Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
6. Brief
Würzburg, 19. 11. 1852.
Meine liebe Mama!
Einen besonderen, innigen Gruß an Dich muß ich doch den Zeilen an unser
liebes Geburtstagskind, den teuren Papa, noch beifügen. Ihr werdet Euch wohl
recht einsam fühlen; denkt aber, daß es Euren Kindern, wenigstens dem
jüngern, nicht besser geht; denkt auch zugleich daran, daß er immer im Geist
bei Euch ist, und wenn er kleinmütig und verzagt wird, der Gedanke an seine
Eltern ihm frischen Mut gibt.
Ich habe jetzt ziemlich viel zu tun, da ich wieder seziert habe; Kölliker
hilft auch hierbei dem einzelnen sehr und sucht es ihm möglichst angenehm zu
machen; dabei unterhält er sich auch sehr freundlich mit den Studenten. Die
zweite Frage, die er an mich tat, nachdem ich ihm die erste beantwortet
hatte, war: "Sie sind wohl aus Sachsen?" - !! -
Diese Woche hat auch das Privatissimum bei Professor Schenk: "Mikroskopische
Demonstrationen pflanzlicher Gewebe", begonnen. Ich habe mich
außerordentlich gefreut, daß ich es damit so gut getroffen habe. Außer mir
nehmen nur noch zwei daran teil, und ich habe alle Aussicht, einmal
ordentlich mit einem eigentlichen Botaniker bekannt zu werden, was so lange
mein sehnlicher Wunsch war. Diese Stunden sind Dienstags und Donnerstags von
6-8 Uhr abends. Wir bekommen dabei jeder ein schönes Mikroskop, unter das er
uns selbstgefertigte schöne Präparate legt. Diese zeichnen wir dann ab, er
erklärt sie uns, und wir können ihn dabei, soviel wir wollen, fragen, bis
uns alles deutlich ist. Welche Freude mir das macht, und wie wichtig das für
mich werden kann, könnt Ihr Euch denken. "Schenk ist sehr liebenswürdig, und
man kann ihm viel ablernen; er ist ein ganz ausgezeichneter
Pflanzenforscher; nur nicht sehr bekannt, weil er zu faul ist, etwas
Ordentliches, ein größeres Werk zusammenzuschreiben, was er recht wohl
könnte; auch gibt er sich nicht gleich so wie er ist, man muß erst tiefer in
ihn eindringen; schlimm ist es, daß er so wenig Bestimmtes in seiner Methode
und seinem Charakter hat, und in mancher Hinsicht noch wie ein Kind ist." -
Diese im letzten Satz enthaltene Charakterschilderung, die mir mein Nachbar,
der nette Herr Dr. Gsell-Fels, gab, der ihn sehr gut kennt, habe ich
vollkommen bestätigt gefunden, und sie erinnerte mich gleich lebhaft an
einen gewissen E. H. - Nun, wenn dieser es nur eimal so weit wie Schenk
bringt! - . . .
Schreibt bald mal wieder Eurem alten
E. H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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