauß, Hans und Lisi
fuhren in den "Bayrischen Hof" am Promenaden-Platz, ich fuhr mit Prof.
Svoboda und seiner Frau in ihre Wohnung. Hier habe ich ein sehr
behagliches Zimmer und werde sehr aufmerksam besorgt. Prof. Sv. ist 74
Jahre alt, aber noch sehr frisch. Er war erst Gymnasiallehrer in Prag,
dann 20 Jahre lang in Graz Redakteur der "Tagespost", dann in Stuttgart
Professor der Musik am Konservatorium. Seine Frau, geb. Freifrau von
Thüngen aus Würzburg, ist mindestens 30-35 Jahre jünger.
Gestern besorgte ich früh noch Korrekturen der
"Insulinde" und ging von 10-12 mit Hans und Lisi in die Kunst-
Ausstellung im Glaspalast: Viel Schlechtes, aber auch einige hübsche
Bilder, sehr wenig Hervorragendes. Um 12 Uhr war im "Parkhotel"
Frühstück für das junge Paar . . . Ich toastete kurz auf
das junge Paar und dann auf die beiden Mütter. Um 2 Uhr fuhr ich mit
Hand uns Lisi in offener Droschke - es war kein geschlossener
Wagen zu haben - in 1/2 Stunde bei Schneegestöber, Regen und Sturm zu
Mutter Scholz (wir hockten alle 3 unter der Pferdedecke des Kutschers).
Dort war . . . eine Art formloser Polterabend. Zwei
Freundinnen von Josefa (aus Hamburg) führten ein paar niedliche
Scherze und japanische Geisha-Tänze auf. Dr. S. (Bruder von Josefa) sang
verschiedene Couplets und tanzte dabei sehr komisch solo; er scheint
dafür viel Talent zu haben. Haacke sang mehrere Balladen von Loewe und
Schumann. Auch unser guter Walter (der sehr glücklich war) sang
ein Liebesliedchen. Um 7 Uhr war die Herrlichkeit vorbei. Das junge
Ehepaar blieb bei Mutter Scholz. Wir 3 fuhren mit 9 anderen Gästen in
Kills Kolosseum (Varieté), wo wir gute akrobatische
Vorstellungen und Bioskope sahen. Um 11 Uhr fuhr ich totmüde nach
meiner Behausung . . . Das junge Paar ist sehr
glücklich und dankt für Deinen lieben
Brief . . .
Brief 222..........................................................................................Brief 224

zurück zum Inhaltsverzeichnis