Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
11. Brief
Würzburg, 21. 12. 1852.
Liebste Eltern!
Eure Sorgen in betreff der Wohnung sind dadurch überflüssig geworden, daß
ich schon vorige Woche eine neue gemietet hatte. Sie befindet sich im I.
Distr. Nr. 358, nicht sehr weit von der jetzigen und besteht aus einer zwar
kleinen, aber sehr gemütlichen Stube mit einer Kammer daneben, die fast 3/4
so groß ist. Sie hat zwei Fenster und ein nettes Ameublement; die Miete
beträgt nur 5 fl., da sie mir das Mitbringen es eigenen Bettes für 1 fl.
angerechnet haben. Die Aussicht ist freilich nicht sehr schön, auf ein enges
und finstres Gäßchen, so daß ich fast (wie in der alten Reichsstadt
Frankfurt) meinem Nachbar gegenüber die Hand reichen kann. Aber nach freier
und reiner Luft sucht man in ganz Würzburg vergebens, außer im Hofe des
Hospitals, im Botanischen Garten und im Mainviertel drüben, wo die armen
Schiffersleute wohnen . . .
Was meine "Lebensfrage" betrifft, so denke ich, wir wollen uns das weitere
Hin- und Herschreiben darüber ersparen und es auf die mündliche Besprechung
zu Ostern verschieben. Die Hälfte der sauren Trennungszeit ist ja nun schon
vorbei. Was übrigens den Gedanken des Schulmeisterns betrifft, so finde ich
denselben gar so übel nicht wie Du, lieber Vater! Einmal sind wir ja doch
nicht auf dieser Erde, um ein anmutiges und angenehmes Leben zu führen. Wenn
man nur sein tägliches Brot hat, kann man sich genügen lassen. Das
Wiederkäuen ein- und desselben Gegenstandes vor den immer neu auftretenden
Schülern ist allerdings auf die Dauer eine traurige Sache; aber bedenke nur,
daß die akademischen Lehrer fast in demselben Falle sind. Und dann, wie
ungewiß und zweifelhaft ist eine akademische Karriere, wenn einer nicht
entweder ausgezeichnete Talente oder bedeutende Mittel hat! Sodann hat mir
aber la Valette eine ganze Reihe von Beispielen angeführt von solchen
Lehrern, welche fast nur in ein paar naturwissenschaftlichen Fächern, z. B.
Botanik und Zoologie, oder Chemie und Physik, gut beschlagen waren, und
alsbald in rheinischen Realschulen, wo solche sehr geschätzt werden, eine
sehr angenehme und dabei nichts weniger als dürftige Stellung fanden. An
eine praktische chemische Laufbahn ist bei meiner ganzen antipraktischen
Veranlagung dazu nicht zu denken. O jerum praxis!! Den noch übrigen Teil
dieses Semesters werde ich übrigens noch ganz der Anatomie widmen, da neben
dieser doch keine Zeit zu was anderem übrigbleibt, und dann wollen wir zu
Ostern sehen! . . .
(NB. Gewisse naturhistorische Merkwürdigkeiten sind noch das Beste an mir;
wie z. B. daß ich mit dem linken Auge in das Mikroskop sehen kann, während
ich mit dem rechten das Gesehene abzeichne, worüber neulich (in der
mikroskopischen Anatomie) der Dozent, Herr Leydig, mitten im Kolleg in das
höchste Erstaunen geriet, weil er das noch nie gesehen; auch sehen die
allermeisten nur mit dem rechten Auge in das Mikroskop. Übrigens fühle ich
doch auch, wie es namentlich abends, die Augen angreift.) . . .
Die Anwesenheit des Kaisers von Österreich wird Dir grade auch nicht sehr
angenehm sein, mein liebes Alterchen; Du möchtest ihn lieber, wie auch die
gesamten Junker, auffressen; es ist aber unverdauliches Zeug, wie geronnenes
Eiweiß; nimm Dich in acht! . . .
Nochmals tausend Grüße und Küsse von Eurem
treuen alten Jungen
E. H.
 Inhaltsverzeichnis
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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